Umkreisungen 25 Auskünfte zum Gedicht
Herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt
Mit Beiträgen von Andreas Altmann, Klaus Anders, Jürgen Brôcan, Matthias Buth, Hugo Dittberner, Dieter M. Gräf, Martina Hefter, Manfred Peter Hein, Henning Heske, Stefan Heuer, Norbert Hummelt, Ulrich Koch, Jan Kuhlbrodt, Norbert Lange, Christine Langer, Stefan Monhardt, Jürgen Nendza, Tom Pohlmann, Marion Poschmann, Bertram Reinecke, Lars Reyer, Walle Sayer, Ludwig Steinherr, André Schinkel, Mathias Traxler
Vorwort | Nachwort
Christine Langer
Kraniche am Himmel – oder wie ein Gedicht entsteht
Kraniche
Gesang ihres Flugs, Flügelrauschen, Vivaldis Violinen,
Streicher der Wolken, Volumen und Stille,
Stufen von Grau blauen Lilien, Linien,
Weithin, luftig, licht,
Striche, Silben, Scharen
Teilen die Sicht
Ein Gedicht, ein Stück
Geschichte, wiederbelebt,
Das Lüfte durchkämmt,
Takte, Blicke
Im Geäst hängen läßt
„Die ganze Landschaft ist ein Manuskript“ (John Montague)
Die Frage, wie ein Gedicht entsteht, wird häufig bei Lesungen gestellt. Was soll ich darauf antworten? Die Antworten fallen unterschiedlich aus, ich rede von poetischen Funken, von Wahrnehmungspartikeln, die miteinander in Spannung treten, von entzündlichem geistigen Material, das Assoziationen auslöst und in mir so intensiv weiterwirkt, daß ich beginne, Worte miteinander zu komponieren, Motive auszuleuchten und Gegenmotive zu erarbeiten, Perspektiven aufzustellen und sie wieder zu verwerfen, Bilder zu verknüpfen und neu zusammenzusetzen, Dinge, Zeichen und Chiffren so sehr zu begehren, daß ich durch sie hindurchsehe und sie aus der Ferne umschreiben kann. Die Freiheit, etwas zu sagen, birgt ebenso die Freiheit, etwas nicht zu sagen, ein Wort kann das vorige Wort widerlegen, eine Zeile die folgende Zeile vorwegnehmen, ein Leerzeichen, ein Zeilenbruch, ein Absatz die Dramaturgie variieren. Und ich reibe mich am Klang der Sprache – das Gedicht beginnt, sich zu tragen und gewinnt ein Eigenleben, es kann sich von (den Konsequenzen) der Andeutung und Aussparung leiten lassen, sie verweigern oder sie provozieren und den Keim für Widerspruch und Übereinstimmung herausfordern. Das Instrumentarium ist groß, so groß, daß das nicht Greifbare, das Zerrinnende, das Unsagbare an Form gewinnt, daß es zwischen den Zeilen mitschwingt, leichthändig, spielerisch, rhythmisch gar. Das Gespür für das poetische Detail ist auch eine unablässige Schulung im genauen Hinsehen; das Gestalten einer Sprachwelt eine währende Suchbewegung nach dem richtigen Wort. Hugo Friedrich sprach einmal von Gedichten als „musikalischen Kraftfeldern“ – ein passender Begriff, vor allem weil er gedankliche Volten und das dynamische Mitschwingen im Sprachtakt beinhaltet. Gedichte sind offene Gebilde, die im Raum stehen –
Die Strommasten
Strommasten unterm Schräghimmel,
Die Sonne steht im Geäst, hellerleuchtet
Halten Zweige die Verbindung zur Erde,
Die aufbricht unter meinem Blick
Ich sehe die Bäume fliehen,
Ockergelbe Stammflechten fingern nach jungem Gras,
Halme, steinfarben, wuchern in die Kronen,
Wo junge Sperlinge schreien
Mir schwindelt bei diesem Aufsteigen der Wipfel,
Bei diesem Eindringen der Vogelstimmen,
Das kurze Jahr wird von einer Kröte eingeholt,
Die fest dem Wetter glaubt
Gereihte Strommasten wie Tannen mit trauernden
Zweigen, Stahl, meterhoch, entzündet den Flug
Der Mücken, ein Pfauenauge im Gehölz
Als rostrotes Gespinst, entpuppt, geädert, geschuppt
Der Sturm
Töne in der Luft, ein bodenständiger Baß
Bläht sich auf und dehnt seinen Atem,
Läßt das Laub hüpfen, das Licht in den Pfützen,
Krähen kreischen, der schwerelose Wind
Formt Himmelsstriche die den Horizont dirigieren
Und neue Konturen entwerfen: ein Übermaß an Raum
Und hellsichtigen Wolken
Ich drehe mich unter Wipfeln wie ein Kreisel,
Umschließe einen Kiesel, einen Heiligenstein,
Der mit jedem Stöhnen von Stämmen
Hörbar wird, ein Omen, von Luftwirbeln getragen,
Die übergehn ins Braun der Zapfen am Boden
Die Nacht
Sternschnuppen bei Florenz
Und wandelnde Schatten der Pinien.
Ich liebe und schaue und schreite voran
Beim Liebeszirpen der Grillen, kein
Licht, nur der zitternde Mond zwischen
Olivenhainen und schwarzen Riesen.
Von fern der verläßliche Schein
Der Straßenlaternen, die das Stadt-
Land zusammenhalten, das Gelb
Eines schweren Siegels, das in den Himmel
Atmet, Gold, das beim Anblick
In dich übergeht wie ein flehendes
Wort
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Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt (Hg.)
Umkreisungen
25 Auskünfte zum Gedicht
poetenladen 2010
ISBN 978-3-940691-11-8
192 Seiten, 15.80 EUR
portofrei lieferbar
Das Buch im Verlag
Kapitel
1 Die Innenseite des Papiers
2 Reste in der Hosentasche
3 Handwerk und Rätsel
4 Wirklichkeitsmorgen
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Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker
Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
ND
In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text.
Zeichen & Wunder
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Christine Langer, * 1966 in Ulm, arbeitet als freie Mitarbeiterin der Südwest Presse Ulm und ist Herausgeberin der Konzepte-Zeitschrift für Literatur. Auszeichnungen: Förderpreis der Stadt Ulm, Förderpreis für Lyrik der Internationalen Bodenseekonferenz, Stipendium der Villa Vigoni. Ihr Gedichtband Lichtrisse (Tübingen: Klöpfer & Meyer Verlag 2007) wurde von der Darmstädter Jury zum Buch des Monats gekürt.
Christine Langer 02.07.2010
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UMKREISUNGEN
netz und buch
Wöchentlich folgt
ein Beitrag online (*)
Jürgen Brôcan: Einige Vorsätze
Die Geometrie des Gedichts
dannmals, baldhin, dadorthier
Einige Zusammenhänge
SIND NOCH SCHWALBEN DA?
Ein Gedicht und seine Geschichte
Drei Gedichte – Zyklisches Schreiben
wärme (Kapitel: Wirklichkeitsmorgen)
ich denke oft an pieroschka bierofka –
ein sattes grün in kleinen schritten
Luftwurzeln
Hochhäuser bestimmen
Selbstdiagnose
Im Steinbruch
Da Apfl
die stille fällt ins wort
Fragmente einer naturwissenschaftlichen Poetologie
Belladonna
Bin wieder hier vorbeigekommen und habe diesen Text gesagt
L’ autre monde oder:
Von der Unmöglichkeit
Ins Leere
Mikroklima, Mikroflora, Mikrofauna
Nomaden
Das Pferd betreffend (Stücke)
Kraniche am Himmel –
oder wie ein Gedicht entsteht
J. Kuhlbrodt: Vom Diskurs zur Freiheit
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