Fluchtpunkt: Perspektiven: schon der Titel des Bandes, den der Lyriker Lutz Steinbrück im Berliner Lunardi-Verlag herausgebracht hat, umreißt also ein vielschichtiges Programm, das zwar im Blickpunkt des lyrischen Ich fluchtet, aber nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Fluchtpunkt: Perspektiven ist das Debut des 1972 in Bremen geborenen Steinbrück, der, wie es seit einiger Zeit Usus zu werden scheint, Literat und Literaturwissenschaftler in Personalunion ist. Der Band, der von Katharina Berndt mit Illustrationen versehen worden ist, versammelt 33 Gedichte, die sich in drei ungleich proportionierte Unterkapitel teilen. Während sich die ersten beiden Teile, Kaltgereift: Millenium und Reisestrahlen durchaus welthaltig und -gängig an aktuelle Themen wenden, wird der dritte Teil intimo personaler und schlägt sich mit textuellen wie gesellschaftlichen Traditionen von Zweisamkeit herum: von Liebe kaum zu sprechen, die Zweifel, Kontexte und Fragmentierungen des ganzen Bandes schweben über dem Schlusspart, das Bewusstsein der Perspektive lässt den Betrachtenden nicht mehr an seinen Fluchtpunkt heran: deine Lippen beben / in der Nahaufnahme / ein Stück weiter zurück versetzt, heißt es etwa im Gedicht Fallstudie mit K. Wie bereits angedeutet operiert Steinbrücks Lyrik im vorliegenden Band mit Entfremdungen und Kürzungen, die sich wechselseitig Symptom sind und immer wieder auf das Problem einer Welt verweisen, deren perspektivischer Reichtum zu einer Fragmentierung des einzelnen Blicks führt, in eine Unzahl rauschender Details, mitten in die Hysterie. Dieser auch im Abgeklärten noch bitteren Klage sind die meisten Gedichte des Bandes verschrieben. Motivisch wiederkehrend deuten Bildschirm und Fenster, Photographie und bildgebende Verfahren überhaupt auf jene Gefangenschaft im Ausschnitt. Der Beobachter zweiter Ordnung wird dadurch, dass er nicht nur andere, sondern auch sich selbst beobachtet, auch nicht glücklicher. Im Fokus der Beobachtung stehen Bildpunkte aus dem gegenwärtigen Berlin, und aus dem, was an globalen Wirtschafts- und Produktionsprozessen hier sichtbar wird: Ausblicke und Splitter davon, die dem Autor begegnen und von ihm in lyrische Perspektiven gesetzt werden. So sind die ersten zwei Teile bevölkert von Klingeltönen und von Ökonomenjargon, von Touristen am Checkpoint Charlie, blumenförmiger Massenware, U- und S-Bahn-Fahrern, Punks und von Zinksärgen / Made in Afghanistan. Über diese Vielzahl der Fluchtpunkte wird aber kein lyrischer Integral gesetzt, sie stehen sich vereinsamt gegenüber, sofern sie nicht durch das wohlbekannte Berlin gemeinsam verortet werden. Dabei schiebt sich oft das Wort Heinrich Heines ins Gedächtnis, Berlin sei gar keine Stadt, sondern eine Sammelstelle all jener, denen es eigentlich egal sei, wo sie wohnen. Als Beispiel für diese Dichtung der stürzenden Linien im vereinsamten Großstadtgedränge lässt sich das Gedicht Nachaufnahme XY nehmen. Die Leitmetaphern werden im Raum der Großstadt enggeführt und atmosphärisch verdichtet: am Ende des auf Zeitraffer geschalteten Bilderbogens stehen, symptomatisch urban, Tristesse und Ennui: der Wunsch nach Schlaf übertönt den matten Imperativ Wach auf, wenn du kannst! Mit sicher gewählten Bildern, und etwa der großartig klaren Lakonie der fünften Strophe (die Sicht aus dem / Fenster, die Fenster / der anderen, überwiegend / leblos), gelingt es diesem Gedicht, mit seinen unruhigen Versbrüchen und seiner nur im Mittelteil präsenten Zeichensetzung, die paradoxe und weit verbreitete Stimmung der hektischen Ödnis zu umgreifen. Befremdlich und mutwillig wirkt nur die Paarung des ehrwürdigen Rätsel- und Dunkelheitspathos der Moderne mit recht derber Umgangssprache, auch dort, wo sie nicht als Milieu- oder Ortskürzel gelesen werden kann, wie etwa im dreizehnten Vers: der Spiegel kein Freund, die Lampe zu grell, das Wasser arschkalt. Im dritten Teil ändert sich, wie gesagt, die Thematik, der kühle, resignative Ton aber hält vor. Wo zuvor noch das lyrische Ich im Vorbeigehen und leicht spöttisch auf Touristen blickte, findet es sich jetzt in exotischerem Ambiente, das eher an Sandstrände als an märkischen Sand denken lässt, selbst als Tourist: unsere Schallwellen dem Meeresboden / abgelauscht ... dabei wollte ich nie / Teil einer Zielgruppe sein heißt es im Gedicht Unterm Muschelbaum. Das Gedicht gleicht seiner Konstellation und auch seinen Umrisslinien nach einem ins Stocken geratenen Sonett: Auf zwei Quartette und ein Terzett folgt nur noch der Vers: Noch schlafe ich nachts in deinem Atem ein. Das apokalyptische Bewusstsein des noch, das im vorweggedachten Ende den Anfang bedroht, kann nicht überwunden werden. Was wie lange halten wird, wissen die Schattenrissfiguren nicht – und die Leser erahnen, wie zu erwarten war, keine allzu optimistische Vorausschau. Lutz Steinbrück im Poetenladen Tobias Roth wurde 1985 in München geboren, studierte Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg. Er verfasst Essays, Rezensionen und Lyrik und lebt heute in Berlin.
|
Tobias Roth
|