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Julia Wörle
Gesang – tonlos


Und du musst nur die Augen schließen, um die Tonband­stimme der Chronistin zu hören. Was wäre ohne sie, die dir deine Atemzüge bis auf die letzte Stelle hinter dem Komma berechnet. Was wäre ohne sie, die deine Irrläufe durch die Stadt auf einer Karte einträgt, im Maßstab deines Herzschlags.
In deinem Kinderzimmer, das mit Seetang gepolstert war, gab es nur sehr wenig Licht. Noch immer erschrickst du deshalb vor dem Zischen der Straßenlaternen und wünschst dich weit zurück in die Tiefseedämmerung.

Aber die Chronistin legte fest, du solltest eine von den ersten weiblichen Barden der Neuzeit sein. Geh raus, verirr dich, befahl sie dir. Verlier dich an die Stadt. Dass deine Stimmbänder so tief unter der Erde verlaufen, ist allein deine Sache. Du wirst noch lange tonlos singen müssen, sagte sie. Du wirst noch lange tonlos in dickwandige Kaffeetassen singen müssen, und niemand wird es hören. Während draußen die Autofahrer wie verschreckte Hasen in ihren Autos sitzen. Du wirst lautlos in das cordsamtige Schweigen deines Vaters singen, wirst ihm von Ebbe und Flut erzählen und er wird glücklich sein, ohne zu wissen, woher und warum.

Tief unter der Erde laufen deine Stimmbänder und teilen dich in zwei Kontinente: Alte und Neue Welt.
Du hast dir die Münzen der fremden Währung fest in deine Sprache eingenäht, um besser verreisen zu können. Pass auf, sagt die Chronistin, nicht alles, was glänzt ist Gold. Du schreibst dich tief hinunter in die Täler ihres Pulsschlags. All die langhalsigen Kräne, die in einem wunderbaren Bogen ausschwenken, besingst du. Erst nahmst du dir einen Bleistift dafür. Doch alle deine Striche liefen am Papier vorbei. Es gab auch ein Institut, das Lupen umsonst verlieh. Damit branntest du Zeichen ins Pergamentpapier des Himmels.

Warst du doch nur ein einzelner Buchstabe ohne jeden Sockel. Tief unter der Erde die knotigen Stränge deiner Stimme. Mit Millimeterpapier spürtest du ihnen nach. Die Hände öffnen, sagte die Chronistin. Damit baust du dem Glück eine Räuberleiter. Im Wolkenschattenwerfen warst du immer gut. Durchdringende Freude wie beim Drachensteigen. Sehr gern wolltest du wissen, wie es ist, blind zu sein. Ob du dann in den Buckeln und Furchen des alten Erdgesichtes besser lesen könntest.
Hügelketten, verstreutes Stroh, ein paar rostige Streifen Blech im Gras. Deine Polsterung fast durchgesessen vor Ungeduld. Die ersten Risse im Teer deiner Morgenstraße sind die Landkarte für den neuen Tag. Jemand leuchtet von innen. Du freust dich darüber. Du und dein Äquatorfieber an späten Mittwoch-Nachmittagen.

So begannen deine Streifzüge durch die Stadt.
Unter der Erde liegen Goldadern verborgen. Endlich spürst du es leuchten, öffnest den Mund, singst leise. Und gehst durch die Stadt, ruhelos, getrieben wie ein Stück Papier im Wind. Eine detail­bessene Fährten­sucherin. Stiehlst dich sekundenlang ins Leben fremder Menschen. Pflückst dir Augenblicke und lässt sie fallen in den ledernen Beutel deiner Erinnerung, in dieses Dunkel, das du erst im Halb­schlaf ausleeren wirst. Du bist eine Expertin des Lichts. Am liebsten ist dir der späte Nachmittag, wenn der Tag in eine ange­nehme Schräg­lage gerät und sich dann langsam in die Umarmung der Nacht rutschen lässt. Inzwischen kennst du den täglichen Weg, den das Licht durch die Stadt zurück­legt.

Die Energie, die viele Menschen am selben Ort erzeugen können. Und du hörst auf ihr Summen, dazwischen dein Gesang – lautlos. Du mittendrin. Mit deinem weit aus­holendem Gang, den Kamel­schritten, wiegend, zäh, wüstenerprobt, wanderst du entlang der verschiedenen Jahres­ringe dieser Stadt. Zwischen den verschiedenen Vierteln gibt es scharfe Schnitte, die du genau betrach­test. Grenzen, wie Narben, manche ganz frisch, andere wieder schon lang ein­gewachsen in die Haut der Stadt.

Die Häuser unter halb­geschlos­senen Lidern ihrer Fensterläden ins Tageslicht blinzelnd.
Einen Wimpernschlag später und du bist wieder ein Stück weiter getragen, suchst nach etwas in den Gesichtern, das für dich hinterlegt worden ist. Manche Leute ohne Gesicht, statt dessen eine abwasch­bare Plastikfläche und ein Lächeln im Schon­wasch­gang. Dahinter etwas, das du nicht sehen kannst.

Dort ein Muschelgesicht, hartschalig, verschorft, plötzlich bricht es zu einem Lächeln auf. Ganz kurz darfst du einen Blick durch den Spalt ins Innere werfen. Und immer wieder besuchst du die Hinterhöfe. Betrach­test die Spuren der Leute, mit denen sie sich in ihrer Achtlosigkeit verraten. Umge­kippte Fahrräder, eine Gruppe voll­gestopfter Plastik­tüten, dickbäuchig aneinander gelehnt. Ein weißes Hemd, das sich von der Leine los­geris­sen hat und am Boden liegt, ein erschöpfter Flücht­ling vor dem Wind.

Traumpfade durch die Stadt gelegt, denn eine Stadt ohne Traumpfade ist eine tote Stadt. Die Tauben, das Pack, das an Brunnen und Plätzen herum­schlampt. Lieber siehst du den Krähen zu bei ihren umständ­lichen Ritua­len. Das Unglück der Krähen, zerlumpt und staksig, ist art­ver­wandt mit deiner täglichen Ver­wirrung. Archäo­logie, Schicht um Schicht abtragen, bis die Stadt etwas von ihrer Ver­gangen­heit preisgibt. Alles, was du willst: Markie­rungen setzen und zusehen, wie das Leben darüber hinweg­geht.

Die Chronistin sendet dir Feuer­läufe per Post. Dein Gesang, der verloren geht im unerbitt­lichen Gefälle der Stadt. Jenseits deines Blicks gibt es nichts.
Julia Wörle   08.06.2012   

 

 
Julia Wörle
Prosa