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Marc Oliver Ruehle
FLUG
SCHNEE

Eine fünfköpfige Reisegruppe, der ich angehöre
Ein beobachteter Mann
Vögel, Lebensraum Stadt
Ein Polaroid, sowie ein weiteres
Ein Taxifahrer, mit dem Rücken zu uns
Eine Frau, hinter Glas
Schneearten, je nach Witterung


Wir langweilen uns. Bildschirm, Touchpad, Handbewegungen. Wir sehen unseren Planeten an. Alles ist möglich. Er lässt sich in alle Rich­tungen drehen. Mit Daumen und Zeige­finger, wie wir wollen. Die Abbil­dungen sind kontrast­stark pro­grammiert. Wir machen ihn nah, ziehen auf einen Kontinent zu, schweben über ein beliebiges Land, übersät von erd­üblichen Farben und wählen eine zufällige Region. Wir beobachten ein Stück ein­gefrorene Großstadt, ein Relief einer uns anonymen, urbanen Gegend. Wir zoomen uns über die Auto­bahn­abfahrten und Um­gehungs­trassen, über die Hauptadern in die Seiten­straßen und Sack­gassen, an Eckkneipen und einigen verwischten Fassaden vorbei. Ver­schwommene Haus­nummern. Davor wieder deutlich erkennbare Asphaltstreifen, Bordsteine. Eine Eiseskälte wird an den Abgasen sichtbar. Die Autos rauchen und dampfen; hüllen die Straße in einen weichen Kokon.

Wir fokussieren zunächst gleichgültig ein unauffälliges Wohngebiet und bewegen uns auf einen zusammen­hängenden Häuserblock zu. Krähen­schwärme bilden schwarze Flecken auf dem schnee­weißen Dach. Uns sticht ein sperrangel­weit geöffnetes Fenster ins Auge. Die Kunst­stoff­rahmen um das Fensterglas sind grau und fleckig und auf den unbepflanzten Blumen­kästen davor staut sich eine Hand­breit Schnee. Wir erkennen eine groß­gewachsene männliche Person; sonst sehen wir niemanden. Wir betreten die Wohnung durch das offene Fenster, aus dem leichter Essens­geruch dringt. Die Wände, an denen wir entlang schleichen, sind kahl und die Raufasertapete unter unseren Händen ist kalt. Wir stellen uns in einem Halbkreis in der Küche auf.

Der Mann dreht sich mit gedrungener Haltung um seine eigene Achse. Er wirkt in sich versunken. Wir beobachten, wie er ganz langsame und leise Bewegungen ausübt. Er sieht liebenswert aus. Seine Gesichts­züge strahlen etwas Anmutiges aus. Wir können es nicht genau ergründen. Wir meinen, darin etwas zu erkennen, eine ungefähre Biografie, eine Geschichte um jeden Preis. Uns wird ein wenig bang ums Herz. Wer ist dieser Mann? Drei Töpfe und eine Pfanne können wir auf den Herd­platten der Koch­nische zählen. Für wen bereitet er diese aufwendige Speise? Ein Wettbewerb der Gedanken. Wir verharren bei ihm und warten, dass etwas passiert. Wir schauen ungeduldig aus dem Fenster. Der Schneefall draußen hat zugenommen. Ein Gefühl bricht vor uns auf. Als das Publikum dieses Mannes können wir uns alles vorstellen.

Die üblichen Handgriffe und alltäglichen Wiederholungen. Die kleine Neubau­wohnung mit ihren Einbau­res­sourcen. Die mecha­nischen Bewegungen. Er findet sich chrono­logisch zurecht. Er ist eine Liste geworden und handelt sich ab. Er verwendet dasselbe Geschirr und deckt den alten Massiv­holz­tisch in der engen Fliesen­küche wie damalig ein. Dieses Möbel ist neben dem sperri­gen Doppel­bett und der Bestuh­lung das einzige Stück aus ihrem gemeinsamen Haus. Lange ist es her, da fuhr er noch mit der Linie 49 raus und sah im lang­samen Vorübergehen den Rhododendren seines alten Gartens hinterher, wie sie weiter wachsen, wie der Putz der Wetter­seite sich verändert, wie das weit­läufige Grundstück ver­fremdet, wie es nichts mehr mit ihm zutun hat.

Er verwendet Geschirr aus dieser Zeit und platziert drei Teller, drei Gläser und je zwei Silberbestecke. Zuletzt kleine Löffel. Ganz vorsichtig legt er sie hin. Die Tischplatte, ein Speicher der Gewohnheiten, nun Abwesen­heiten.

Die Ränder von Rotweinflaschen und übervollen Kaffee­tassen. Sie schwenkte sie einst energisch gesti­kulierend in der Frühe über der Tages­zeitung, über den Marmeladen­gläsern, Himbeere und Aprikose. Die Schnitte durch die Äpfel und Birnen ins Holz, Proviant für die Schulpausen. Die flüchtigen Notizen über die Papierränder hinaus in die Maserung hinein, Listen, Filmtitel, Telefon­nummern, eine ihrer Blei­stift­blumen aus Lange­weile; eingraviert. Während er die Servietten faltet, beobachtet er die Spatzen­schwärme am gegenüberliegenden Fenstersims. Ein dünner Schnee­film ist übernacht an der Fassade heraufgeweht und von den wenigen Sonnen­strahlen vereist worden.

Die Kartoffeln berühren bereits das zarte Mittel­stück der Gans. Er nimmt als letztes vom jungen Rosenkohl, stößt mit einer Schöpfkelle metallen gegen die Sauciere und arrangiert das Mahl auf seinem Teller. Mehrere Tage wird er davon essen können, es sich zu kleinen Portionen aufwärmen.

Drei schwere Polsterstühle stellt er dazu, so dass sie zu einer Seite offen und seitlich schräg von der Tisch­kante abstehen. Wie eine Einladung. Er rückt sich heran, die Lehne zuckt knurrend, sonst bewegt sich nichts. Wir halten den Atem an, um nicht aufzu­fallen. Nach einer Weile, die ein Gebet hätte sein können, führt er ein getunktes Kartoffel­stück zum Mund und stößt mit äußerstem Gabelzacken gegen einen Schneidezahn. Auf den anderen beiden Tellern liegt seichter Schnee. Auf dem klaren Porzellan kann man ihn fast nicht erkennen.

Wir müssen an die Luft, um darüber nach­zudenken, ob wir uns diese Neugier antun wollen. Die Winterwiese im Hof ist vom karstigen Schnee gestaucht. Die Wäsche­stangen halten einen eisigen Saum wie eine Folie um sich. Orangen­schalen fallen aus dem achten Stock. Sie sind das einzig Farbige in der Umgebung. Die Schalen prallen auf die Kristalle und sinken dann in die obere Neuschnee­schicht. Wir sehen ihn von der dritten Etage aus in das vom Hof offen gelassene Himmelsstück starren. Ein Funkeln in seinen Augen. Ein Luftzug? Schnee? Wir wissen es nicht. Das stunden­lange Starren. Das sehen wir.

Eine Zeitschaltuhr entzündet die Lichtsäulen im Innenhof. Sie säumen den Weg an einzelnen Blautannen entlang zu den Mülltonnen. Vieruhr also. Blaue Stunde. Es ist Zeit zu ihm zurück­zukehren. Die knöchrige Kälte zieht in das kleine Wohnzimmer. Über seinem halb­offenen Hemd nur ein Mantel, dessen Ärmel undurch­zogen von Armen, lose wie nicht zuge­hörig, herab hängen. In der linken Innen­tasche des Mantels stecken zwei Pola­roids. Die oberen schar­fen Kanten stehen über die Öff­nung der Innen­tasche hinaus und kratzen durch das dünne Hemd hindurch leicht an der Haut. Die Farben über­belich­tet, verblasst; Motiv: Meer mit weitem Strand im Hintergrund, drei Oberkörper, alle haben Wind in den Haaren. Der Ausschnitt des zweiten Polaroids schneidet die Gesichter unterhalb der Wangenknochen.

Heute ist ein beliebiger Sonntag und die Kirchturm­spitzen schneiden den Glocken­wind. Der Mann schließt das Fenster zum Hof; verschließt den Glockenklang. Die Polaroids zwicken bei den Arm­bewegungen. Er hat eine Schnee­wehe abbekommen und wischt sich über die Stirn. Sein Gesicht glüht, der Brustkorb drückt. Er entscheidet sich für einen Spaziergang durchs Treppen­haus. Am Geländer kann man die Handwärme der Nach­barn fühlen, manchmal auch nur den Schweiß, oft nur den Schweiß. Er ist gespannt, seit mehre­ren Tagen war er nicht im Hausflur. So weit werden die Schneemassen schon nicht vorgedrungen sein.

Beim Schnüren der Schuhe fällt eines der Polaroids auf das Laminat. Ihm war als hätte er sie zu Boden fallen lassen und sie seien Figuren aus Glas. Uns ist als hörten wir einen Aufprall. Er senkt seinen Blick, hebt das Polaroid, dreht es, fährt mit dem Zeigefinger über die Foto­fläche. Wir beo­bachten, wie er durch das Treppen­haus ins Erdge­schoss starrt. Wir erkennen hinter den Schei­ben des Auf­gangs den breiten Fluss und zwei Brücken. An den Pfeilern werden die Schollen zerbrechen. Nichts weiter. In diesem Moment schneit es am Strand in seinen Händen. Ebendann, als er den Hinter­grund der Polaroid-Auf­nahme berührt, bleiben die Kristalle an seiner Fingerkuppe haften. Uns Beobachtern wird das Weiter­atmen gebremst. Wir können es nicht glauben. Er geht zurück.

Manchmal hört er ein Läuten.

Das Rauschen im Hörer der Sprechanlage. Eine Art Mollton. So hört sich niemand an. Keiner würde sein Klingel­schild berühren, außer den Postboten, aber der letzte Brief ist Jahre her und er ist unge­öffnet. Er will andere als diese, jene tatsächlich formulierten allerletzten Worte behalten. Ihre Sätze, die ihn aus­schmückten. Ihre Schönheiten. Wir sind bewegt und verwirrt. Wer ist sie?

Und ein Kind? Wir dringen nicht genügend vor.

Regungslos sitzt er winterfest bekleidet am Tisch. Er weiß sie, die Sehnsucht in seinen Gedanken, solange zu formulieren, wie er sich erkennt. Lebens­läufe sind Liebes­verläufe. Heute ist ein weiterer Tag, ein Fühlland draußen, deckungs­gleich mit einer weit­läufigen, weichen und ein­nehmenden menschen­leeren Landschaft. Eine Frage des Winters. Seine Zunge schwer vom Schnee. Er macht es ganz laut, bis niemand von ihm hört. Die Bilder in ihm.

Auf der Straße parken Familienwagen aus fremden Städten. Grauer Misch­schnee, vom Asphalt verschmutzt klemmt er an Radkappen. Aus Spuren werden Linien. Unter den lebens­losen Ästen der Platanen, welche die Haupt­straße begleiten, steigt er mit uns in ein Taxi. Er lässt sich die Frage stellen: Ziel? Schnee ist brutal, sagt er. Er verwischt und verschmiert, er erstickt und ver­schluckt. Er verliert. Irgendwann ist er abge­laufen. Der Schnee; ist abgelaufen. Fahren sie einfach los. Ich möchte nicht Schritt für Schritt weniger werden, mir aus den Händen gehen.

Das Motorengeräusch ist von der Winterlandschaft abgeschwächt, fast erlegt.

Es ist, als sei er in das Taxi gestiegen, um seit uns unbekannter Zeit mit einem Menschen zu sprechen. Auch wenn der Fahrer nichts erwidert. Wir zwängen uns neben ihn auf die Rückbank. Die, die keinen Platz finden konnten, rennen neben her, bald darauf ver­lieren sie den Anschluss, das Taxi aber nicht aus den Augen. Uns erscheint die Wahl, die auf einen Taxi­fahrer fiel, plausibel. Auch wenn er nur zu einem Rücken spricht. Der Fahrer klemmt ein Flaschen­getränk zwischen seine Beine, legt seine Buchlektüre, ein dunkler Festeinband, auf den Beifahrer­sitz. Die Schimmer der Straßen­laternen verraten keinen Titel. Der schwere Mer­cedes findet sich unentschieden zurecht, nach einer Kette von Abbiegungen und Kreuzungen, Blinklichtrhythmen und Funkwellen steigt er in den minutenalten Schnee zurück. Wir sind im Kreis gefahren.

Hinter einem fremden Fenster der Parterrewohnung, die an den Hauseingang grenzt, steigt eine Frau in einen Ganzkörpertauchanzug und zieht sich an einer unauffälligen Naht zu. Wohlmöglich die Anprobe einer Urlaubsvorbereitung. Sie zwängt ihre langen Haare unter die in den Anzug eingebundene Bekappung. Ihre Wangen­partie ist nun ein heller Ort gegen die tiefschwarze Verkleidung der Haut. In dieser Beobach­tung versunken, bedeckt seine Kopfhaut frischer Schnee vor der Tür. Er steht still, fasziniert von einer Hülle gegen Temperatur und Empfindung. Auch ihre Weiblichkeit wird verborgen. Die Frau scheint unempfindlich und uner­reichbar in ihrem Anzug. Er stellt sich Schnee vor, wie er auf dem Neopren zerplatzen würde, stünde sie ihm jetzt gegenüber. Wir folgen ihm in seine Wohnung. Sehen ihn nach kurzen Überlegungen einschlafen. Als wir uns erlauben, das kleine Nachttischlämpchen auszuknipsen, fällt uns auf, dass von der Zimmerdecke Schneetau tropft und sich wie Wachs auf den Schlafenden gießt. Wir wollen seine Hand streicheln. Er regt sich kaum. Dem Schlaf geschuldet, zeichnet sich eine winzige Erlösung ab.

Äste versperren uns den Morgen und ragen ins Badezimmer. Wir trauen unseren Augen kaum. Dicker, nasser Schnee auf den Armaturen, lauter Schnee in der Badewanne. Die Zweige, welche die Sicht in den Spiegel verhindern, sind schnee­beladen. Er hastet zum Badefenster und reißt das Fenster der Dach­schräge nach oben in den Himmel. Ein mechanischer, hydrau­lischer Ruck.

Er sieht auf direktem Wege in eine weit entfernte Sonne. Dann nimmt er den Duschkopf und hält mit heißem, brühenden Strahl gegen die Schneelager. Es zischt. Er lächelt. Die Kristalle zerplatzen unter dem Druck. Das ent­stehende Wasser breitet sich bis zu seinen Knöcheln aus.

Wir sehen beschämt nach draußen. Am täglichen Himmel preschen die Flieger entlang, ziehen Flug­linien und skizzieren mit Kondensstreifen Kreuze. Die Stadt darunter – verklebt mit Schnee­arten. Er steht am Fenster und sieht uns an; dann weg. Wir schauen beschämt zu Boden. Entlang der Fried­hofsmauer vorm Haus verläuft eine Bahn­linie. Wenn Züge kommen, weiß er nicht wohin. Ver­einzelt stehen Eichen, sie blättern im Herbst auf die feuchten Schienen. Manchmal sieht er sich fortgehen, seinen Bezirk verlassen. Alles zurück­lassen. Er wechselt die Straßenseite, geht über den Bahndamm. Die Schienen sind stumpf vom Eis. Der Mond, ange­deutet am Himmel. Wir sehen hinterher. Nur noch schemenhaft, von hier oben, eine kleine Gestalt. Vielleicht nimmt er sie in seinen Armen zu sich, denken wir. Er sieht seinem Atem zu. Der neblige Hauch des Aus­atmens streichelt den dünnen Schnee.
Marc Oliver Rühle  2012   

 

 
Marc Oliver Rühle
Prosa