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Dorothee Elmiger

Gespräch mit Kathrin Bach für den poetenladen
»Aber ich bin natürlich froh, dass der Text noch da ist«
  Gespräch
Dorothee Elmiger in poet nr. 17
Thema der Gespräche in poet nr. 17 ist Literatur und Vergänglichkeit
Dorothee Elmiger, 1985 in Wetzikon (Schweiz) geboren, wuchs in Appen­zell auf. Sie studierte am Schweize­rischen Literatur­institut in Biel und ver­brachte ein Semester am Deutschen Lite­ratur­institut Leipzig. Ihr Roman­debüt Einladung an die Waghalsigen (DuMont 2010) wurde mit dem aspekte-(Lite­ratur­preis für das beste deutsch­sprachige Prosadebüt und mit dem Rauriser Literatur­preis ausgezeichnet. Beim Bachmann-Wett­bewerb erhielt sie für ihre Lesung aus dem Manuskript den Kelag-Preis. Im Frühjahr 2014 erschien ihr zweiter Roman Schlafgänger (DuMont, Köln).


Kathrin Bach: Wie gehen – deinem Gefühl nach – »junge« Schriftsteller heute damit um, dass doch schon so unglaublich viel geschrieben und publiziert wurde? Und wie gehst du damit um?

Dorothee Elmiger: Der Umstand, dass so viel bereits geschrieben wurde, bereitet mir eigentlich keinen Kummer, im Gegenteil: Texte als Ausgangs- und Bezugspunkte sind sehr wichtig für mein Schreiben. Mich interessiert die Möglichkeit, nicht nur im eigenen Text ein Netz von Assoziationen und Verweisen, also einen Raum, zu bauen, sondern auch zwischen den Texten. Deshalb arbeite ich oft mit Zitaten und montiere Material. Natürlich kenne ich aber auch den Zweifel, die Befürchtung, dem bereits Geschriebenen nichts Interessantes mehr hinzufügen zu können.
  Wie andere damit umgehen: da bin ich nicht sicher. Für die einen ist vielleicht die Arbeit mit der Form, das Aufbrechen oder Abändern der Form, wichtig. Viele, so mein Eindruck, vor allem AutorInnen, die auf irgendeine Weise autobiographisch arbeiten, sind aber auch einfach der Überzeugung, dass die »Originalität« durch das Individuelle, Selbsterlebte gegeben ist.

K. Bach: Und in die andere Richtung: Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie es wäre, würde man deine Bücher auch noch in einigen Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten lesen? Wünschst du dir das? Spielt so ein Gedanke beim Schreiben mit?

D. Elmiger: Als mein erstes Buch erschien, wurde mir diese Frage bei einer Lesung zum ersten Mal gestellt. Seither habe ich darüber nachgedacht, zuvor hatte sie sich für mich aber nie gestellt. Der Gedanke ähnelt in meinen Augen der Idee, Kinder zu zeugen, damit man selbst nach dem Tod irgendwie weiterlebt, zumindest nicht ganz aus der Welt verschwindet. Selbst kann ich das überhaupt nicht nachvollziehen. Toll ist es natürlich, wenn die Bücher ein paar Jahre in den Regalen der Leute bleiben – im schönsten Fall behält jemand ein Buch ein Leben lang und spricht manchmal darüber oder liest darin.

K. Bach: Oh, ja, so sehe ich das auch. Trotzdem nun dieses Gedankenspiel: Stell dir vor, es würde ein Museum über Literatur gebaut werden. Ein Riesenprojekt. Und ein Raum gehört dir. Der Raum kann riesig, kann alles sein. Wie sähe er aus?

D. Elmiger: Schwierige Frage. Ich würde wahrscheinlich versuchen, ein ganz raffiniertes Ordnungssystem zu realisieren, das ausgewählte Bücher auf eine unerwartete Weise aneinanderreiht und einander zuordnet. Ein Buch würde die Besucherin zum nächsten Buch führen – ohne dass immer auf den ersten Blick ersichtlich wäre, was der Grund dafür, die Verbindung dazwischen ist: So würde man Texte im besten Fall dann immer auch auf ihre Verbindung zu anderen Texten hin lesen und weniger als in sich geschlossene Einheiten. Aber das dürfte keine Dauerausstellung sein.

K. Bach: Stichwort Dauer. Wie lange bleibt, was du liest – aber auch, was du schreibst – in deiner Gegenwart? Trägst du viel Gelesenes, viele Ideen mit dir herum und setzt dich dann hin, um zu schreiben?

D. Elmiger: Ich habe kein gutes Gedächtnis und vergesse viel. Ich brauche die Bücher als Gedächtnisstütze, was mir in Erinnerung bleibt ist der Ton, der Tonfall, das Tempo eines Textes, oft erinnere ich auch an mich selbst als Lesende: Wo und unter welchen Umständen habe ich diesen Text gelesen. Aus diesen Erinnerungen an Texte speist sich in einem gewissen Maß auch mein eigenes Schreiben, ich notiere nicht sehr viel – erst dann, wenn ich ganz konkret recherchiere.

K. Bach: Ok, dann interessiert mich natürlich nun, welche Bücher sind dir die liebsten Gedächtnisstützen bzw. was steht schon ewig und wird noch ewig in deiner Bibliothek stehen bleiben?

D. Elmiger: Zum Beispiel, unter anderen: Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands; Felicitas Hoppe: Pigafetta; Robert Walser: Der Räuber;?Peter Weber: Der Wettermacher; Marie-Thérèse Kerschbaumer: Der weibliche Name des Widerstands; Peter O. Chotjewitz: Mein Freund Klaus.

K. Bach: Und wie kann ich mir das vorstellen bei dir, wie schreibst du? Beginnst du schon im Kopf oder fließt es direkt aufs Papier bzw. den Screen? Schreibst du täglich? Wo?

D. Elmiger: Wenn ich schon länger an einem Text sitze, versuche ich täglich zu schreiben. Das ist natürlich auch davon abhängig, ob die Umstände es erlauben. Ich mag aber die Routine und brauche sie gewissermaßen, um mich selbst zu überlisten. Ich setze mich frühmorgens an den Tisch und tippe und lese, bis ich irgendwann nach dem Mittag aufgebe oder stecken bleibe. Die Nachmittage verbringe ich dann in einem sehr unzufriedenen Zustand und warte auf den nächsten Morgen. Wenn ich aber erst gerade anfange, einen Text zu schreiben, dann halte ich nur ab und zu einen Satz fest oder unterstreiche einen Absatz in einem Buch und lasse dann wieder viel Zeit verstreichen. Meist arbeite ich zuhause, manchmal in der Bibliothek.

K. Bach: Verstehst du Literatur als Ereignis, als Momentaufnahme und gar Performance (denken wir zum Beispiel an Prosanova) oder hat sie für dich eher Archivcharakter?

D. Elmiger: Da bin ich vielleicht konservativ: Mich interessiert vor allem der geschriebene Text – als Leserin und als schreibende Person. Allerdings nicht in erster Linie zur Aufbewahrung und Überlieferung für Zukunft und Nachfahren, sondern als Ort des Gesprächs, der Diskussion, der Möglichkeit und auch der Vermittlung von Wissen.

K. Bach: Schreibst du also, um zu konservieren?

D. Elmiger: Nein. Ich schreibe eher, weil mich gewisse Fragen umtreiben, weil ich etwas wissen will oder andere Möglichkeiten suchen möchte. Wenn ein Text – als Zeitdokument oder als literarischer Text – aber auch in der Zukunft noch gelesen wird, dann widerspricht das ja dieser Absicht nicht. Ich weiß nicht, ob Büchner den Lenz mit der Absicht geschrieben hat, etwas zu konservieren; aber ich bin natürlich froh, dass der Text noch da ist.

K. Bach: Ha, dann nähern wir uns nun mal endlich deinen Texten. In deinem aktuellen und zweiten Roman Schlafgänger umkreisen die unterschiedlichen Figuren nahezu alle immer wieder das Motiv des »Fallens«. Woher diese Faszination? Vom (im Roman immer wieder genannten und für »Fall-Studien« bekannten) Konzeptkünstler Jan Bas Ader, der sagte: »The sea, the land, the artist has with great sadness known they too will be no more.« (Das Meer, das Land, der Künstler erkennt mit großer Trauer, dass auch sie nicht mehr sein werden.)? Oder auch: Was verstehst du unter »Fallen«?

D. Elmiger: Mich hat das physische »Fallen« interessiert: Was passiert mit mir in diesem kurzen Moment, wenn ich falle und die sogenannte Herrschaft über meinen Körper verliere? Gibt es da – neben der Irritation, der Überraschung – ein Gefühl der Fremdheit, das in so einem Augenblick deutlich wird? Betrachte ich mich selbst im Fall, als würde ich einen Schritt beiseitetreten? Und gibt es in diesem Sinn eine Verwandtschaft zum Tod?
Das Fallen also, als Möglichkeit über die Komplexität des »Ichs« nachzudenken, aber auch über die Ohnmacht, nicht über den eigenen Körper verfügen zu können. Das Fallen also auch als Moment der Gefährdung – was wiederum sehr stark zu tun hat mit dem Zugriff auf Körper durch Dritte: die Polizei, die Grenzwächter.
Dem Text vorangestellt ist ja ein Zitat von Simone Weil. In L'Iliade ou le Poème de la Force schreibt sie über Gewalt: »La force, c'est ce qui fait de quiconque lui est soumis une chose. ... Il y avait quelqu'un, et, un instant plus tard, il n'y a personne.« (»Jeder, der der Kraft unterworfen ist, wird eine Sache. ... Es gab jemanden, und, einen Augenblick später, gibt es niemanden mehr.«)

K. Bach: Kanntest du Bas Jan Ader schon vorher oder bist du während der Recherche zum Fallen auf ihn gestoßen? Ich habe erst durch die Recherche für das Interview herausgefunden, dass es ihn wirklich gab und mich gefreut. Denn, als ich vorher den Namen einer Figur aus dem Buch googelte, kam ich auf kein Ergebnis und folgerte daraus, dass alle Genannten und Zitierten erfunden seien. Jetzt werde ich alle Namen noch einmal eingeben ...

D. Elmiger: Das ist lustig! Im Gegensatz zum ersten Buch habe ich mich ja nun größtenteils an die sogenannte Wahrheit gehalten ... Arbeiten von Bas Jan Ader habe ich zum ersten Mal in einer Ausstellung in Dortmund gesehen, die den Titel Gone to Croatan – Strategien des Verschwindens trug. Zuvor wusste ich nicht sehr viel über ihn, nur von seiner letzten Bootsfahrt hatte ich gelesen.

K. Bach: So ein krasser Tod ... (*Ader versuchte 1975 mit einem sehr kleinen Segelboot eine performative Atlantiküberquerung mit dem Titel In search of the miraculous (songs for North Atlantic) – das leere Boot wurde 10 Monate später an Irlands Küste angetrieben, sein Körper nie gefunden.) Nun noch einmal zu deinem ersten Roman: In deinem Debüt Einladung an die Waghalsigen bewegen sich zwei junge Frauen in einer postapokalyptischen Atmosphäre, die Zivilisation hat sich aufgelöst, die Umwelt zersetzt sich mehr und mehr. Nun also die Frage, ob dich das große Wort Vergänglichkeit = Vanitas als Motiv reizt und deswegen in deine Literatur findet?

D. Elmiger: Die Erkenntnis, dass wir nicht unsterblich sind und irgendwann verschwinden werden, ist doch beeindruckend. Am Schreibtisch stellt sich die Frage, was man mit der eigenen Zeit eigentlich macht und aus welchen Gründen man sich für dieses oder jenes (das Schreiben) entscheidet, ziemlich vehement. Aber im Text interessiert mich doch vor allem und gerade darum das Leben. Auch bei der Einladung an die Waghalsigen weist der Zerfall ja umso mehr auf die Frage hin: Wie können wir darin leben?

K. Bach: Also empfindest du das Motiv keinesfalls als Vanitas, sondern wolltest viel mehr ein mögliches Leben im Zerfall als Gegenmodell zur Hingabe an die Vergänglichkeit darstellen?

D. Elmiger: Gerade weil die Zeit ja begrenzt ist, bekommt die Frage, wie wir leben wollen, eine umso größere Dringlichkeit, auch wer wie leben kann. Also mit der Vergänglichkeit im Hinterkopf.

K. Bach: Wie willst du gerade leben?

D. Elmiger: So ganz privat bin ich schon zufrieden, wenn ich zum Frühstück ein Brötchen mit Marmelade essen und einen Kaffee trinken kann, wenn ich Zeit habe, um zu schreiben und genug Geld, um ab und zu ein Buch zu kaufen.

K. Bach: Und wie stellst du dir dein Autorinnendasein in zwanzig, dreißig Jahren vor?

D. Elmiger: Ganz ähnlich wie heute vielleicht. Und vielleicht habe ich dann einen Hund oder mehr Topfpflanzen, um die Nachmittage rumzukriegen.

K. Bach: Und die Literatur bzw. den Literaturbetrieb? Wird es noch Bücher geben? Was wird vergehen, was wird bleiben? Große Fragen zum Schluss.

D. Elmiger: Das sind große Fragen und ich habe keine Antworten darauf. Mich interessieren neue Formen des Publizierens, hin und wieder lese ich auch ein E-Book. Texte wird es mit Sicherheit geben, in welcher Form wir sie lesen werden, weiß ich nicht.

K. Bach: Ich hoffe jedenfalls sehr, es wird noch einige Bücher mehr von dir geben. Vielen Dank für das Gespräch!
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Thema in poet nr. 17

Literaturmagazin
poetenladen, Leipzig Herbst 2014
ca. 224 Seiten, 9.80 Euro

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Kathrin Bach
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