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Es wächst nicht zusammen, was nicht zusammen gehört.
Eine Kritik der politischen Rhetorik
Kurt Drawert: Essay


Jenny TreibelBovaryAnna Karenina

Ob Frau Jenny Treibel in Deutsch­land, Madame Bovary in Frank­reich oder Anna Karenina in Rußland: sie alle leiden an der Differenz eines Begehrens nach sich selbst und jener zur sozia­len Norm gewordenen Ver­pflichtung, die Inner­lichkeit dem Kreislauf von Produktion und Distribution zur Verfügung zu stellen.



„Was nicht zusammen gehört,/ das soll sich meiden./ Ich hindere euch nicht,/ wo es euch beliebt, zu weilen. // Denn ihr seid neu,/ und ich bin alt geboren./ Macht, was ihr wollt,/ nur laßt mich ungeschoren.“ – Diese Zeilen stammen von Goethe, und sie beziehen sich auf das Gefühl der Bedräng­nis, wie er es im Umgang mit Bettina von Armin empfand. Liebe kann lästig sein, wer kennt das nicht. Noch lästiger aber, als eine Liebe nicht erwidern zu können, ist die Ver­pflichtung, lieben zu müssen. Sie kommt einer Nötigung gleich und entspringt dem kol­lektiven Willen zur Vermehrung des Eigentums. Denn Liebe an und für sich, jene Liebe, die sich frei verschenkt und unwillkürlich ergibt, ist ein asozialer Zustand und damit für jede auf Funktiona­lität getrimmte Ordnung subversiv. Es ist die in der Liebe selbst angelegte Unbe­rechen­barkeit, die zur Gefahr wird und entsprechend gebändigt werden muß. Am Ende ist es immer die Freiheit des Subjekts, die wieder abge­schafft werden soll, nachdem sie, zunächst moral­philo­sophisch und dann juristisch, eingeführt wurde. Die Etablierung eines Frei­heits­bewußtseins und die Zerstörung des­selben sind die zwei großen und einander permanent riva­lisie­renden Konstanten der westlichen Moderne. Die Literatur vor allem der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts ist voll von Beispielen, wie die gesell­schaft­lich verwaltete Liebe zur Kata­strophe des einzelnen oder einer Familie wird. Ob Frau Jenny Treibel in Deutsch­land, Madame Bovary in Frank­reich oder Anna Karenina in Rußland: sie alle leiden an der Differenz eines Begehrens nach sich selbst und jener zur sozia­len Norm gewordenen Ver­pflichtung, die Inner­lichkeit dem Kreislauf von Produktion und Distribution zur Verfügung zu stellen. Und wer es nicht tut, wie Emma Bovary etwa, geht elend zugrunde.

Der Konflikt aber, an dem die modernen Gesell­schaften seit der Spätromantik bis in die Gegenwart hinein so schwer zu tragen haben, besteht nun nicht allein darin, den souverän gewordenen Anspruch auf sich selbst mit Techno­logien der Ent­fremdung immer aufs neue zu konterkarieren, weil es das Kapital so erzwingt. Der eigentliche Konflikt, oder besser, der Skandal des Konfliktes ist die Verleugnung, sich in einem Konflikt zu befinden. Die medial durch­gesetzten Rhetoriken, ob sie nun politischer oder religiöser Art sind, produzieren Illusionen und falsche Erwartungen an die Gesellschaft; sie wollen das Barbarische humanisieren und barbarisieren das Humane; sie wollen ein „Ausgang aus der selbst­verschuldeten Unmündig­keit“ sein und führen nur um so tiefer in Unmündigkeiten hinein; sie sind, mit einem Wort, Verführungen im Namen einer simulierten Harmonie. Ziehen wir nun die Klammer der Verpflichtungsliebe, von der unser Herr Geheimrat so wunderbar absehen konnte, weil sie privat blieb, um die Spaltungs- und Vereinigungs­geschichte der Deutschen mit ihrer dauernden Sehnsucht nach dem anderen, unbekannten Teil, dann haben wir das ganze Dilemma der affektiven Züchtigung seit nunmehr zwanzig Jahren vor Augen: eine Liebe, oder etwas schlichter vielleicht, eine Zugehörigkeit zu fordern, die keine andere Grundlage hat als die einer zerstrittenen Familie vor dem Erbschaftsgericht. Diese Uneigentlichkeit der Beziehung muß sich nun moralisch so präsentieren, als wäre sie eine beschlossene Sache der Herzen. Die Motive für diese inszenierte Wendung vom Dilemma zum Glück sind auch klar: kein Politiker kann sich einer Rhetorik der Verführbarkeit entziehen, oder er verliert früher oder später sein Amt. Das gilt für unser deutsch-deutsches Vereinigungs­szenario ebenso wie für die politische Praxis im allgemeinen.

In dieser Klemme zwischen Wahrheits­verpflich­tung und Illusions­erzeugung gibt es nur einen Ausweg: den grammatisch inkorrekten und syntaktisch bis zur Unlesbarkeit verschach­telten Satz. Er offenbart, daß es keine authentische Beziehung des Sprechers zum Gesprochenen und der Sprache zu ihrem Gegenstand gibt. Im Grunde darf man den falschen Satz gar nicht erst annehmen, weil er in sich selbst begründet eine Abweisung ist. Die von Tautologien durchzogene und im wahrsten Sinne des Wortes ver/-rückte Sprache in einer Diktatur, die nichts als falsche Beziehungen herstellt und von falschen Bedingungen des Sprechens ausgeht, hat alle Regeln eines unbedingten Willens zur Macht schon kopiert. In ihr nach einer Antwort zu suchen kann demnach nur heißen, die Verhältnisse zu reproduzieren. Wie immer auch die Inhalte sich verhalten: sie sind machtlos schon in ihrer Form. Deshalb ist hier der Angriff auf die Sprache auch ein Angriff auf das System, das diese Sprache verwaltet, und deshalb kommt der Literatur in Diktaturen eine so außerordentliche Rolle zu. Wo die Sprache unter General­verdacht steht, immer mehr zu meinen, als sie tatsächlich sagt, ist schon der bloße Akt, sie zu gebrauchen, subversiv und mit unterstellter Bedeutung angereichert. Das ist es, was eine Zensurbehörde so lächerlich macht, denn gerade dadurch, daß sie verbietet, hebt sie das Verbotene hervor. In den praktizierten Demokratien des Westens nun gibt es das Verbotene nicht, jedenfalls nicht in dieser ungewollt produktiven, einen neuen Sinn generierenden Weise, und für die vergesellschaftete, öffentliche Sprache heißt das, daß sie zunächst einmal auf nichts verweisen kann, was außerhalb ihrer selbst liegt. Kein Geheimnis, keine Beziehung zum Imaginären, keine Strahlkraft geht von den Wörtern aus. Der Stein ist ein Stein, und nichts daran ist edel. Das heißt, die freie Rede ist radikal mit sich selbst konfrontiert und kann kein Vertrauen darin haben, daß sie einen Mehrwert an Aussagen durch die besonderen Verhältnisse des Sprechens erzeugt. Dieses Privileg der Produktion von Sinn durch die Annahme von Sinn fällt demnach weg, und das desavouiert die unscharfe Rede und läßt sie als das erscheinen, was sie ist: eine Summe leerer Signifikanten. Die falsche Sprache in Diktaturen ist system­immanent und in sich selbst begründet falsch; die falsche Sprache in Demokratien ist ein Defekt im System der Demokratie.

Aber dieser Defekt ist den Politikern, in deren Rhetoriken er erscheint, allein nicht anzulasten, weil sie selbst Bestandteil dieser Defekte sind und nicht über sie hinaus oder an ihnen vorbei agieren können; vielmehr ist er das Produkt aller Teile der Gesellschaft, und damit gehört er zu uns. Wir warten doch nur darauf, Politiker beim Lügen zu ertappen, um sie dann sofort zu suspendieren. Die Wahrheit aber wollen wir auch nicht hören, und wer sie ungeschönt äußert, stürzt im Ranking der Beliebtheiten gnadenlos tief. Also bleibt nur die unscharfe Rede, der Sprachbrei, die Nichtfestlegung und substantielle Flüchtigkeit. Je wichtiger der Gegenstand, um so empathischer wird an ihm vorbei­gesprochen. Das läßt sich bis in die Körpersprache der Redner hinein mitverfolgen, wie die Bewegungen des Kopfes, des Armes oder der Hand das exakte Gegenteil von dem vermitteln, was verbalisiert worden ist. Der Körper aber ist ein denkbar schlechter Agent für die Lüge, und er wehrt sich mit Krankheit, wo er in diesem Komplott gegen die Wahrheit eine Rolle spielen soll. Wenn wir nun in den politischen Reden einen Mangel an veritablen Sätzen vermissen, die allenfalls noch bei Problemen des Flaschenpfands oder der Bitte um abgewaschene Plastikbecher im Haushaltsmüll riskiert werden, so sagt das noch nichts über den Zustand der Politik, die ins Lächerliche zu ziehen fast schon zum Volkssport gehört. Eher verdienen Politiker unsere Nachsicht, wenn sie in einer immer komplexer und intrans­parenter werdenden Welt zwanghaft den Eindruck erwecken müssen, dem Geschehen gewachsen zu sein, anstatt, wie alle anderen auch, nur hilflos zuzusehen, wie etwas völlig unerwartet und ohne einen Begriff von sich selber geschieht. Denn im gleichen Maße, wie die sozialen Binnenstrukturen sich verselbständigen und eine eigene Begriffs- und Kompetenz­hoheit bilden, werden Politiker zu Repräsen­tanten von annähernd gar nichts; und hier reden wir von den Politikern guten Willens und nicht von jenen, die sich Macht aneignen im ohnehin nur privaten Interesse. Hier nun verschärft sich auch unser Problem, denn ihre Rede ist autoritär und durchzogen von jenen Strömen der Macht, die ihnen symbolisch nicht nur zugestanden wird, sondern die wir von ihnen erwarten. Was immer sie äußern, sie verlängern es in Bereiche eines Verstehens, das den Glauben zu verstehen mit einschließt und die leeren Signifi­kanten wie eine Ware verkauft, die nur aus Etiketten besteht. Nicht der Unsinn in der Sprache der Diktaturen, deren gesell­schaftliche Reproduktion nur noch physische Gewalt werden kann, ist hier das Fatale, sondern die Verwei­gerung von Sinn aus Angst vor den Folgen der Demo­kratie, in der jeder jederzeit kritisierbar und damit auch zerstörbar ist. Oder bildlich gesprochen: wir vertrauen darauf, daß es hinter den Etiketten eine Substanz gibt, die sich eben nur nicht zu erkennen gibt, denn mit der Leere können wir nicht umgehen, obgleich wir sie unablässig pro­duzieren und repro­duzieren. Es ist wie mit einem Vorhang, der geschlossen bleiben muß, um zu verbergen, daß hinter ihm nichts ist. Der Osten nun hatte gar keinen Vorhang, und das war insofern einfacher, als das Nichts permanent vorhanden war, in der Mitte der Dinge und im Zentrum der Sprache, ganz wie in der klassischen Moderne seit Hofmannsthal und Rilke. Die Abschaffung von Freiheit und die Unter­werfung der Subjekte, vor den macht­politischen Interessen eines Staates hier, vor der Gier des Kapitals dort, war immer die gemeinsame Achse, um die sich die Geschichte bewegte. Nur die Strategien der Verrichtung waren verschieden: hier ist es die Sprache, die ihren Sinn nicht findet, dort ist es der Sinn, der sich der Sprache verweigert; hier geht es um die Verformung des Subjektes zu einer ideolo­gie­kon­formen Masse, dort um die Formatierung des subjektiven Willens zum Willen eines betäubten Konsumenten und so fort. Nun können aber diese ebenso gegen­sätzlichen wie korre­lativen Bedingungen für das Subjekt im Bewußtsein der Subjekte nicht abgebildet und damit narrativ aufgelöst werden, sondern sie gehen ein in ein körperliches Programm, das sich aus einer Reihe abgespeicherter Reize ergibt und das unser Verhalten nach den besten Chancen auf Erfolg reguliert. Was wir später als Resultate der Vernunft annehmen, waren Optionen des Körpers, der über eine Vernünftigkeit verfügt, von der wir – im reinen Sinne des Wortes – bestenfalls träumen. Der sogenannte freie Wille ist eine Unterstellung der Aufklärung und an szientis­tisch verwaltete Tugenden gebunden. Das nun sagt nicht, daß es keinen freien Willen gibt, er ist nur eben auch frei von Bewußtsein und Sprache. Es geht also nicht darum, die Formationen des Ich zu destabilisieren, bis die Dämonen aus den Finster­nissen unserer Verdrängungen steigen, sondern es gilt, sie zu stärken, indem sie zu Bestandteilen des Somatischen werden. Immanenz statt Evidenz, die Texte des Körpers vor denen eines sich selbst täuschenden Verstandes. Und das eben ist es, was die gesellschaftliche Einswerdung vormals disparater politischer, wirtschaftlicher und kultureller Systeme so grandios erschwert: daß sie grund­verschiedene kollektive Unterbewußtseine hervorgebracht und über alle gesellschaftlichen Veränderungen hinweg erhalten haben, die nicht adäquat kommuniziert werden können und eher zu einer Verschärfung der Ressentiments führen als zur ersehnten und angestrebten Einheit. Die Überschreibung der inneren Schrift ist ein Prozeß, der nur bedingt geleistet werden kann. Eher werden die über Jahrzehnte eingespielten Verhaltens- und Wahr­nehmungs­stereotype in einem Widerstand gegen das Neue, Andere und Fremde benutzt, als daß sie sich, für was auch, auflösen würden. Was wir heute als „Ostalgie“ bezeichnen, ist oft nur eine Form der Abwehr von Gegenwart und dann erst ideali­sierte Vergangenheit, die für die Generation der in den Jahren kurz vor oder nach der Wende Geborenen sowieso nicht in Frage kommt. In der Erhöhung des Unbekannten liegt immer auch die Verweigerung, das Bekannte anzuerkennen, wie die Erniedrigung in der Absicht geschieht, es zu restituieren. Für meine Generation war es der Faschismus, der die stärksten Symbole dafür anbot, einen Zorn zu äußern, der seinen Gegenstand verdrängt hat. Dabei ging es wesentlich um den Skandal, nicht um Inhalte. Ein in die Holzbank geritztes Hakenkreuz war der reine affektive Vorgang und keine Verherrlichung des Nationalsozialismus. Ein Satz, den wir puber­tierenden Kinder mit dem flauen Gefühl des Unheimlichen benutzten wie einen Abzählvers und der mich bis heute verfolgt wie ein aus der Geschichte gestiegenes Monster, lautete: „Ich habe Hunger, mir ist kalt, ich will zurück nach Buchenwald“. Konnte etwas zynischer, härter, furchtbarer sein? Dieser Kampf um die Zeichen ist mit dem Sinn der Zeichen nicht zu erklären, denn es ging um Erregung und nicht um den Grund der Erregung. Das heißt natürlich, daß in allen Formen der Skandalisierung ein mehr oder weniger großes Affektpotential selbst­referen­tiell ist. Es ist da, ohne daß es für etwas da ist.

Das macht ja auch die Vorher­sehbarkeit terroristischer Anschläge so schwer, daß sie sich kaum von ihren strate­gischen Zielen her verstehen lassen, sondern sich wesentlich im Rausch der Handlung selbst erfüllen. Dort, wo sich die ins Körperliche übertragenen Erfahrungen, die Sprachen der Ideologien und ihrer individuellen Gegen­entwürfe, die Texte und Subtexte und Differenzen, kurz, die gesamten psychokulturellen Organisations­formen zu einer Struktur der Persönlichkeit verdichten, dort und nur dort werden die Optionen unseres Verhaltens bestimmt, und dort entscheidet sich auch, was und wie und ob überhaupt etwas der Fall ist. Willensentscheidungen spielen dabei eine nur schwache Rolle, denn sie sind leicht durch somatogene Abwehr­kräfte auszuschalten oder verfangen sich im Spiegel­labyrinth der Täuschungen und Selbst­täuschungen. Für die gesamtgesellschaftliche Praxis bedeutet das, daß veränderte Bedingungen noch lange nicht die Menschen verändern – jedenfalls nicht in derselben Folge und Geschwindigkeit, mit der sich die Verhältnisse verändert haben. Das wäre ja auch zu schön, im Gegenteil: die Bibliotheken sind voller Wissen, und wir nutzen es nicht. Jeder weiß alles, und keiner kann irgend etwas irgendwo ändern - so jedenfalls kommt es einem gelegentlich vor. Das stärkste Argument der Aufklärung war die Überzeugungskraft, aber irgendwann war die Gesellschaft durch und durch und von allem überzeugt, und trotzdem blieb sie, wie sie immer schon war: träge, selbstgefällig und jenseits ihrer Eliten unreflektiert. Denn das Wissen muß körperlich werden und eingehen in ein Wissensreservoir, das größer und weiter und tiefer ist, als die Sprache es zu fassen vermag. Dann erst ändern sich die Verhältnisse wirklich. Hegel nennt es „das stumme Fortweben des Geistes im einfachen Inneren seiner Substanz“, und er meint damit die komplizierte Veränderung der symbolischen Ordnung nach Veränderung der faktischen Ordnung. Die staatliche Macht ist schnell erobert, aber sie auf alle Bereiche des kulturellen und intellektuellen Lebens auszudehnen und substantiell zu behaupten ist ebenso so mühsam, wie einen Krieg gegen Partisanen in fremden Wäldern zu gewinnen. Allein eine Überlegenheit an Technik und Personen reicht hier nicht aus, wie es große Schlachten der Weltgeschichte belegen. Die virtuelle Macht hinter der politischen muß besiegt werden, d.h. die Freiheit zur Freiheit, die nicht sachlich geregelt werden kann, sondern sich selber regelt, ist der eigentliche und so schwer zu bezwingende Gegner. Das auch ist der Grund für militärisch oft sinnlose Demü­tigungs­rituale im Krieg: sie wollen den Ort der Freiheit zerstören, ehe der Körper zerstört wird. Der schnelle Tod kommt immer zu früh, denn er läßt keinen Kampf zu um das, was in der Form verborgen war und weiterlebt. Als Crassus dem ans Kreuz geschlagenen Spartakus versprach, ihn und seine Leute am Leben zu lassen, wenn er nur seinen Marsch gegen Rom bereuen und die Niederlage eingestehen würde, hatte er bereits seine Freiheit an der Freiheit des anderen verloren, denn natürlich lehnte Spartakus ab und begründete einen Mythos damit. Die peinliche Befragung der Heiligen Inquisition im Mittelalter ist nichts anderes: der Delinquent soll widerrufen und alle Schuld auf sich nehmen. Erst in seiner Reue findet die Macht zu sich selbst, und dafür werden die schrecklichsten Torturen erdacht. Nach einem Krieg ist es ebenso, und deshalb behalten die Offiziere den letzten Schuß für sich selbst. Und war die Vereinigung der Deutschen nicht auch gezeichnet von Ritualen der Demütigung? Wolfgang Hilbig nannte es in seiner Dankesrede zum Lessingpreis 1997 eine „Unzucht mit Abhängigen“, was der „Sieger“ der Geschichte, der Westen, mit dem „Besiegten“, dem Osten, gerade anstellen würde. Es ist hier nicht der Platz, näher darauf einzugehen, und ich gestehe auch, seinerzeit recht verärgert gewesen zu sein; dies zumal, da diese „Unzucht“ flankiert war (und ist) von Transferleistungen einer Dimension, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Heute verstehe ich diesen Satz in seinem symbolischen Überbau, und schon scheint er zu stimmen. Aber ebenso stimmt, daß der Osten mit seinen Leichen­giften auch den Westen verseucht hat, so daß man gar nicht genau sagen kann, wo der eine Teil aufhört und der andere beginnt, oder ob es nicht doch schon einer Angelegenheit von wechsel­seitiger Vergewaltigung gleichkommt, was da geschehen ist und geschieht. Ja, unsere Feiern nehmen kein Ende, und sie überzeichnen nur, was bis jetzt nicht erreicht werden konnte: der äußeren Einheit auch eine innere hinzuzufügen. Aber die tote gesellschaftliche Form löst sich deshalb noch lange nicht auf, nur weil sie tot ist, sondern sie muß permanent attackiert und gezwungen werden, auch ein zweites oder ein drittes Mal zu sterben. Die deutsche Vereinigung ist somit klar eine Frage der jeweiligen Generationszugehörigkeit und kommt als historische Erfolgs­geschichte für all jene zu spät, die den größeren Teil ihres Lebens in grundverschiedenen sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen verbracht haben. Jede andere Erwartung ist falsch und fordert Unwahr­haftigkeit regelrecht heraus. Kommen wir jetzt noch einmal zurück auf unser Problem der politischen Rhetorik, dann ziehen sich die Fäden genau an dieser Stelle zusammen: daß eine Sprache der Erfolge generiert wird, die keine substantielle Bestätigung findet, und in den Differenzen entsteht die Enttäuschung. Und noch einmal: das sind keine Bewußt­seins­enttäuschungen, sondern die Körper wenden sich vom Geschehen der Geschichte ab, sie entziehen sich ihrer Freiheit zur Freiheit. Das unterläuft unsere Absichten, mit denen wir uns begegnen, es schwächt sie oder kehrt sie in ihr Gegenteil um. Bei Dostojewski gibt es die Szene, in der Fürst Myschkin beim Eintreten ins Haus seiner Gastgeber plötzlich ohnmächtig wird und im Sturz eine kostbare Mingvase umstößt. Nun wußte er von dieser Vase, was sie bedeutet und wo genau neben dem Eingang sie steht. Er wußte, daß er unter Fallsucht leidet, und in einem Traum kurz vorher sah er sich stürzen. Also traf er Vorkehrungen und trichterte sich ein, wie er ins Haus gehen muß, um nicht in die Nähe der Vase zu geraten. Dann aber vergißt er alles und kommt genau dort zu Fall, wo er den größten Schaden anrichtet. So geht es uns auch: wir wissen über alles Bescheid, und doch kommt es immer anders als gedacht, denn unser Wissen ist von unseren Wünschen geprägt, und es blendet aus, was ihrer Erfüllbarkeit im Wege steht.

„Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ ist ein schöner Gedanke, mehr aber auch nicht. Schaden richtet die politische Rhetorik dort an, wo sie zu ihren exzessiven Wunsch- und Täuschungs­bildern einen Anspruch auf Wahrheit gleich mitformuliert. Da sie nun über jene Bedeutungs­überschüsse verfügt, die aus der Stellung der Macht ihrer Repräsentanten hervorgeht und durch nichts mehr verifiziert werden muß, ist ihr Totalitäts­anspruch bereits immanenter Bestandteil der Rede. Das heißt, was der König sagt, ist immer wahr, weil es der König gesagt hat. Wäre es nicht wahr, könnte der König auch kein König mehr sein, denn er hätte seine symbolische Macht verloren, die parallel zur politischen Macht stets erhalten bleiben muß. Inhalte, die keiner glaubt, spielen ja naturgemäß keine Rolle, nicht einmal, wenn sie methodisch als wahr zu beweisen wären. Das nun ist unser Anteil an der Lüge: daß wir den König genau dort eingesetzt haben, wo unsere Schwächen beginnen, unsere Ängste und Defizite. Wir geben ihm die Macht, die er braucht, um uns so zu belügen, daß die Lüge wie eine Wahrheit erscheint. Mehr noch, die Lüge ist die Wahrheit, wenn sie sich mit einer Macht verbindet, der wir uns – frei zur Freiheit – unterworfen haben. So also spinnen die Politiker aus Stroh Gold, das sich in Stroh zurückverwandelt, wenn die Machtströme nicht mehr durch ihre Rhetoriken fließen. Und das entscheiden wir, die Königs­macher und Iden des März. Die Helden der Öffentlichkeit sind Figuren unserer Phantasie, ihr Status Ausdruck unseres Begehrens, ihr Niedergang die Überführung der Lüge in uns selbst. Warum ist das Wort von den „…blühenden Landschaften im Osten“ so oft wie keine andere rhetorische Figur im Zusammenhang mit der deutschen Wieder­vereinigung aufgenommen, kritisiert und kolportiert worden? In diesem einen kurzen Satz hat sich ein Versprechen manifestiert, dessen Größe nie einzuhalten war und für grandiose Ent­täuschungen sorgte. Aber die Dimension des Versprechens war von dem, der es gab, auch gar nicht gemeint, sondern sie hat sich aus einem besonderen Verhältnis unserer Gläubigkeit zur Macht so ergeben. Die einzige Schuld, die den Sprecher, oder besser: den Versprecher hier trifft, ist der naive Umgang mit den Folgen seiner eigenen Macht – zumal in dieser sehr besonderen historischen Situation, in der völlig sprunghaft alles von der realen auf die symbolische und von der symbolischen auf die imaginäre Ebene wechseln konnte. Zu vergleichen vielleicht mit dem im Grunde gar nicht sprechbaren „Ich liebe dich“-Satz, der dem Nicht­verliebten nur albern erscheint, dem Verliebten aber einen Kosmos an Zuwendung öffnet. Die Liebe ist der einzige Zustand, in der sich die Sprache absolut verkörper­licht, das heißt die Worte verlieren ihre kalte Hülle der Referenz; sie werden aufgenommen von der Erwartung und umgeformt in Gefühl. Bei Lacan kann man lernen, daß die Sprache nicht über etwas redet, sondern selbst schon das Redende ist. Nirgendwo trifft das so zu wie in der Sprache der Liebe, die nur deshalb nicht unsinnig – das heißt tautologisch – ist, weil der Liebende sich nach den sprachlichen Formeln der Liebe verzehrt und sie braucht, um das Gefühl der Liebe über den spontanen Augenblick hinaus in Bewegung zu halten. Würde sich in dem „Ich liebe dich“-Satz der andere nicht sofort und absolut umschlossen fühlen, weil er ihm seine ganze Fähigkeit zu glauben und zu empfinden anvertraut hat, wäre dieser Satz längst schon ausgestorben. Daß nun aber alle ihn sagen und hören wollen, obwohl er ja wörtlich allen dasselbe sagt, beweist nur, daß er seine rhetorische Formelhaftigkeit im jeweiligen Gebrauch restlos verliert und zu einer körperlichen Handlung werden läßt, die eben einmalig ist. Verliebte und Nichtverliebte, Liebes­hungrige und Liebes­enttäuschte, Liebesfähige und Liebesunfähige, sie alle wissen, was sie mit ihrer Sprache erreichen und wie sorgsam sie zu verwenden ist. Ob intelligent oder nicht, sie haben ein Gespür für die Kraft ihrer Sprache in dieser außer­ordentlichen Zerbrechlichkeit der Situation, und sie vergehen sich, wenn sie die falschen Worte wählen, um etwas zu erreichen, das ihnen in Wahrheit nicht zusteht. Sprechen heißt immer auch verführen, und die Verführung der Gefühle ist eine moralisch verwerfliche Angelegenheit, wo sie es auf etwas anderes abgesehen hat als auf die Gefühle selbst. Warum nun soll das alles nicht ebenso für die politischen Rhetoriken gelten? Auch sie graben sich tief in das virtuelle Netz unserer Phantasmen und Ängste, erobern die Texte hinter den Texten und geht ein in den psychischen Haushalt eines jeden einzelnen, kurz: sie werden Bestandteil eines kollektiven Unterbewußten, das nur noch wirkt und nicht mehr in Alltags­sprache übersetzt werden kann. Allenfalls Literatur, die mit dem Unterbewußten korrespondiert, kann es noch fassen und zeigen (und sie muß dann schon auch eine sehr begabte Literatur sein, wie wir sie heute, wo sich die Literatur in einem Opportunismus der Geschmacksanpassung und Verkäuflichkeit geradezu selbst aus dem Weg räumt, kaum noch finden). Nein, so einfach wie Goethe mit seinem: „Macht, was ihr wollt,/ nur laßt mich ungeschoren“, kommen wir aus dem Dilemma der inszenierten Brüderlichkeit nicht heraus. Die Rhetoriken haben uns schon zu lange malträtiert damit, daß wir uns gefälligst deutsch-deutsch zu lieben haben, als daß hier noch einer sein eigenes wahres Gefühl spüren würde. Denn es gab und es gibt zwei deutsche Staaten, und nur, weil man den einen davon nicht mehr sieht, hat er ja noch lange nicht aufgehört zu sein. Es ist mit der Geschichte wie mit der Revolution oder dem Tod: stets vollzieht sie sich zweimal, einmal faktisch und einmal symbolisch, oder mit Lessing gesprochen, einmal tragisch und einmal komisch. Erst, wenn alle Zeichen restlos entleert sind, die Bewußtseine in Aktualität aufgehen und sich der gesellschaftliche Kreislauf um ein und dieselbe historische Achse bewegt, dann und wirklich erst dann ist etwas vereint. Das nun gleich folgende Problem allerdings ist, daß auch unsere Gesellschaft der Gegenwart eine in der Zukunft ganz andere sein wird, geprägt von kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und ethnischen Durchlässig­keiten, strukturellen Instabi­litäten und einer grandiosen Abwesenheit der physischen Welt. Die Gleichzeitigkeit des Ungleich­zeitigen war nicht nur ein Phänomen der Vergangenheit, in der Postmoderne gegen Moderne stand und Hightec-Kapita­lismus gegen Real­sozia­lismus wie einstmals Eisenbahn gegen Kutsche; die Geschwindigkeit der Zeit nimmt in einem Ausmaß zu, daß wir es bald schon nicht nur mit zwei oder drei verschiedenen historischen Ebenen zu tun haben werden, sondern mit ganzen Sphären, die zeitlich und stofflich auseinander­fallen. Eine Reise nach China reicht, um das schlagartig zu begreifen. Wenn wir unser schönes Land auch in seiner inneren Verbunden­heit wiederhaben, wird es keine Rolle mehr spielen, weil es dann keine Grenzen mehr gibt – jedenfalls keine sichtbaren.

Und im übrigen, wer sagt uns, daß alles und immer in Harmonie enden muß? Gott? Oder die Religions­philosophie? Oder die säkula­risierte bürgerliche Moral? Würde es nicht viel harmo­nischer zugehen, wir könnten auch das Disharmonische lieben, den Bruch, die Störung, das Unvol­lendete schlechthin? „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört!“ – warum eigentlich? Warum fällt es so schwer, das Andere auch dort anzuerkennen, wo es wirklich das Andere ist und nicht nur eine Maske des Selbst? Fremdenhaß ist immer Ausdruck einer narzißtischen Störung, denn der Fremde nimmt ja nicht wirklich etwas weg; aber er erinnert daran, daß die Welt größer und weiter ist als unser Bild von ihr, und daß sie genau dort anfängt, wo unser Selbst endet. Es gehört zur Souveränität des Subjekts, die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen nicht nur anzuerkennen, sondern sie zu verstehen als eine Voraus­setzung für jede Form von Indivi­duali­sierung schlechthin. Nicht der Andere dort, wo er uns ähnelt, fordert uns heraus, sondern wo er seine Freiheit behält, ein Anderer zu sein. Hier, in dieser Anerken­nung des Anderen, der (und das) den Fluß der Vor­urteile stört, finden wir zur Harmonie, und es kann nur eine Harmonie des Dis­harmo­nischen sein. Die politische Rhetorik aber vermittelt uns nur allzu oft eine Harmonie der Illusionen, und sie enttäuscht uns damit und nimmt uns in Schutzhaft vor unserer Schwäche, die hätte unsere Stärke sein können. In Wahrheit reicht sie nur ihre Unfreiheit weiter, auf nichts anderes verweisen zu können als auf die Perfektionen der Oberfläche. Am Perfekten aber werden wir sterben, denn es findet außerhalb des Menschlichen statt.



gekürzte Fassung, vollständig demnächst in AKZENTE

Kurt Drawert   17.11.2010   

 

 
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