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Marc Oliver Ruehle

BORGWARD ISABELLA

Reisen machen Reisen, beginnen Reisen.

1

WIR FAHREN ZUM MEER VOR. Kommen aus schattigem Hinterland und beginnen im staubigen Fotoalbum zu blättern. Ich zeige und sage, schau Groß­mutter, dort ist das Meer und stoße meinen Zeigefinger an der Windschutzscheibe. Ich spreche, als wüsste sie nicht, dass es so etwas gibt. Mein Finger­abdruck liegt auf der Abendsonne. Groß­mutter kommt zu sich und sagt, ich erkenne das Blau und wie schnell die Kilometer vergehen, so wie die Jahre, denke ich. Wir biegen auf eine in Kurven gelegte Küstenstraße ein, die Urlaubs­idyllen miteinander ver­bindet. Dabei sehe ich im Rückspiegel ihre Bäckchen rosa leuchten. Schon die Landschaft haucht uns Leben ein, spreche ich vor mich hin und führe meine Augen zurück auf die Straße und überfahre die Mittel­streifen, während Groß­mutters trüber Blick wieder hinter ihren Lidern und aus meinem Rückspiegel verschwindet. Die Blume in Großmutters grauem Haar staucht gegen das Fenster. Ich fühle regelrecht den Druck der Scheibe auf die Blüten­blätter und denke, wie hatte Vater uns den Ausflug versprechen können? Von Anfang an! Sag mir wie? Vater auf dem Beifahrer­sitz, schweigt, überlegt, schließt Frieden und zwei Hemdknöpfe zum Hals hin. Weißer Stoff. Beginne deine Fragen zu stellen, forderte Vater vor der Abreise. Er kurbelt mit seiner starken Hand das Fenster in die Tür. Er spricht ein Wort nach draußen, das sich schön anhört und auf der Rückbank fliegt nun Bruder der Fahrtwind durch die Locken. Vaters Stimme drinnen mischt sich mit unserem Motoren­geräusch. Ich vergesse sein Wort und Vater und habe nur noch einen Klang im Ohr. Die silberne Borgward Isabella braust in unmittelbarer Nähe des Meeresspiegels über den schwarzen Belag und verwischt die aufgereihten Pinien am Straßen­rand zu hellgrünen Schleiern, hinter denen Mutter ihr Gesicht wahren will. Und Bruder, nachdem ich mich umdrehe, wendet sich weg und lässt meinen Blick leer zurück.


2

BRUDER SIEHT MICH NICHT. Er sucht die Strecke ab, den son­nen­licht­spie­geln­den Asphalt, nach Reifenspuren, nach Hindernissen im Album und möglichen Richtungen auf den folgenden Seiten. Bruder hat die Rückreise im Auge und die Sonnen­brille auf der Stirn, den linken Arm auf Mutters Schoß. Dröselt den Stammbaum über den Schlag­löchern auf und erfindet rück­blickend Kinder, die uns vorwärts begegnen, von vorn fantasiert und denkt er, Tochter und Sohn begegnen ihm am Ende. Bruder lässt die Borgward Isabella mit seinen Worten eine Masche in Mutters hübsches Kleid fahren. Mutter wischt die Träne vom Fahrtwind über ihre Wange und sagt, ich kenne diese Stelle, als sei es gestern gewesen. Indem wir eine zierliche Ortschaft mit Hafen durchqueren, sagt sie das in beherrsch­tem Ton. Unvergessen nennt Mutter das Wäldchen hinter der Friedhofs­mauer, die wir im Augen­winkel erkennen können und wir kreuzen ihr Postkartenmotiv mit Kirchturm und stehen hüfthoch in ihren Beschrei­bungen. Sehen die Eingangs­halle des Provinz­bahnhofs, in der Vater wartet, der Vater, der Beifahrer, der mit dem Fenster den Mittelmeerabend nach draußen kurbelt und Bruders wehendes Haar beruhigt, schweigt und auf die Straßencafés starrt, als Mutter das Zugabteil verlässt und das Gefühl nicht erwarten kann. Hören Mutter zu, wie sie hier und nicht allein war. Hören wie die Seiten des Fotoalbums beim Umschlagen an ihren Brüsten schaben. Ich sehe die Sommernacht an, die ich mir vorstelle, die schwüle Nacht aus der ich kam und frage Vater mit Mutters Worten, hast du das gewollt und Großmutter greift mit Mutters Hand in Vaters Sätze, während er neue Ansichten zu unseren Erinnerungsfotos klebt. Die Borgward Isabella rauscht durch das Ortsende und aus dem Fotoalbum, das Mutter an ihr Herz presst. So, dass sie mit ihrem Ellenbogen Bruder in die Seite sticht und er mich fragt, du, wann werden wir wohl endlich angekommen sein?


3

UNSERE ISABELLA IST AN DER ZEIT. Sie ist das Gefährt dafür, was wir uns angetan haben und wir fahren hindurch. Ich denke an die Masche, die Familien sich einlaufen und pflegen. Zum Verschwei­gen, denke ich, sind Fotoalben angelegt. Hat Großmutter vergessen zu fotografieren, als Vater sich in Mutters Motiv zwängte? Welches Porträt war nie gewollt? Ich sehe in der Wind­schutzs­cheibe laufende Bilder flimmern. Mit Großmutter, wie sie einen Apfelkuchen bäckt, als Reiseproviant. Sie bringt Teig in ihre Form. Eine runde Sache. Das Blech ist heiß, aber sie kennt die Griffe. Es sind die Großvaters und sein Blech ist ein Gewehr und jeder Schuss riecht nach Schuld statt nach Mandel und ich bedränge das Gewissen mit unserer Borgward und wenn Vater die Tür öffnete, würde sich der silberne Lack daran aufreiben. Was, wenn er nie geschossen hat? Mutter erinnert sich besser als ich an seine Narben, die Striche von Streifschüssen, doch was wäre von der Familien­masche verändert worden, wenn wir darüber geredet hätten? Als ob das Fingerspitzengefühl zurückkommt, nachdem man seine Hände lange im Schnee aufgehalten hat, so, als hätte ich mich darin aufbewahrt, fühle ich mich und löse instinktiv den Zigarettenanzünder aus. Er schnippt zurück und ich wünsche mir das Vater mit diesem Klicken vor seinen Gedanken erschrickt. Für alle anderen war es eine Anstrengung, das Geräusch nicht zu beachten, außer für Bruder, der seinen Kopf in Mutters Schoß zum Schlaf legt, zu dem Großmutter ihn gedrängelt hat, mit falschen Geschichten aus Großvaters Kriegszeit und der Stunde null in Großmutters Ofen. Nur Mutter sah hinein. Ganz allein. Ich könnte danach fragen. Nach Munition und Verstecken, nach Tagebüchern, Protokollen, Partei­büchern, Akten. Solange ich am Steuer sitze, bestimme ich das Tempo meiner Antworten. Die Richtung, die meine Herkunft einschlägt. Die Strecke, die Großmutter mit Worten legt, wie eine große Straße bei Rommé. Während Großvater am Tisch sitzt und seinen Zigarren­stummel an die glühenden Anzünddrähte drückt und mit mir am nächsten Morgen Fallobst sammeln fährt, für Großmutters Kuchen und für Mutters und unser Schweigen, wenn wir alle den Mund vollhaben und es uns schmeckt, was wir kauen und herunterschlucken, die Schlagsahne auf den Stücken, die Großmutter noch mit Vanillin­zucker verfeinert. Damit ihr Rezept immer aufgeht, wie die Hefe und der Straßenbelag.


4

ICH RIECHE UND ATME ZUGLEICH. Großvater, denke ich, verhält sich irgendwo auf einer Terrasse am Meer auffäl­lig altmodisch und beugt sich mit seinem süßlichen Pfeifen­tabak­rauch über eine Brüstung in den Spätsommer. Zufrieden wie immer, sagt Vater und auch Mutter und sie denkt sich sein weiches, maß­geschnei­dertes Sakko zum Frieden dazu. Aus Finnland, sagt Großmutter, und ist ganz da, ist wach, während ich mit der Fahrbahn verschwimme, sie hat die Erinnerungen gebündelt und geschnürt, den Sitzplatz mit Vater getauscht. Wollte vor, beim Enkel sitzen und geradeaus sehen. Greift vor, in dem sie von Großvater erzählt und ihn vertuscht und Mutter verneint und unser Verschweigen anzählt. Großmutter ergreift Großvaters Worte und fällt Mutter ins Leben. Greift mir ins Lenkrad und dreht die Borgward Isabella im Kreis und stutzt die Geschichte, verkürzt den Weg, auf dem wir uns irren und uns damit ablenken, im Fami­lien­album weiter nach vorn zu blättern. Wir pressen die Augen zusammen und ich traue mich nicht nach mir zu fragen und muss es wie alle anderen machen, die Angst haben, sich zu verraten, oder wie ich, Großmutter zu erschrecken und Mutter. Da unterbricht sie mich und sagt, ich kann es nicht erwarten, ihn wieder­zusehen. Mutter schwärmt und fühlt, dass Großmutter sie nicht hört und sich selbst miss­verstanden weiß. Beide, bedenke ich, aber schweige ich, bete ich in die milde Luft der Ausflugsroute und der Bruder auf der Rückbank zählt die Schiffe, schätzt die Seemeilen, überschlägt die Jahre, ermisst die Erwartung die wir hegen und versucht zu begreifen, dass wir gemeinsam zur blauen Stunde hier sind. Bruder kneift Vater in den Handrücken und Vater ist echt und sitzt neben Mutter und sieht mich an und ich bemerke, wie ich mich von zwei Fremden im Rückspiegel überwachen lasse. Im Seitenspiegel rollt sich unser Rückweg zu einem Rollfeld aus und die langsame Nacht vor uns ab. Damit sie in Rottönen am Horizont abheben kann, mimt sie eine Bilderbuch­dämmerung und ich sehe, wie Großmutters Kopf mit Großvaters Wahrheit darin zur Seite kippt. Ich konzentriere mich, unsere Fahrt über die Steilküste zu Großvater fortzusetzen. Manchmal gehen meine Arme mit mir durch und die Pedale übertragen das Zittern meiner Beine.


5

DANK DES FERNLICHTS KOMMEN WIR WEITER. Großvater weiß, wir nähern uns unaufhaltsam und tropft seine Glut auf die Porzellanschale mit den blauen Schwertern, erinnert sich an Mutter auf dem Schoß und Mutter wippt mit zwei Zöpfen hin und her und lacht mit Großvaters Gesichts­zügen durch die Windschutz­scheibe und Großvater berechnet ein Tragwerk in Gedanken und auf seinem Schoß sitzt Mutter als Großvater die Borgward Isabella aus der Garage rollt, an seinen Rosenstöcken im Vorgarten entlang und Mutter breitet die Ärmchen zu Tragflächen aus und hebt mit aufge­blasenen Bäckchen ab. Ein bisschen Spucke zerstäubt am Autoglas. Ich fliege für einige Kilometer mit meiner ausgestreckten Hand hinterher, Jahre hinterher, lasse meinen Flügel dann an der Fahrertür runterhängen, spüre, wie das Metall abkühlt und die Scheibenkante in meine Haut drückt. Die Nacht duftet nach Obstbäumen und Meersalz. Äpfel und Kirschen ziehen Äste zu Vater und Großmutter zieht Vaters gewöhntes Schweigen über ihre Lippen und wir denken, sie ist weggenickt. Wir reden nicht über den kalten Metalllauf und den handwarmen Griff, als Großmutter das Kuchenblech auf die Zwiebel­muster­fliesen fällt. Großvater Hand in Hand mit Mutter. Ihre Wangen verweint und von mir keine Rede, als durch das Schiebedach die Sterne fallen und die Möglichkeiten sich so vergangen anfühlen, weil wir uns damit abgeben, in über­triebene Geschwin­digkeiten zu fliehen. Wir fliehen und Großmutter stützt sich an den Ziffern der Tachoanzeige und Bruder spult seinen Walkman zum Anfang zurück. Manchmal prallt das Fernlicht auf Orts­schilder und Baumrinde, manchmal schließe ich Sekunden in Träume und mache Träume aus Bruders Liedern, die er in seinem Walkman verstaut hat. Manchmal schieße ich Sekunden gegen die Leitplanken vor dem Meer. Dann meldet sich Bruder zu Wort mit Mutters Sätzen. Das sind keine Liedzeilen. Er ist enttäuscht und wir schauen betreten und überholen eine langsamere Frage, indem wir auf die Gegengerade geraten und ich sage, entschuldigt mich, ihr habt mich verschwiegen und Mutter verweist auf Nebensätze, in denen sich Großvater vor uns versteckt, mit dem Kriegs­souvenir, der warme Griff, die Streifschüsse aus Nebensätzen in denen Großvater sich versteckt hält und vor denen wir in diese Stundenkilometer flüchten.


6

WIR HALTEN SEKUNDENSCHLAF IM KINDERZIMMER. Machen Rast vor der Ele­fanten­tapete, eignen uns Leer­stellen an, naschen Proviant, trinken von unserer Zeit. Vater nimmt mich auf den Arm, in seinen Augen sehe ich meine Pupillen, von Mutter vererbt, und meine Ahnung ist die eines Kindes. Heute, denke, fühle, erkenne ich seine Hände, wenn ich sie benutze. Wir parken mit dem Hinterreifen auf Bruders Teddy und unter der Motorhaube rauscht das Meer und Großmutter fragt, was ist das? Ich mache einen neuen Fingerabdruck auf die Nacht hinter der Scheibe und sage, Großmutter, das ist der Himmel und zu dessen Füßen wartet Großvater knietief im Sand. Sie flüstert in den Ledersitz und fragt, glaubst du das? Mutter, Bruder und Vater lehnen am Kofferraum und ich sehe drei Schemen im Rückspiegel wanken und suche vorsichtshalber auf der Landkarte nach weiteren Zeugen. Mutter steigt ein und schlüpft in ein schwarzes Kleid aus Großmutters Stoff und Bruder verschwindet in Vaters Schatten. Ich verliere mein Fingerspitzengefühl am Zündschloss und eine Welle schwappt in diesen Moment und in meine Geschichte und an unseren linken Kotflügel und spült Mutter Salz auf die Lippen und Großmutter Sand in die Augen. Ich fange das Salz mit der Zunge und Vaters Gesicht verschmiert an der Fensterkurbel und er verwischt seine Hände an meiner Anzugshose und streicht sich aus dem Fotoalbum, als Mutter eine Seite mit einer Aufnahme der Borgward Isabella aufschlägt, die zeigt, wie sie auf die Brandung zusteuert und Großvater, der einen neuen Nebensatz beginnt, als Mutter aufschreit. Einen Nebensatz, den ich seit Kindesbeinen erbete und verschweige. Ich trete das Gaspedal durch. Staub wird aufgewirbelt, der sich auf die Motive senkt und Mutter im Schwarzweiß der Aufnahme verschwinden lässt wie unter Schnee und Großmutter wacht über den Schnee und wacht nicht mehr auf.


7

DIE NEGATIVE VERSTREUEN SICH AUF DER ABLAGE. Der leere Film aus Großvaters Kamera fliegt durch den beschleu­nigten Wagen, Großvater lässt mich die unbelichteten Motive zu einem milchigen Meer zusammen­fügen und meine müden Augen nicht wegsehen. Das Autoradio rauscht. Irgendwo da draußen wird der Tag mit den Vögeln beginnen und meine verschmierten Finger­abdrücke auf der Wind­schutz­scheibe bezeugen, dass ich berühren kann. Als mir das Morgen­licht über den Rück­spiegel ins Gesicht sticht, spreche ich kleine Sätze vor mich hin. Auch wenn es ein noch junges Leben ist, sage ich und mich hört nur die leere Straße, muss es verschweigen, was man vermutet, denke ich. Und die Gestalt, die mir aus der Weite zu eigenen Antworten verhilft, dort am rechten Straßen­rand, kommt immer näher. Aus der sich auflö­senden Entfernung tritt ein fremder Mann und mit den Metern kauert Vater auf der Fahrbahn­markie­rung. Ich verführe mich zum schnellen Atmen und bremse, denke ich, wenn er sich bewegt und ich starre ihn an und Vater winkt im Seitenspiegel. Als ich meinen Mund verschließe, meine Lippen aufeinander presse und auf ein Negativ beiße, winkt Vater dem Meer zu, als grüße er Großvater, den wir nicht erkennen und ich verschweige, was ich sehe und der leere Bruder aus unbelichteten Negativen lebt in seinem Walkman auf der Rückbank und zu seinen Füßen schlenkert das Gewehr, sobald ich die Borgward Isabella beschleunige. Und ich greife nach dem lauwarmen Griff, um mich zu vergewissern und fasse danach den kalten Metall­lauf und mein Handgelenk wird vom Gewicht auf die Fußmatte gezogen und ich denke an die ausgelösten Schüsse, in blauen Stunden, aus denen Großmutter für mich immer noch Großvaters Neben­sätze schlägt und ich beginne ihnen zuzuflüstern, dass im Rückspiegel Vater am Straßenrand lügt und ich schäme mich ausgedacht zu sein und Vaters Schweiß rinnt mir über die Stirn in Mutters Wahrheit, als ich das Steuer herumreißen will, um mit ihnen gemeinsam den Gedanken nicht zu Ende zu führen, wie ich am Leben sein kann. Ja, wir erkennen uns, so schnell vergehen die Jahre Großmutter und wie du siehst, liegt überall Meer, wo die Geschichte nicht über­einstimmt mit meinen Vorstel­lungen. Ich kurble mit letzter Kraft das Fenster in die Fahrertür, gleich wird der Wind viel schneller sein.
Marc Oliver Rühle  2011   

 

 
Marc Oliver Rühle
Prosa