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Jo Lendle
Gespräch mit Kathrin Bach für den poetenladen
»Zuständig für Überraschungen
ist die Literatur«
Gespräch |
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Literatur und Fortschritt lautet das Gesprächsthema der 21. poet-Ausgabe: Das Thema ist weit gespannt: vom Fortschrittsgedanken, der sich auf literarische Verfahren bezieht, bis zu Themen, die sich aus technischen Innovationen oder veränderten Lebensbedingungen ergeben. Natürlich gehören die neuen Medien und digitalen Möglichkeiten hierher, die den Buchmarkt grundlegend verändern.
Jo Lendle, geboren 1968 in Osnabrück, studierte Kulturwissenschaften und Animation Culturelle in Hildesheim und Montreal sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er war verlegerischer Geschäftsführer des DuMont Buchverlags und leitet seit 2014 die Hanser Literaturverlage und ist Herausgeber der Literaturzeitschrift Akzente. 1999 debütierte er mit dem Prosa-Band Unter Mardern (Suhrkamp), zuletzt erschienen die Romane Alles Land (DVA, 2011) und Was wir Liebe nennen (DVA, 2013).
jolendle.de
Kathin Bach: Du verkörperst gleichzeitig viele Rollen. Unter anderem bist du Autor und Verleger eines großen renommierten Verlages. Eins davon ist doch schon stressig genug. Ist das Zufall – oder Schicksal einer Figur im (heutigen) Literaturbetrieb?
Jo Lendle: Schicksal wäre sicherlich zu hoch gegriffen, es gibt ja viele, die sehr überzeugend in genau einer Rolle sichtbar sind. Ich habe beides, Lesen und Schreiben, einfach immer als etwas zu mir Gehöriges erlebt. Das war, was ich wollte, zunächst ohne jeden Gedanken an einen Beruf. Die beiden ersten Verlagsverträge, als Lektor und als Autor, habe ich dann zufälligerweise fast gleichzeitig unterschrieben. Letztlich ist es also eher ein Beleg für Entscheidungsschwäche
K. Bach: Wie schaffst du es in dieser nahezu durchdigitalisierten Welt, in der man so leicht immerzu erreichbar ist, mal nicht Rund-um-die-Uhr-Verleger zu sein? Oder schaffst du das gar nicht?
Jo Lendle: Nein, tatsächlich nicht. Die verschiedenen Bereiche überlagern sich einfach. Wobei ich das recht selbstverständlich finde. Wir sind ja alle immerzu mehreres zugleich: Leser, Bürger, Vater, Sohn und so fort.
K. Bach: Ich nehme Hanser als einen Verlag wahr, der sich äußerst elegant zwischen Tradition und Fortschritt bewegt. Ihr habt beispielsweise mit der Hanser Box einen eigenen Digitalverlag, verkauft Bücher noch in ihrer Entstehung, seid in jeglichen Social-Media-Kanälen aktiv und gleichzeitig verlegt ihr ganz analog Werkausgaben und Klassiker der Weltliteratur. Wie nimmst du das wahr? Kann ein Verlag heutzutage nur so – mit Multichannelstrategie – bestehen?
Jo Lendle: Verlage können auf unterschiedliche Weisen bestehen. In jedem denkbaren Biotop sitzt ein hochspezialisiertes Unternehmen. Man denke nur an den sehr erfolgreichen Verlag für Standesamtwesen. Wenn ich für meine Interpretation der Aufgabe des Hanser Verlags einen abgeschmackten Claim dichten müsste, wäre es »Innovativ aus Tradition«. Auf Deutsch: Bleib wach! Erfinde dich neu, weil du es immer schon so gehalten hast. Als Hansers Literaturzeitschrift Akzente vor gut sechzig Jahren gegründet wurde, war sie ein Fremdkörper in einem Verlag, in dem damals hauptsächlich Klassiker erschienen. Bald schon entwickelte sich im Verlag daraus eine eigene Zuständigkeit für aktuelle Literatur und heute ist die Zeitschrift selbst eine ehrwürdige Institution. Auch die Art, Klassiker zu präsentieren, ist nach Abschluss der großen deutschsprachigen Editionen mit der Reihe der Neuübersetzungen mutig und modern neuinterpretiert worden. So folgt aus unserer Tradition für mich genau diese Verpflichtung, Bestehendes und die nächste Gegenwart ins Gespräch zu bringen.
K. Bach: Wie wir lesen, verändert sich. Wir müssen uns erst einmal zwischen schier unendlichen Beschäftigungsmöglichkeiten für das Lesen entscheiden, müssen uns dann zwischen schier unendlichen Möglichkeiten für einen Text entscheiden, müssen dann entscheiden, ob wir diesen Text analog oder digital lesen wollen und müssen dann schauen, wann und wo wir Zeit dafür finden. Was denkst du, wie übertragen sich diese Veränderungen in die Verlagswelt bzw. wie verändern sich Schreiben und Verlegen? Sind wir mitten in einer Veränderungsphase oder haben wir die schon längst hinter uns?
Jo Lendle: Mir erscheinen die genannten Zumutungen erträglich. In der Praxis steht dahinter in der Regel ja einfach, dass wir auf ein Buch stoßen und zugreifen. Da geht es dem Verlag nicht anders als jedem einzelnen Leser. Das wird bleiben. Dass die Darreichungsformen vielfältiger werden, ist ja erst einmal kein Drama.
K. Bach: Wie kam es zu der Idee, Tilman Rammstedts Roman Morgen mehr, der nun gedruckt bei Hanser erscheint, vorab und noch in seiner Entstehungsphase Tag für Tag digital als Abo zu vermarkten?
Jo Lendle: Dahinter steckt die Frage, ob hinter dieser Vielzahl von Möglichkeiten ein Versprechen steckt. Man sagt das immer so positiv »Möglichkeiten«, aber alles machen zu können, bringt einen ja erst einmal nicht weiter. Die Geschichte der lyrischen Formsprache lebt im Wesentlichen von all den Geschenken, die aus der Reduktion von Möglichkeiten entstehen. Hier ging es darum, die etwas angestaubte Idee des Fortsetzungsromans eine Spur radikaler auferstehen zu lassen. Täglich zu verfolgen, wie die Geschichte einschließlich möglicher Schleifen voranschreitet, hat die innere Lesebeteiligung verändert. Letztlich war es aber einfach Tilman Rammstedts Versuch, sich ins kalte Wasser seines neuen Romans zu stürzen, er hatte schon lange die Idee, in täglichen Lieferungen zu publizieren.
K. Bach: Und hat das funktioniert, ein Buch zu verkaufen, während es geschrieben wird? Ein Produkt, das es noch gar nicht gibt – und das dann aber in einem so traditionellen Modell wie dem des Abonnements ... Wie waren die Reaktionen darauf?
Jo Lendle: Das hat sogar sehr gut funktioniert. Für den Roman – aber auch in schier unerschöpflich regen Diskussionen unter den Lesern.
K. Bach: Und warum danach trotzdem noch das gedruckte Buch?
Jo Lendle: Weil zum Schreiben nicht nur Rausch gehört, sondern auch Reflexion. Jean Paul sagte dazu: Entwirf beim Wein, exekutiere beim Kaffee. Tilman Rammstedt hat seine Geschichte noch einmal gehörig überarbeitet, das Geschehen etwa auf einen einzigen Tag komprimiert, so dass ein Roman eigenen Rechts entstanden ist. Und Romane lieben das gedruckte Buch.
K. Bach: Werden so nun noch mehr (Roman)projekte entstehen? Kleine Texthäppchen in digitaler Form als Amuse-bouche für die gedruckten Romane?
Jo Lendle: Wohl nicht. Für die allermeisten Autoren bietet das klassische Verfahren nichts als Vorteile. Wir behalten uns allerdings vor, weiter Ideen zu haben.
K. Bach: Tilman Rammstedt hat seine Leser*innen via Facebook in Form einer Livestreamlesung direkt angesprochen und für sie gelesen. Wird Hanser dieses Format nun häufiger nutzen?
Jo Lendle: Auch das hängt an den Autoren, schon früher gab es ja die, die sich als öffentliche Personen gesehen haben und die, die ihre Bücher haben sprechen lassen. Mit beiden Haltungen, dem Modell Thomas Mann und dem Modell B. Traven, können Verlage gut leben.
K. Bach: Irgendwie wirkt es so, als hegten Leser*innen den Wunsch, ganz nah dran zu sein: ganz nah dran am Entstehungsprozess des Romans, ganz nah dran am Roman selbst, ganz nah dran am Autor / an der Autorin, ganz nah dran an der Arbeit des Verlages ...
Jo Lendle: Und im Interview ganz nah am Verleger ...
K. Bach: Genau! Durch Projekte wie Morgen Mehr ist das möglich. Findest du, ab einem bestimmten Punkt muss es dennoch Grenzen geben oder ist das die Zukunft: Leser*innen, die im Grunde Aufgaben eines Verlages übernehmen, die im Grunde einen Roman mitschreiben, immer auf der Suche nach einem Erlebnis?
Jo Lendle: Beim Mitschreiben von Lesern sähe ich eine Grenze erreicht. Ich bin ein Anhänger von Autorschaft. Die kann erheblich anders aussehen als in den bewährten Formen, aber ich glaube daran, dass jemand Verantwortung für Haltung und Ton übernimmt. Wobei: Ich lasse mich gern überraschen. Und was die Auseinandersetzung über Literatur oder Sachtexte angeht, bringt der Verzicht auf Einbahnstraßenkommunikation neben allerhand Durcheinander sicherlich auch weitere vielversprechende Formate mit sich.
K. Bach: Nochmal zu eurem Digitalverlag. Wie sind die Reaktionen auf die Hanser Box? Verkaufen sich die E-Books? Bei einem Preis von 2,99 Euro geht es einem Verlag ja wohl eher ums Image als um den großen Umsatz ...
Jo Lendle: Beim ganzen E-only-Markt tut man gut daran, sich darunter keinen lauten, gedrängten Marktplatz voller Stände und Trubel vorzustellen. Da entsteht vieles auf Zuruf, auch ein eigenes Rezensionswesen bildet sich allmählich heraus. Im Unterschied zu anderen Vorstößen setzen wir nicht auf Umsonstangebote, sondern entwickeln ein recht basales Geschäftsmodell, inklusive eines kleinen Vorschusses. Auch wenn der Bereich nicht zu unserem Gewinn beiträgt, nimmt er auch nichts davon weg – da gibt es im digitalen Publikationswesen der Gegenwart ganz andere Fälle.
K. Bach: Sowohl beim Abonnement von Morgen Mehr, bei dem man jeden Tag eine Dosis Roman lesen konnte, als auch beim Kauf eines E-Books der Hanser Box entscheidet man sich für kurze Stücke Literatur. Passt sich der Verlag hier einer to-go-Gesellschaft an, die für längere Formen nicht mehr die Zeit findet?
Jo Lendle: Oh, wir versorgen Lesehungrige an anderer Stelle mit erheblichen Mengen dickster Formen. Unsere Klassikerneuübersetzungen bieten ein beglückend opulentes »All you can read«-Prinzip. Im Herbst bringen wir ein 800-seitiges Langepos von Raoul Schrott in wunderschöner Ausstattung. Tatsächlich glaube ich aber, dass sich so etwas auf dem Reader weniger gut lesen lässt. Morgen mehr haben viele auf dem Telefon gelesen, da ist die kürzere Form ideal.
K. Bach: Zur Entscheidung für die kurze Form passt ja auch Lyrik. In der Reihe Das rote Radio erklingen Gedichte von Hanser-Autoren in kurzen Videobeiträgen an unterschiedlichsten Orten: Ein rotes altes Radio steht auf einer Brücke, an einer Kreuzung, am U-Bahn-Gleis. Welchen Stellenwert hat Lyrik in deinen Augen und wie verlegt und vermarktet man sie 2016?
Jo Lendle: Sie bringt die Literatur auf den Punkt. Das kann man ihr nicht hoch genug anrechnen. Wobei ich kein großer Freund der Vorstellung bin, Gedichte brauchten gesonderte Naturschutzgebiete. Lyrik gehört nicht in den Wald, sondern auf die Straße.
K. Bach: Wie blickst du auf die Zukunft der Verlagswelt – auch in Anbetracht des VG-Wort-Urteils vom April?
Jo Lendle: Die BGH-Entscheidung bringt mich immer noch auf die Palme. Rein juristisch ist das Urteil nachzuvollziehen, aber die VG Wort wurde in der festen Gewissheit gegründet, dass Autoren und Verlage ein gemeinsames Anliegen eint, aus dieser Überzeugung ist die Zusammenarbeit jahrzehntelang geglückt. Es scheint mir essenziell, für dieses Ziel sehr rasch eine gesetzliche Grundlage zu schaffen.
K. Bach: Und was verlegst du so in 20 Jahren? Was fehlt dem Literaturbetrieb noch?
Jo Lendle: Der Literatur geht es in Wahrheit ja gar nicht um Betrieb, Digitalisierung, VG Wort, Multichannel und so weiter. Der Grund, warum wir alle hier sind, ist doch eigentlich dieser Moment, wenn du anfängst zu lesen und auf einmal merkst, hoppla, das ist besonders, hier passiert gerade etwas, für das ich keine Erklärung habe. Wenn das Lesen seine Routine verliert. Das will ich verlegen, das fehlt ganz einfach deshalb immer, weil es davon nicht genug geben kann. Welche Form das haben wird, überlasse ich dem Einzelfall. Zuständig für Überraschungen ist die Literatur.
K. Bach: Vielen Dank für das Gespräch.
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