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Tillmann Severin
GO. Projekt 60
Auszug aus einem Roman (II) Konosuke schaute hinab auf den Ring. Die Autobahn erschien unvermittelt zwischen den Hochhäusern, um sich zu gabeln und zwischen den Blöcken zu verschwinden. Der Verkehr, eine endlose Schar analphabetischer Blinker, die einen sinnlosen Morsecode schrieben. Autos nahmen Lichtstrahlen auf und warfen sie im richtigen Moment in sein Büro im fünfunddreißigsten Stock. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie das Gebäude bezogen wurde, ein großer Tag, an dem der damalige Vorstandsvorsitzende die ersten Bewohner des Hochhauses zu ihrem neuen Arbeitsplatz beglückwünschte und erklärte, dass die Firma nun endlich im Zentrum der Stadt angekommen sei, dort, wo sie hingehöre. Er wünsche ihnen und der Firma, von der sie schließlich ein Teil waren, gute Geschäfte und großen Erfolg. Konosuke war nicht nur stolz, seine Karriere in der neuen Repräsentanz quasi zu beginnen, auch der Weg aus der Vorstadt war kürzer: Er fuhr damals noch mit der Bahn ins Zentrum. Dort musste er nun nicht mehr umsteigen und in eine andere Richtung wieder hinaus, sondern ging zu Fuß zwischen den Schafherden und ihren Kragen unter den Stelen der Straße hindurch, betrat das neue Gebäude durch den Haupteingang, nahm den Paternoster und ging schließlich ins Großraumbüro im dritten Stock. Die ganze Etage kam durch die Kabinen getaktet im Saal an und bezog die gereihten Tische. In einem abgetrennten Raum saß Kamimura, sein fauler Chef, der schon damals die Position des direkten Vorgesetzten hatte, und gab mit seinem Kommen und Gehen das Signal für Mittagspause und Dienstschluss. War Kamimura weg, leerte sich der Saal mittags in die Kantine in den ersten Stock und abends nach unten zum Ausgang. Nur an ein einziges Mal, als Kamimura das Büro viel früher verlassen hatte als erwartet, war Konosuke höher gefahren. Er saß auf seinem Platz, am Nebentisch Ryu, mit dem er die Mittagspause zusammen verbrachte, immer darum bemüht, vor dem Chef wieder da zu sein, und beide beobachteten unauffällig, wie Kamimura durch die Reihen zum Paternoster ging. Es dauerte eine Weile, bis die ersten sich verstohlen aber offensichtlich umschauten und dann langsam ihre Sachen packten und das Büro verließen. Irgendwann, nicht mehr ganz der Erste, aber auch nicht als letzter, räumte Konosuke seine Sachen zusammen. Als er sich nach seine Tasche beugte, trafen sich Ryus und sein Blick irgendwo über der Tischplatte. Völlig gelöst angesichts des Tages, der nun frei war, gingen sie nebeneinander her zum Paternoster. Vor den Schächten, links ging es nach oben rechts nach unten, machte Ryu eine Geste nach links und sagte: „Komm, fahren wir nach Ganzoben.“ Die beiden Männer standen in der engen Kabine. Vor ihnen zogen die Etagen vorbei, eine nach der anderen, und zwischen Stock zehn und elf sagte Ryu: „Wenn wir ankommen, dreht sich die Kabine um und wir fahren umgekehrt weiter.“ Tatsächlich fuhren sie vor der letzten Etage an dem enttäuschenden Hinweis: „Letzte Etage. Weiterfahrt ungefährlich“ vorbei, rumpelten vor einer Holzwand nach Ganzoben, um einen Bogen herum und wieder nach unten. Gelähmt schauten sie zu, wie die Stockwerke in entgegengesetzter Reihenfolge an ihnen vorbeifuhren, und erst als sie ganz unten waren, sprach jemand aus, wie es war: „Trinken wir ein Bier.“ Er könne sich kaum vorstellen, in der Firma aufzusteigen, zu langsam, sagte Ryu. Als Konosuke nach hause fuhr, hatte er nicht nur einen pelzigen Geschmack auf der Zunge, sondern auch das vage Gefühl, dass sein jetziges Leben nicht das einzig mögliche war. Als der Paternoster längst durch einen modernen Aufzug ersetzt worden war, hatte Ryu sich in Europa selbstständig gemacht, irgendwas mit Gastronomie, wusste Konosuke. Gehört hatte er nichts mehr von ihm, war selbst aber schon seit einer Weile in der fünften Etage angekommen. Er konnte sich leisten, mit seiner Frau in eine größere Wohnung im Norden zu ziehen und musste nicht mehr mit der Bahn fahren, hatte sein eigenes Büro knapp über dem Ring und würde wahrscheinlich auch nicht mehr gekündigt werden. Nach ein paar Jahren war er immer noch da, es war gut so. Nur nicht ganz das, wovon er als Kind geträumt hatte: „Und dann kam der große Konosuke Matsushita mit der doppelten Lampenfassung.“ Seine Großmutter kniete seitlich vor ihm und schenkte ein. Ein glatter Strahl, golden im Licht schimmernd, schlug in einer Dampfwolke auf, schmiegte sich an hauchfeine Keramikwände, durch die man den Tee wie in den Händen hielt. Die Flüssigkeit im Fall, eine Kalligraphie, löste sich bald auf, ihr Schatten diffundierte in den Raum, hundertfach wiederholt in der Tülle der Kanne, die sich in einem weichen Bogen aufschwang, seine Schale, die sich in die Hand wie ein Wassertropfen auf die Oberfläche legte, der Winkel seiner Knie auf den Tatamimatten. Während Wassertropfen an die Scheiben klatschten, die Hitze, die sich entlud, folgte das Notwendige: Den Tee konnte man nicht ablehnen, wie seinen Namen. Verwandtschaft über Vornamen. „Ich habe noch erlebt, wie meine Mutter ihr Bügeleisen dort eingesteckt hat. Als es noch keine Steckdosen gab, kam aller Strom aus der Lampenfassung. Wenn wir bügelten, war es dunkel, und wenn wir Licht hatten, konnten wir nicht bügeln. Also erfand Matsushita die doppelte Lampenfassung.“ Er nahm die Teeschale mit der Rechten auf, setzte sie auf seine linke Handfläche und trank die grüne Flüssigkeit in mehreren Zügen, während seine Großmutter ihm gegenüber saß. Die Teeschale lag perfekt auf seiner Hand, schmiegte sich in seine Handfläche wie eine geübte Bewegung, die unter die Haut geht und sich im Rückenmark absetzt, bis sie Teil von einem geworden ist. Nur, dass es hier keine Übung gab. Die Schale war schon immer perfekt gewesen, wie die Bewegungen seiner Großmutter. Nur er musste sich dem fügen. Und genau das war sein Problem, dachte er. Konoske trat von der Scheibe zurück und hinterließ drei Tapser, die über Osaka schwebten. Vielleicht würde er es in der Sitzung genau so formulieren. Die Lösung war ein nie dagewesenes Produkt, so einfach und genial wie Matsushitas Lampenfassung und so schmiegsam wie eine Teeschale.
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