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Ich hielt meinen Schatten für einen andern und grüßte
Roman (2006 als auszugsweiser Vorabdruck)
Kurt Drawert: Romanauszug

1.
( Also,  )

Nun sehe ich in der Toilettenverpachtung sehr wohl eine Zukunftsaufgabe gemäß meiner Hochverschuldung bei der HypoVereinsbank. Sie wissen, sagte ich Feuerbach, der berufsbedingt schwieg, daß ich eine schreibende Persönlichkeit wurde und zu viele Tage und Nächte mit Lyrikstrapazen hingab für finanziell reinweg gar nichts. Doch haben vor allem die Damen der höheren Stände mich so stark bewundert, daß mir ganz blind vor Augen nie so recht klar werden konnte, wie wenig gut eßbar die Ehre ist. O ich hörte wohl ihre zarten, empfindsamen Herzen brechen, aber leider nie das Geräusch klimpernder Münzen. Also auf! auf!, zum Amtsbürgermeister von Okkerwalde und dann ganz persönlich gesprochen. Binder, sehr feiner Mann mit literarischer Bildung und einer Nase, wie ich sie schon einmal bei Diderot gesehen hatte, an einem Montag mit neutralem Wetter außerhalb der eigenen (?) vier Wände. Kein Regen oder Schnee, keine Sonne, aber sehr freier, weiter, tiefblauer Himmel, durchaus geeignet, keinen Anlaß für ein Gedicht herzugeben, komisch, komisch. Binders erste weil schönste Sekretärin Grete von Hering wollte gerade zur Mittagszeit die Abteilungstür schließen und war schon eben dabei, die Gardinen, roter Samt mit gelben sowjetischen (?) Sternen, im Beschwerdezimmer zuzuziehen, da stemmte ich noch schnell meinen Klumpfuß in die Angel und sagte, – bitte! Also, – bitte! sagte ich, mindestens zweimal, vielleicht auch dreimal hintereinander. O was für ein Mitleid sie hatte! Wie blaß sie wurde! Binder kam, sah mich und kotzte in eine eigens dafür auf seinem Schreibtisch stehenden Schale aus Kokosrinde mit Elfenbeinverzierung. – Entschuldigung, sagte er, aber. – Schon klar, sagte ich, ich kotze auch oft, wenn ich mich unverhofft sehe, und mit eben diesen Worten trug ich mich sofort ins Gästebuch ein. – Sehr feine Handschrift, wunderte sich Binder und zeigte sie Grete von Hering, die sich ebenso wunderte und sagte, – sehr schöne Handschrift. Wie von besserem Geblüt! – Oh, sagte ich, danke. Auch ich war einst ein stolzer Poet. Aber na ja, aber nun und überhaupt. Binder bestätigte meine Anwesenheit und daß er sie zur Kenntnis genommen hatte mit einer verneinenden Geste des Kopfes. – Bin bis vor kurzem noch in Bulgarien gewesen, sagte er und zeigte wie zum Beweis auf seine von Sopska-Salat buntgesprenkelte Krawatte, wo ja nicht ja, sondern nein heißt, und nein folglich nicht nein, sondern ja. – Also, sagte nun ich und hielt ihm meinen Geheimbrief vor die einer Raumtemperatur weit unter Null ausgesetzte und dadurch stark vereiste Brille. – Städtischer Sparzwang zugunsten des Sonderausgabenfonds Aktion Ost, sagte er und hauchte sich ein Guckloch ins Glas. – Also, nun auf bulgarisch, sagte ich und schüttelte bejahend den Kopf. Diesen Brief an Sie gerichtet habe ich nicht. Und dann kniete ich im ganzen Restcharme meiner Erscheinung nieder und überreichte das schon recht abgegriffene und mit zahlreichen Fett– und Spuckeflecken beschmutzte Papier, das in diesem wahrlich unschönen Zustand zu überreichen mir aus Gründen einer bereits erfolgten Teilkultivierung peinlich genug war. Aber immerhin trug ich es ja schon einige Zeit so bei mir und nutzte es bei jeder lauernden Gefahr als möglichen Freibrief, beim Fahren eines Autos im betrunkenen Zustand zum Beispiel, was ich sehr gern tat, da ich dann schneller voran kam. Zwei, drei doppelte Whisky, und das Standbein blieb durchgedrückt. Binder also, an Grete von Hering gerichtet, las, was ich wie zum Beweis meiner erwiesenen Unschuld über viele Jahre in meiner untersten Hose gerettet nun und für diesen hauptsächlichen Zweck mitgebracht hatte: Von der Sächsischen Gränz Daß Orte ist unbenant. Hochwohlgebohner Hr. Amtsbürgermeister! Ich schücke ihnen ein Knabe der möchte seinem Staatsratsvorsitzenden getreu dienen Verlangte Er, dieser Knabe ist mir gelegt worden im Märzen 0056 und ich selber ein armer Taglöhner. – Ha! rief Binder dazwischen, Taglöhner sind wir doch alle, was, Grete?! Ich Habe auch selber 10 Kinder und wahrlich genug zu thun. – Ha! rief Binder abermals, und ich ahnte, daß ihm diesen Brief so kurz vor der Mittagspause zu zeigen keine so gute Idee war. Wir haben einschließlich Kindeskinder zusammengerechnet zwanzig, sagte Binder, und genug zu tun haben wir auch! Daß ich mich fortbringe, und seine Mutter hat mir um Die erziehung daß Kind gelegt, aber ich habe sein Mutter nicht erfragen Könen, jetzt habe ich auch nichts gesagt, daß mir der Knabe gelegt ist worden, auf den Landgericht. Ich habe mir gedenckt ich müßte ihm für mein Sohn haben, ich habe ihm Sozialrealistisch Erzogen und jugendgeweiht so gut es eben ginge, und habe ihm Zeit seines Lebens Keinen Schrit weit aus den Haus gelaßen daß Kein Mensch nicht weiß davon wo Er auf erzogen ist worden. Sie derfen ihm schon fragen er kann es aber nicht sagen. – Ha! unterbrach Binder erneut, ich derfe immer noch, was ich will! Ich habe im nur bis vor Okkerwalde geweißt da hat er selber zu ihnen hingehen müßen ich habe zu ihm gesagt wen er einmal ein Soldat ist, kome ich gleich und suche ihm Heim sonst häte ich mich Von mein Hals gebracht Bester Hr. sie derfen ihm gar nicht tragtiren. – Ha! Wir derfe immer noch, was wir wolle, gelt, Grete?! wiederholte Binder jetzt noch etwas schärfer als eben und fuhr fort: Er weiß mein Orte nicht wo ich bin, ich habe im mitten bey der nacht fort geführt er weiß nicht mehr zu Hauß. Ich empfehle mich gehorsamt, Ich mache mein Namen nicht Kundbar den ich Konnte gestraft werden. – Ha! sagte Binder, diesmal nicht mehr, nur eben, ha! Und er hat Kein Kreuzer geld nicht bey ihm weil ich selber nichts habe wen Sie im nicht Kalten so müßen Sie im abschlagen oder in Raufang auf hengen. Binder schloß die Lektüre und ließ die Hand ein wenig kraftlos mit dem Brief zwischen Daumen und Zeigefinger nahe der Zugriffsleiste im Hosenschritt sinken. Dann sah Binder noch einmal auf das Papier und entdeckte den etwas kleiner und mit anderer Handschrift geschriebenen Nachsatz, den er, nach wie vor an seine erste weil schönste Sekretärin gerichtet, ihr und sich selbst (?), oder sich selbst und dann ihr (?), vorlas: Das Kind ist schon beschriftet und wohlweislich rechtens beschnitten dem Schreibname misen sie im selber geben das Kind möchten Sie auf Zihen sein Vater ist gestorben. – Nun, sind wir denn bei den Barbaren, Grete?! sagte Binder, wo jeder jeden einfach so auf die Gosse hinausschmeißt? – Er muß, sagte Grete von Hering, während sie mir einen Becher für die silbergraue Asche des Herrn Amtsbürgermeisters Stück für Stück abgerauchte Zigarre auf den Katzbuckel stellte, den zu machen ich aufs perfekteste imstande war, einen Asylantrag ausfüllen wie jeder andere Fremdkörper auch, und dann versehen mit dem Sonderinteresse, Geschäftsführer einer Pachttoilette in Okkerwalde zu sein. – Genau! sagte Binder. – Ich will! sagte ich und nahm das Schriftstück entgegen. Als ich dann die Fragen, die ich nunmehr fortfolgend zu beantworten hatte, quer überflog, ahnte ich schon, daß ich wohl mein mir verbleibendes Leben dafür werde hingeben müssen. Also,


4.
Hauptsache Loch, dachte ich, egal, wo es hinführt.

Bobo hieß übrigens Barbara.1 Eine zierliche kleine Frau mit zwei winzigen kleinen Kindern. Was für winzige kleine Kinder, dachte ich immer, wenn ich Barbara von meinem Dachbodenfenster über die Straße gehen sah. Hätte ich nicht um die Existenz dieser winzigen kleinen Kinder gewußt, ich hätte sie für gefüllte Einkaufsnetze gehalten, wie sie der kleinen Barbara an den Armen hingen und sie sicher auf schmerzhafte Weise nach unten zerrten, oder an Eimer voller Briketts, weil die wirklich sehr kleinen Kinder sehr oft rabenschwarz aussahen. Wie nur diese zwei winzigen kleinen Kinder den winzigen kleinen Körper der Frau verlassen haben, fragte ich mich, am Dachbodenfenster mit Blick auf Barbaras Einkaufsnetze. Wie schnell es doch ging, daß Bärbel zu mir in meinen Hochstand kam. Ich glaube, es waren die Umstände unter der Erde, die bewirkten, daß jeder zu jeden schnell hoch in den Hochstand oder hinunter in den Unterstand mitging. Igitt, sagte Daumer, ihr Säue. Aber ich denke anders darüber. Wir waren ja früh gealtert und frei. Es regnete rostrote Brühe ins Zimmer, und ich kam von meinem Hochstand herunter und in die städtische Aufwärmhalle hinein, bestellte mir wie üblich Kamille und las in den Todesanzeigen, als mit einem kräftigen Windzug der aufgeregt hin und her pendelnden Schwingtür die kleine, zierliche Frau hereinwehte, so leicht wie eine Feder und so weich wie ein Engel, beides Dinge, die ich so noch nicht kannte. – Ich heiße Bärbel, sagte sie. – Oh, sagte ich. – Bist du jeden Tag hier, um Kamille zu trinken? frage sie. – Ja, sagte ich. Ich habe ein Loch in meiner Decke, und wenn Pisse fällt, muß ich weg. – Interessant, sagte sie. – Ja, sagte ich. Dann gingen wir. Ich zeigte ihr alles. Sie war sehr beeindruckt, und wir standen dann eng aneinander geschmiegt und schauten durch das Loch meiner Decke in den weiten, an diesem Abend sehr klaren Himmel. – Was für eine schöne Wohnung, sagte sie. – Ja, sagte ich. – Was für ein herrlicher Ausblick, sagte sie. – Ja, sagte ich. – Was für ein schönes großes Loch, sagte sie. – Wohl, sagte ich. – Willst du? fragte sie. – Was? fragte ich. – Mein Loch sehn? fragte sie. – Welches? fragte ich. Diese Frage aber mußte sie enttäuscht haben, und sie wandte sich ab. Diese Frauen sind doch wahrlich komplizierte weibliche Wesen. Außerdem, was sollte ich mit einem Loch anfangen, in dem man die Sterne nicht sieht. So ohne Wissen war ich nun also immer noch, und Barbara war auch bald nicht mehr traurig gekränkt von meiner schüchternen Weise und kam wieder und wieder, es war eine sehr schöne Regelmäßigkeit, wie die wilder Katzen, wenn sie zum Futterplatz kommen. Mit einer nicht genug zu bewundernden Geduld hielt mir Babsi immer aufs neue ihren niedlichen Topf hin, bis ich Schafskopf dann endlich soweit war und damit umzugehen wußte. Es war reine Sexualerziehung, sozialrealistische Aufklärungsarbeit, Biologieunterricht siebte Klasse: DER MENSCH. Wie stolz das klingen sollte. Menschen, ich hatte euch lieb, seid wachsam! Irgendwo immer diese Zeilen gelesen und dann wachsam weitergegangen und wachsam angekommen und wachsam eingeschlafen oder wachsam Bärbels Möse geleckt. Alte Sau!, sagte Daumer nochmals. Ja, aber wir waren ja alle Säue, sagte ich Feuerbach, was sollten wir sonst sein? Das Gebiet war ja abgeriegelt, da fiel man doch wie von selbst ineinander. Das übrigens war mir auch eine Erklärung für Bärbels Zustand mit diesen zwei wirklich sehr kleinen Kindern am Handgelenk rechts und am Handgelenk links, die jeder, der es nicht besser wußte, für Einkaufsnetze hielt oder für Eimer voller Briketts. Natürlich, am Anfang hatte ich da gar keine Ahnung. Barbara kam, zeigte mir, was sie hatte, bis eine Therapiestunde um war und sie sich ihre Schuhe wieder auf ihre klitzekleinen Beinchen streifte und ging, Tag für Tag und Woche für Woche, bis ich achtundzwanzig wurde und gesellschaftlich anerkannt volljährig war. Wie viel Geduld von ihr ausging, es muß Liebe gewesen sein. Bobo, was habe ich dir angetan alle diese Jahre hindurch! Da stand sie dann plötzlich mit ihren vollen Einkaufstaschen vor meinem Zelleneingang, und ich wußte sofort, daß heute ein besonderer Tag war und daß von diesem Tag an alles anders sein würde als bisher. – Das sind die Zwillinge Tutti und Tutti, sagte Bobo. – Wo kommen sie her? fragte ich. – Aus meinem Körper, sagte Bobo mit einem obszön in die Länge gezogenen Lachen, wie ich es noch nie an ihr beobachtet hatte. Ja, es war, als wenn Tutti und Tutti in diesem Lachen geboren worden sind und aus dem obszön verzogenen Mund kamen anstatt richtigerweise aus dem Analgang. Wir jedenfalls kamen alle irgendwann einmal hinten heraus, wenn überhaupt. Ich kann mich zum Beispiel gar nicht erinnern. Mutter machte einen Schiß in die Büsche, und das muß ich gewesen sein, vorausbestimmt, ein Proletarier zu werden, ein Floh oder gar nichts. Und wie gern wäre ich eine Mundgeburt mit fertiger Sprache gewesen. Ich hatte also Babsis zierlichen Leib aufs schändlichste unterschätzt und sagte: – Wie schön, daß Ihr da seid. Kommt nur herein und legt die Briketts ab. Sie hatten alle Briketts in den Armen, weil es Winter war und Bärbels Behausung undichte Fenster hatte und der schreckliche Ostwind bis unters Strohlager pfiff. Tutti und Tutti hatten je ein Brikett im Arm, das sie artig in eine Ecke neben meiner Toilettentür legten, und Barbara hatte sieben Briketts im Arm, die sie neben die Briketts von Tutti und Tutti legte, was eine schöne schwarze Reihe ergab. – Es gibt heute Briketts in der Stadt, da sind wir gleich los, sagte Bärbel. – Du hast einen Ofen? fragte ich. – Nein, sagte sie. Aber das macht nichts. Und in diesem Augenblick sah ich in Bobo die unendlich tapfere Frau, die zwei wirklich süße Tuttis auf die Welt gebracht hatte und trotzdem noch zwanzig Stunden am Tag berufstätig war, um in der kurzen, kurzen Freizeit mir auch noch in pädagogischer Absicht ihre Pflaume zu borgen. Ja, es war ein Arbeiter- und Frauenstaat, und wir queren ihn spruch- und sprachweise durch. Klar war mir allerdings, daß da etwas vorgefallen sein mußte mit Barbaras wirklich zierlichen Körper, und auch, daß es demnach so etwas wie einen Mann gab, der das anzurichten imstande war. Richtig. Er hieß Tutti und war Grenzpostbeamter. Einer von denen, die meine Posturnen an Bobo durchsuchten, ob da auch nichts subversiv Urinöses im Satz schwimmt. Doch halt. Ich verfitze mich. Bobo im Himmelreich oben, ich im siebten Schuldbezirk unten, Posturne nach oben, Päckchen nach unten, aber Barbara mit geöffneten Beinen auf meinem Schoß. Die Vergangenheit ist etwas Gleichzeitiges, vielleicht deshalb. Es gab Tage, an denen Tutti früher nach Hause kam und auf Bobo solange mit dem ganzen Zorn seiner politischen Klasse einschlug, bis diese wirklich sehr zierliche Frau schwarz, rot und goldgelb war den ganzen Körper entlang abwärts. Furchtbarer Anblick. Ich machte kalte Umschläge und schrieb Beschwerdebriefe an Stalin. Später erfuhr ich, daß er schon tot war und gar nichts mehr lesen konnte. Tutti und Tutti hielten sich auf dem Korridor auf und spielten mit den Briketts Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. Ich habe niemals mehr so begabte und bis zum Autismus radikal auf sich selbst konzentrierte Wirtelechsen gesehen. Wie sonst auch hätten wir in Anbetracht dieser Wesen Mann und Frau spielen können, Verliebter und Verliebte, Königin und Grubenarbeiter, Katze und Wurm. Bärbel weinte und weinte. Sie habe diesen stämmigen Grenzpostbeamten mit einem Hang zur Hypochondrie und unabgeschlossener Berufsausbildung mit Abitur doch auch nur wegen der auf Verehelichung gewährten Rabatte genommen, wir kannten das vielfach von vielen, diese verlockenden Sonderangebote und ihre verheerenden Folgen. Es war eine Art Staatsfalle und Zeugungstrick. Und kaum, daß ich ihr glaubte, hing ich auch schon im Zentrum des Schicksals von Schuld und Verschuldung, Treuebruch und Eifersuchtswahn, gefährdet auf Schritt und Tritt. Wohin ich auch ging, überall lauerte Tutti mit einem Beil in der Hand in den Büschen und wartete auf die Dunkelheit wie auf einen Komplizen für die schrecklichste aller Taten, den Totschlag. Was heißt das philosophisch betrachtet: daß es uns durchaus gegeben haben mußte als huschende, mit Titten und Schwanz hochausgestattete Subjekte. Ich sage das mit diesem Nachdruck, sagte ich Feuerbach, weil doch immer wieder behauptet wird, wir hätten gar nicht Weihnachten gefeiert aus Angst vor der Rute. Aber vielleicht war ja gerade das unsere Freiheit, frei von Freiheit zu sein und bequem in der Erstarrung zu leben. Wir ließen uns einfach nach hinten fallen, wenn wir es bis zum Hals hinauf satt gehabt haben, und da wir im Abgrund schon waren, passierte auch nichts. Aber hier und jetzt ist mir wirklich sehr schwindelig, und mein ermüdetes Haupt bittet um Ruhe. Doch bin ich nun in diese Ruhelosigkeit gekommen, weil ich in diese Welt gekommen bin, und ich will doch sehr dankbar sein und mich dankbar erweisen, wenn Sie mir nur glauben möchten, daß es ein Leben vor dem Leben und daß es eine Geschichte vor der Geschichte gegeben hat. Und Sie, sagte ich Feuerbach, werden es mir noch berichten, wessen Mutter verlorener Sohn ich bin. Also weiter, die Sprache abwärts. Erstens: wir haben uns als Subjekte gelesen. Zweitens: das Land hatte uns verwunschen und verzaubert zu Holz. Drittens: wir konspirierten, wo immer wir konnten. War das nichts? – Ist das nichts? fragte ich die scheu auf meinen Oberschenkeln ruhende, schwarz, rot und goldgelb geprügelte Bobo. Wir hatten uns soviel zu sagen und ein Verständnis füreinander, wie ich es später nicht mehr erlebte. Doch Tutti schlug solange mit dem Beil gegen die Hauswand, bis ich wirklich mürbe geworden sagte: – Babsi, nimm jetzt deine Kinder und deine Kohlen und geh! Die Wirkung dieser ein Ende der Schambeziehung ankündigenden Bemerkung war unvorhersehbar destruktiv. Denn sie ging nicht in ihr Lager zu Tutti, sondern geradewegs in die städtische Aufwärmhalle, wo es einen mit Gas betriebenen Heizofen gab, durch dessen Tür sie ihren kleinen, hübschen Echsenkopf steckte, um sich nun selber die letzte Stunde zu schenken. Selbstauslöschungen aber waren höchst unbeliebt, weil dann am nächsten Tag eine Arbeitskraft fehlte zum einen, zum anderen, weil es keinen objektiven Grund dafür gab, sich freien Willens aus dem Sklavenglück zu entfernen und die herrliche Unterwelt indirekt damit anzuklagen. Hatten wir denn nicht tatsächlich genügend Wasser und Brot? Fehlte irgendwem etwas? Und vor Liebesspielen waren die Warnungen politisch erfolgt, hier war keiner mehr haftbar zu machen. Zum Beispiel erinnere ich mich an das relativ späte Auftauchen von Liebeslyrik im Literaturprozeß meiner Zone. Zu Recht. Denn durfte es ein öffentliches Anliegen sein zu erfahren, wer wen und wie ins Verderben vögelt? Aber wir waren nun einmal nicht ganz alleine für uns unter der Erde, und immer, wenn eine Schachtsperre aufging, kam schädlicher Einfluß herunter wie rieselnder Mörtel aus den Fugen der Eisenverschalung. Ich jedenfalls das erste Ichgedicht in einer nur nachts zu bekommenden Sammlung handschriftlich verfaßter Lyrik gelesen, und sofort auf die Seite der Verbildeten gewechselt und fortan ein Schädling. Auch daran nun, daß Bärbel so jäh Schluß machen wollte, sollte ich schuld gewesen sein, und der Grenzpostbeamte schlug nur noch heftiger mit dem Beil auf meine in äußerster Eile errichtete Barrikade ein, die dem zornigen Ansturm nicht mehr länger standhalten konnte. Ich weiß nicht mehr, wie das dann ausging, ob er mir nun tatsächlich den Kopf abschlug und mich in vier Teile zerlegte, oder ob er nur drohte, es zu tun, es dann aber doch nicht aus einer Reihe kühler Überlegungen heraus den eigenen Vorteil betreffend vermochte. Ich erinnere mich nur, wie ich eines Tages von der psychiatrischen Nachtstation einen Anruf bekam. Oder war es ein Telegramm, zugestellt von einem bis in meinen Dachstuhl heraufgekommenen Grenzpostbeamten keuchender- und bis aufs Unterhemd vollgeschwitzterweise mit den wenigen, aber durchaus sehr ernsten Worten: „Chronifizierte Suizidgefährdung. Schuldobjekt muß inaugurierter Bestandteil der zu treffenden medizinischen Maßnahmen sein. Treffpunkt um Mitternacht am alten Schlachthof.“ Irgend etwas war seltsam an dieser Nachricht, gewiß, aber ich konnte den Fehler nicht finden. Wir wurden ja oft, ob nun am Tage oder zur Nacht, irgendwohin bestellt, einmal, weil man angeblich einen Zweier im Lotto gewonnen hatte, ein anderes Mal, weil es Kalk, Lehm und Sand gab. In den meisten Fällen hatten diese schriftlich meistens gar nicht vorliegenden, sondern auf mündlichem Überlieferungswege mehr geflüsterten als gesprochenen Vorladungen nichts zu bedeuten. Der Zweier im Lotto war in Wahrheit nur ein wertlos gebliebener Einer, und anstelle von Kalk, Lehm und Sand standen ein paar ideologisch formatierte Proletarier am Drahtzaun und hielten ein Schild hoch: „Hinter diesem Drahtzaun gibt es ab morgen Kalk, Lehm und Sand“ oder so ähnlich. Dennoch mußte man hin, schon, um sich später von seinen Enkelkindern nicht vorwerfen lassen zu müssen, einen Zweier im Lotto oder Lehm, Kalk und Sand beispielsweise aus einem notorischen Mangel an Optimismus heraus verpaßt zu haben. Und in diesem Bärbel betreffenden Fall kamen einige sehr prinzipielle Anstandsaspekte hinzu: niemals einen Menschen zu verraten, wenn man ihn schon einmal auf private Weise verwöhnt hat und sich geborgen zu fühlen Grund gab. Eine Sau sein, vielleicht, aber ein Schwein sein, nein. Das hieß ganz klar: der Staat endet, wo die Liebe beginnt. Tutti konnte mit dem Beil zwischen Bobo und mir sein, aber nicht Walter Ulbricht.2 Das waren Axiome, menschliche Fertigteile eines aufgeklärten und um Würde bemühten Ostblockbewußtseins, in jahrzehntelanger Gedankenarbeit herausgebildet und Erdschicht für Erdschicht soziologisch abgesickert und demoskopisch belegt. Und was tat Babsi? Sie lockte mich nachts in den Schlachthof, um auszubeuten, daß ich ihr ergeben und psychosexuell abhängig war. – Du mußt wissen, sagte sie mit dünner, dem Zerreißen naher Stimme zu mir, der zitternd, ängstlich und aufs äußerste irritiert neben ihr saß, die Automaschine immer wieder hochkurbelnd, um etwas Heizungsluft gegen die Kälte zu haben, daß morgen früh vierzehn Badewannen aus Bonn gebracht werden. Superstahlware mit Zierleistenkante. Vermutlich zwischen neun und neun Uhr und dreißig. Hierher, zum Schlachthof, damit die Hauptbevölkerung in den Urnenblöcken davon keinen Wind kriegt und neidisch die vierzehn Beamten absticht, die drei Jahrzehnte auf diese Superstahlwannen mit Zierleistenkante gewartet haben wie Geisteskranke auf ihre Entlassung. – Bobo, du bist beim Geheimbund? fuhr es entsetzt aus mir heraus. Und ich habe dir mein Genital angeboten. Dann ging alles sehr schnell. Zwei männliche Geheimbundassistenten zerrten mich aus Barbaras Fahrzeugmaschine, verbanden mir Augen und Ohren und führten mich ab. Wir gingen mehrere Tage immer geradeaus, wahrscheinlich bis zur Ahlbecker Strandpromenade nahe der polnischen Grenze. Bellende Hunde hörte ich keine, und Schüsse durch die Ostseeluft pfeifen, hörte ich auch nicht. Ich will also nichts übertreiben. Dann wurde ich Folgendes gefragt: – Geboren in Leiden?3 – Ja. – Sind Sie eine Darmgeburt? – Naturgemäß. – Leiden Sie unter mentalem Negativismus? – Bis zur Erschöpfung. – Würden Sie sich für den Frieden sterilisieren lassen? – Nicht nötig. – Kennen Sie eine gewisse Madame B. im kapitalistischen Ausland? Aha, sehr aufschlußreich, schoß es mir hell durch meinen meistens doch eher vernebelten Kopf. Barbara, Bärbel und Babsi, Bobo, jede ist ein Geheimnis für sich. Nicht, daß es sich unbedingt um vier durch autonome Hautsysteme voneinander getrennte Tierpersönlichkeiten4 gehandelt haben mußte. Es kann durchaus, und ich nehme es an, da wir alle zigfach gespaltene Schuld- und Schundopfer waren, ein- und dieselbe an verschiedenen Orten verschieden reagierende Boboliebste gewesen sein. Bobo eins auf meinen Schenkeln vom Schamakt eingeschläfert und schwer versunken in tiefe von Liebe handelnde Träume, Bobo zwei beim Geheimbund Auskunft gebend über die Größe meiner Geschlechtsmuskeln und anderer Halbfertigkeiten. Bobo drei klagend und weinend darüber. Bobo vier mit mir beim Bier in zynischer Weise. Wer will und darf darüber richten? Ich? Sie? Und doch, sagte ich Feuerbach, will ich auf einem sauberen Boden stehen, als Dreck der Geschichte, mit Sprache vollgesudelt, ach wäre ich doch besser gar nicht zu Bewußtsein gekommen und blind verborgen in einem Winkel zum Sterben geblieben. Doch will ich auf einem kleinen Stück sauberen Boden stehen, denn in mir ist eine Würde im Herzen wie eine letzte bare Münze in einem leeren Portemonnaie. Und mit dieser Münze wird Barbara nicht ihre Schulden bezahlen, dafür bürge ich und borge mir Kraft. – Babsi, wie tief du mich getroffen, wie sehr du mich enttäuschet hast!, sagte ich. Sie weinte sich ihre roten Kulleraugen blau und zeigte immer wieder mit Daumen und Zeigefinger etwa fünfzehn Zentimeter Luftlinie an, und ich wußte, daß sie ihre Söhne Tutti und Tutti damit meinte. Dann war es sehr lange vollkommen dunkel; es ist soviel Dunkelheit geschehen in meiner Existenzzeit, daß ich gar nicht weiß, was vorgefallen ist jenseits der Dunkelheit; aber vielleicht ist auch nichts vorgefallen jenseits, und die Einbildung zu sein und die Gewißheit nicht zu sein oder die Einbildung von Gewißheit oder aber eben gar nichts, keine Geschichte, kein Leben und kein Tod, nur Filme und Bücher und Bilder von Geschichte von Leben und Tod. Ich muß zur Ruhe finden, ich muß aufhören können, darüber nachzudenken. Sie könnten mich freigeben, sagte ich Feuerbach, Sie könnten mich entlassen. Aber Sie geben mich nicht frei. Sie entlassen mich nicht. Ich nehme an, es ist Ihre Art, mich zu bestrafen. Nicht mit einer tatsächlichen Strafe, die eine in Wahrheit geringe Strafe nur wäre, sondern mit Gegenwart, die eine Sprech- und Schreibgegenwart geworden ist und die mich ganz systematisch zerstört. Doch bin ich nicht Kreatur genug, um frei von Verpflichtung zu sein? fragte ich Feuerbach. Dieser Gedanke kam mir zuerst auf der Ahlbecker Strandpromenade. Der Geheimbund wollte mir drohen, und ich mußte lachen, weil ich schon tot war und damit für jede Drohung immun. Es war wirklich ihr größtes aller Probleme, daß sie uns ab einer bestimmten Erniedrigungsintensität nicht mehr erniedrigen konnten, ab einer bestimmten Enteignungsgrenze nicht mehr enteignen konnten, ab einer bestimmten Beobachtungshäufigkeit nicht mehr beobachten konnten. Die Aberkennungen waren gewiß vielfältig, aber erschöpflich. Die Erniedrigungen und Enteignungen, sie waren von diesem einen entscheidenden Punkt der Erschöpflichkeit an, den zu überschreiten zu einer Ohnmacht der Mächtigen führte, nicht mehr zu vollziehen, so daß auch die auf weitere Erniedrigungen und Enteignungen hinauslaufenden Drohungen wirkungslos wurden und der gesamte Sprachschatz der Drohungen nur noch spannungslos schlaffe Wortgebilde gewesen sind, so abstrakt wie negative Zahlen und so bedeutungslos wie fallender Regen auf einen Friedhof von unten betrachtet. Ich lag in meiner durchaus warmen und von hübschen Würmern durchzogenen Erde und dachte, was geht mich der Regen auf meinem Grabstein an. Diese Frage hat mich, auch wenn ich lange schon nicht mehr an diesem fernen und verwunschenen Ort bin, nie wieder losgelassen, und eine Antwort darauf habe ich nicht und werde ich nicht haben, befürchte oder hoffe ich, je nachdem, wie ich das sehe, wie traurig oder nichttraurig ich bin. Ich glaube, gehört zu haben, daß Babsi weinte, als sie nun mit ansehen mußte, wie ausgeliefert ich war und mit verbundenen Augen meinem Schicksalswink folgte. Strafe muß sein, dachte ich. Gewissensstrafe. Wenn auch vor niemanden mit einem Gewissen, aber vor dem Gewissen höchstselbst. Hatte dieses Ereignis Einfluß auf meine Persönlichkeitsspaltung? Ja. Nein. Dann wurde ich in eine Ausnüchterungszelle zwei Schachtgänge tiefer geführt. Und wen traf ich? Ich habe es vergessen. Aber ich traf jemanden, das weiß ich so klar, als wäre es eben erst geschehen. Existenzen mit einem Auge merkt man sich besonders gut, das ist ihr Vorteil. Keine Ahnung, wo er das andere Auge verloren hatte, wie und wodurch. Er sprach nicht gerade gerne und viel. Ich glaube, seine Geschichte war nicht sehr aufregend. Gut, meine Geschichte war vielleicht auch nicht sehr aufregend, aber ich hatte doch etwas daraus gemacht, soll heißen, hinzugedichtet, und dann nicht mehr gewußt, was Erfindung und was ganz real Traum gewesen ist. Das ist doch ein taugliches Verfahren. Oh, wenn wir keine Erfinder gewesen wären, was hätte es jemals zu berichten gegeben? Denn ich bin mir wirklich nicht sicher, ob Bärbel tatsächlich in meiner Dachstuhlbehausung von hinten an mich geschmiegt mit mir durch das Loch in der Decke den vollen Mond angeschaut hat oder nicht. Das Bild, das ich von dieser Szene im Kopf behalten und in diese Zeit hinein mitgebracht habe, ist mir verdächtig romantisch: tiefblauer Himmel, hellgelber Mond, Babsi mit einer Elfenbeinhaut, und selbst ich, ohne Verstümmelungen, ohne Narben, auf zwei festen Beinen und mit einer sympathisch leichten Versteifung in der Mitte des Körpers. Gab es das? Es wäre wohl wunderbar gewesen, aber ich bleibe skeptisch. (...)

Daß ich immer wieder Bobo mit Grete von Hering verwechsele, sowie Barbara mit Babsi und Bärbel, kommt gelegentlich oft vor. Entschuldigung dafür. Auch werde ich für die vielen Personen, die meine mit Urin unterlegte Existenzspur kreuzten, nur den Namen Tutti noch wissen. Das hängt mit einer Verordnung meiner Regierung aus dem Jahre xx61 zusammen, daß wir alle Brüder und Schwestern sind und uns im Einheitsnamen vollständig finden.
Großherzog der Deutschen D. Republik von (?) bis (?)
Leiden, Ort in mathematischer Mitte zwischen Leipzig und Dresden; hier geboren und zu einer Erscheinung geworden bis zum Einsturz der Erdschicht über uns und die andern dortselbst. (An eine richtige Tatsachenzeit kann ich mich nicht gut erinnern, sagte ich Feuerbach, außer an meine vielen Geschlechtsaktversuche (im Jahresdurchschnitt 3650 (also täglich rund zehn))).
Sie erinnern sich an Kapitel 2.) und wissen, daß Bobo eine Wirtelechse ist? fragte ich Feuerbach.

Der Roman erschien im Herbst 2008 bei C.H. Beck. Das Kapitel wurde vor Er­schei­nen des Romans an dieser Stelle wiedergegeben.
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Kurt Drawert   22.02.2006