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Olga Tokarczuk
Der Gesang der Fledermäuse
Wildes Denken am Computer
Kritik |
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Olga Tokarczuk
Der Gesang der Fledermäuse
Roman
Schöffling Verlag 2011
Euro 22,95
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Es gab einmal ein Land, das so groß war wie kein anderes und um das noch viele kleine Satellitenstaaten kreisten. Die Grenze des ganzen Gebietes, das durch den Warschauer Vertrag geeint war, lief mitten durch Europa. Die eine Seite war gut und die andere böse, je nachdem, wo man war. – Das große Land gibt es nicht mehr, der Eiserne Vorhang ist gefallen und ein Teil des Gebietes gehört nun zur grenzenlosen EU. Und weil es das Böse hinter der Grenze nicht mehr gibt und in Europa eigentlich auch keine Grenzen mehr, ist manchmal nicht mehr so klar, wo man eigentlich ist – und noch tragischer: wer oder was eigentlich gut und böse ist.
Nach Olga Tokarczuks letztem Roman Unrast mit seinen Hotelzimmern und Flugzeugen folgt in Der Gesang der Fledermäuse als Handlungsort ein kleines Haus im Glatzer Kessel an der polnisch-tschechischen Grenze. Es steht mitten im Nirgendwo und wird von der Erzählerin Janina bewohnt, die gerade so alt ist, dass sie sich die Füße vor dem Zubettgehen wäscht – falls sie vom Krankenwagen abgeholt wird. Stattdessen wird sie zu Beginn des Romans unsanft von ihrem Nachbarn geweckt, der ihr mitteilt, dass Bigfoot, ein weiterer Nachbar, tot ist. Bis die polnische Polizei alarmiert ist dauert es, denn die ohnehin kaum vorhandene Grenze zur tschechischen Republik wird durch die Handyzellen weiter verwischt: Man kann sich nie sicher sein in welchem Netz man ist.
Trotz des Settings in einer düster romantischen Natur, in der im Winter, entleert von allen Sommerfrischlern, nur ein paar verschrobene Kauze übrig bleiben, ist Janina kein Kräuterweib aus der alten Zeit. Sie kocht keine Marmelade nach altem Rezept ein und ist auch nicht in der Lage, Heilmittel aus dem zu mischen, was der Wald hergibt. Stattdessen erfährt man vage von einem vorigen Leben, in dem sie als Ingenieurin in aller Welt Brücken baute. Die Tinkturen gegen ihr Leiden, in dem ihren Angaben nach etwas Göttliches steckt, verschreibt ihr Ali – Arzt und Nomade, der alle zwei Jahre den Arbeitsplatz wechselt und die Arzneien individuell bei Apothekern anfragen lässt.
Neben der klassischen Provinzbevölkerung sind es Figuren, die auch aus Unrast stammen könnten: Menschen, die in einer grenzenlosen Welt zwar kein Hotelzimmer beziehen, dafür ihr kleines Haus im Grünen, in dem eigene, individuelle Gesetze und Bräuche gelten. So verdient Janina ihr Geld als exzentrische Englisch-Lehrerin und als Hüterin der verlassenen Datschen nebenan. Eine Patchwork- Esoterikerin, die am liebsten Horoskope am Computer studiert und bei der ein käferforschender Gast sein magisches Wolfsamulett in den USB-Anschluss des Laptops steckt, um ihm die rituellen Gesänge Jim Morrisons als Mp3 zu entlocken. Ihr bester Freund heißt Dionyzo und besucht sie regelmäßig, um mit ihr seine William Blake Übersetzungen zu besprechen.
Die eklektische Privatmythologie, die sich daraus ergibt, glaubt zwar nur Janina selbst, aber dafür kann sie schärfere Grenzen ziehen als jeder Mobilfunkanbieter. Denn sie ist nicht nur in der Lage die genauen Todesdaten einzelner Personen zu erforschen, sie weiß auch, was gut und böse ist: Gut sind die wirklichen Namen, die sie den Menschen – und sich selbst – anstatt der bürgerlichen gibt. Böse ist, wenn Tiere getötet werden. Denn dann ist die Hölle auf Erden und ihr Vorhof sind die Kanzeln der Jäger, von denen nicht gepredigt, sondern geschossen wird. Doch ihre Arbeit mit dem Tod und der Wahrheit ist nicht leicht: Die Polizei behandelt sie als Wahnsinnige, deren Anzeigen man nicht zuhört, und sie selbst bezeichnet sich bereitwillig als schlechte Astrologin. Auch ihre kleinen mendelschen Erbsenexperimente im Garten wollen nicht so richtig gelingen und der lamarckistische Beweis, dass phänotypische Eigenschaften weiter vererbt werden, stellt sich einfach nicht ein. Als langsam klar wird, dass die Leiche am Beginn des Romans eine ganze Serie von Morden nach sich zieht, fragt sich wem man glauben soll: Der korrupten Welt da draußen, in der die Schöpfung Material ist, aus dem man Pelzkragen züchtet und in der die Grenzen zwischen Gut und Böse so durchlässig sind wie die innerhalb der EU, oder einer alten Frau, die einen Ausweg gefunden hat und die Wahrheit kennt? – Denn sie, die die Sterne studiert hat und weiß, dass Phänotypen vererbbar sind und der Mensch dadurch aus der Geschichte lernt, kennt den Mörder: Es waren die Füchse und Rehe, die Vergeltung an Jägern und Züchtern üben!
Der Kampf um die Wahrheit ist grausam und so sehr man den Respekt der Erzählerin Janina vor der Natur gutheißen kann, so sehr tragen ihre Anschauungen die Blutspuren der Geschichte: Es war ein gewisser Lysenko, der unter Stalin die natürlichen Vegetationszonen überschritt und den letzten Versuch unternahm Lamarcks Theorie zu nutzen, indem er Weizen in der sibirischen Kälte anbaute, um die Pflanzen daran zu gewöhnen. Seine Kritiker fielen dem NKWD zum Opfer, der Weizen erfror und die sowjetische Bevölkerung konnte kaum versorgt werden.
Im Gegensatz zur Geschichte ist das schöne an kriminalistischen Fiktionen, dass kein wirkliches Blut fließt und man eigentlich auch niemanden so richtig verurteilen muss. Und auch wenn man am Ende weiß, wer es war, bleibt der Leser mit dem erzählenden Ich allein gelassen und die Fragen, die sich ergeben sind ganz andere. So gelingt es Olga Tokarczuk mit Der Gesang der Fledermäuse einen Roman zu schreiben, der im Gewand eines Provinzkrimis einen ganzen Fragenkomplex an unsere globale Gegenwart stellt. Mit der Lupe schaut sie ins Nirgendwo und entdeckt dort, wie das 21. Jahrhundert nach dem blutigen 20. seine eigenen Ungeheuer gebiert. Den Epilog zu ihrer Geschichte – und darin liegt die Modernität und gleichzeitig Provinzialität des Romans – schreibt die Erzählerin an einem anderen Ort in einem anderen Nirgendwo. Schön ist es in einer Welt zu leben, in der man nicht an einen Ort gebunden ist, und schrecklich in einer Welt zu leben, in der man einfach gehen kann, wenn es ungemütlich wird.
Olga Tokarczuk wurde am 29. Januar 1962 in Sulechów in Polen geboren. 2000 erschien ihr bisher erfolgreichster Roman Ur und andere Zeiten in deutscher Übersetzung. Zuletzt erschien 2008 der Roman Unrast für den sie mit dem Nike-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Olga Tokarczuk gehört zu den populärsten Autorinnen Polens und wurde in viele Sprachen übersetzt und auch im Ausland mit Preisen ausgezeichnet.
Tillmann Severin 09.09.2011 |
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Tilmann Severin
Prosa
GO. Projekt 60
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