Denn es gibt keine Hungersnot, keine Epidemie, keinen Vulkanausbruch, kein Erdbeben, keinen Krieg, ... der dem neurotischen Schicksal der Dinge derartig den Hals umdrehte, wie ein Gemälde van Goghs. Sätze wie dieser charakterisieren den harten Kontrast, den Artaud zwischen künstlerischem Genie und dem ungenialen Rest der Welt aufspannt; zwei Pole die sich in einer psychischen und physischen Vendetta gegenseitig verfolgen, verunsichern und verletzen: wobei der vordergründige Sieger meist feststeht und der scheinbar unterlegene Künstler eben durch die Kunst (in geradezu frühromantischer Art und Weise) doch als Triumphator steht und/oder untergeht. So erklärt sich auch der Titel des großen Essays: immer wieder beharrt Artaud auf opaken Kausalitäten, deren bestialische Wirkung van Gogh in den Selbstmord getrieben hat: Ärzte, Psychiater allen voran, aber auch der Bruder Theo, die Gesellschaft in jenem Sinn, der ihr die Kunstwelt abrechnet. Dass der Maler verrückt gewesen sei, erscheint so nur als Meinung und Nihilierung aus Selbstschutz, in der die unwilligen Betrachter übereingekommen waren. Für die Erschütterungen und auch Bedrohungen, die von Kunst ausgehen können, findet Artaud Worte. Denn der Text ist selbst von einer künstlerischen Machart, staunenswert ist die Präzision der (bild-)beschreibenden Metaphern und die archaische Gewalt der Wortwahl, besonders da, wo Artaud die Landschaftsgemälde beschreibt. ... diese Landschaft aus geschmolzenem Gold, aus Bronze, die im alten Ägypten gebrannt wurde, wo eine gewaltige Sonne auf Dächern lastet, die so unter dem Licht zusammenbrechen, dass sie sich wie in Zersetzung befinden, heißt es da, oder: Seine Landschaften sind alte Sünden, die ihre primitiven Apokalypsen noch nicht wiedergefunden haben, aber zweifellos finden werden. Artauds Text hatte, bei aller lyrischen Ortlosigkeit, einen sehr konkreten Anlass, namentlich eine Ausstellung im Musée de l'Orangerie 1947, und die Arbeiten zogen sich über ein gutes Jahr hin – bis zu Artauds Tod im März 1948. Die Ausgabe von Matthes & Seitz, die mit einer klugen Anspielung in Blau und Gelb gehalten ist, gibt zu der Ausstellung und dem Entstehungskontext des Werkes ausgiebig und detailliert Auskunft: bis hin zum einzelnen Gemälde, das Artaud in der Ausstellung vor Augen hatte, und den Büchern, die er nach der Ausstellung als Gedächtnisstütze verwandte. Zudem enthält die Ausgabe das letzte „Interview“, das Artaud gegeben hat und von dem Jean Marabini berichtet. Dieser kurze, aber atmosphärisch sehr dichte Text, der auch den Hauptunterschied zu älteren Ausgaben des Buches darstellt, erscheint hier erstmals in deutscher Übersetzung. Das Nachwort hingegen gerät sehr sperrig. Der Übersetzer Bernd Mattheus, der auch dieses Nachwort beisteuerte, schreibt an Artaud-Zitaten entlang, die teils dem Van-Gogh- Aber schon allein für die Leser Antonin Artauds ist die Inkubationszeit kurz und der Ausbruch bezeichnend. Das Buch ist, wie Artaud über van Gogh sagt, bewaffnet mit Fieber und guter Gesundheit. Darin hat es wirklich unentrinnbaren Charakter. Tobias Roth wurde 1985 in München geboren, studierte Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg. Er verfasst Essays, Rezensionen und Lyrik und lebt heute in Berlin.
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Tobias Roth
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