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Umkreisungen    25 Auskünfte zum Gedicht
Herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt

Manfred Peter Hein
Drei Gedichte – Zyklisches Schreiben
Treibeis

Vom Treibeis geflößt
aufs Festland den Fuß setzen
Den Stimmen nachgehn –

ihr Widerhall hier
als wär vom Eis gebrochen
die eigne Stimme –

Wort für Wort für Wort
der Eisbärenfährte ins
Wortlose folgen

vom Dunkel beseelt –



Über den Sund

Über den Sund gekommen
Fremder woher seither
hochnotpeinlich in Frage
wie antworten vor dem Gesetz
Verstellung verschlägt nicht
vor höherer Maskerade
Die Küsten entlang hier taubstumm
im Fingerspiel
Eisschollen Zeitschollen
Drift zu zeigen treibt in entgeistert
maultrommelndes Einst

Aus: Nachtkreis. Göttingen: Wallstein 2008
Drei Gedichte – Zyklisches Schreiben

Ein Autor sollte sich als Leser wie jeder andere verstehen auch wo es um eigene Texte geht, was umso leichter fallen dürfte, je weiter ein Text zu­rück­liegt. „Treibeis“ und „Über den Sund“ sind wie alle im Band „Nachtkreis“ zyklisch ver­sammelten Gedichte in einen Kalender eingebracht, der auf erinnerlich sichtbare Arbeits­phasen zurück­weisen soll: „Treibeis“ am 9.1.07, „Über den Sund“ am 19.1.07 – Entstehungsdaten, die den Zeitpunkt festhalten, an dem der Text im Übergang von Bleistift- zu Maschi­nen­nieder­schrift zum akzeptablen Abschluß gekommen ist. Spätere Korrek­turen liefern lediglich den Beweis für unver­meid­liche Stör­frequenzen im Prozeß inten­tions­gerich­teter Über­tragung. Was beiden Texten jeweils vorausliegt, hält sich mehr oder weniger im Verbor­genen, bei „Treibeis“ eher noch als beim „Über den Sund“-Gedicht, das sich auto­bio­graphisch ent­schlüsseln läßt im Vergleich mit einem vom Autor übersetzten Hochzeits­lied aus dem Vor­rat finnischer Volks­poesie, das, auf die Hälfte gekürzt, lautet:

Hörte wehen einen Wind,
sah vor Augen Kies aufschimmern.
Hat dorther kein Wind geweht,
dorther aufgeschimmert kein Kies:
Kommt des Schwiegersohns Gefolge
über die Sunde aus Deutschland,
über große Meeresweiten
<. . .>
im Geschirr einen schwarzen Hengst,
<. . .>

Schirret ab des Schwiegersohns Hengst,
<. . .>
Lasset seinen Hengst sich wälzen
in dem weichen Weidegras,
<. . .>
Bringet den Hengst des Sohns zur Tränke
<. . .>
Füttert des Sohnes Rappen mit reinlichem
Schrot aus Gerste, Schrot aus Hafer,
feinzerstoßenem Sommersaatkorn!

Führet ans Ende des Hofes den Hengst,
bringet ihn unter das Wetterdach
<. . .>
Bindet fest des Sohnes Hengst dort
<. . .>
Bringet Heu dort vor sein Pferd,
<. . .>

Schon kam der Schwiegersohn über die Schwelle –
paßt nicht ins Haus hinein der Sohn:
einen Kopf größer gewachsen ist er,
ein Paar Ohren länger hinauf.
Paßt nicht ins Haus hinein der Sohn,
eh’ nicht ein Querholz ist abgerissen,
eh’ nicht der Haustürsturz erhöht ist!

Stirnwand gezimmert aus Bärengebein,
vogelbeinern die Seitenwände,
aus den Knochen des Wildrens die Rückwand,
meerufersteingemauert der Ofen,
brachsenschuppengeschindelt die Decke.

Schon kam der Schwiegersohn über die Schwelle,
eh’ das Querholz ward abgerissen,
eh’ der Haustürsturz erhöht ward!
Her ein Stück brennende Birkenrinde,
her den Span getränkt mit Kienharz,
will des Sohnes Augen sehn,
seine Augen blau oder rot!

<. . .>

<. . .>


Der intertextuelle Zusammenhang zwischen Volkspoesie und eigener Kreation ist unverkennbar, die Entdeckung ein Schritt aus dem Halbdunkel von nahezu acht dazwischen liegenden Jahren. Im übersetzerischen Umgang mit Volkspoesien wie der sámischen, finnischen oder lettischen hat sich der Blick zum Quellgrund des Gedichts geschärft und Impulse zu altneuer Bildlichkeit ausgelöst. Ein Durchstich zu womöglich Uraltem, erprobt an imaginiert brenzlicher Gegenwart. Die eigene Biographie deutet auf sich wiederholende Migrationszüge zurück, Zeiten Zeiträume Geschichte, deren Imagination einen Raum umfaßt, der, von mediterranem Weltzeitraum akkompagniert, Mare balticum heißen darf. Europa als Nabel zu durchlebender Existenz mit klimatisch nördlicher, wie auch immer schicksalhaft bedingter Dominanz, und Poesie als dem Versuch, Land und angrenzende Region der Geburt im durchnervenden Gefälle ihres Fortlebens zu Wort kommen zu lassen –

Schreiben von Gedichten ist Lotung und Grenzbegehung form- wie sujetbestimmt. Die Texte reihen und vernetzen sich, zielen auf ein dem Blick sich entziehendes Ganzes. Das zuletzt ablesbar zyklisch angeordnete Geflecht, dem die beiden einander streifenden Textbeispiele „Treibeis“ und „Über den Sund“ abgelöst sind, kann als Matrix im Bild unterströmiger Bewegung begriffen werden. Ein leitendes Strukturprinzip aber ließe immer nur als paradox nachträglich vorausgeahnt sich artikulieren. Es sind am Anfang die Wörter, die vom zündenden Bilderlebnis her memoriert annehmbar werden, Wort an Wort jedes für sich genommen.

Die Genese eines Gedichts im Muster aus Wörtern Versen Strophen weist auf den Sprache und Sprechen regulierenden wie deregulierenden, literarischen wie nicht literarischen Kontext, auf Konvention wie auf Durchbrechung von Konvention. Die Sprache hört im eigenen Echoraum mit, spricht und widerspricht, bezogen auf den Umgang mit ihren Realien. Zur Interpretation dem Verständnis wie Mißverständnis freigegeben, nimmt das Gedicht es mit Metaphorik und Syntax der Alltagsrede auf, zwingt Leser und Sprecher in ihr verfremdend anderes Atemgesetz. Das vordringlich Zumutende ist seine Form – im „Treibeis“-Text die Dreischritt-Haikufolge poetologischer Selbstreferenz.

Das Haiku und seine arithme­trisch, sieben­silben­zeilig abgerundete Erweite­rung im Tanka zeigen die Feld­linien eines Terrains wie es knapper, getragen von Leere –, verschwie­gener nicht Wort werden könnte. Die vom Geist des ZEN karg gehaltenen japanischen Kurz­gedichte bieten wieder­kehrend auf­gegrif­fenen Anreiz beim Schreiben landschafts­geprägter, reiner Beschreibung allergisch sperriger Verse. Sie zeigen Wahl­verwandt­schaft zum sámischen Juoik, zur karelischen Rune wie auch lettischen Dainas. Der Versuch einer eigen­produktiven An­nähe­rung an Hölderlins späte Hym­nen­frag­mente schlägt im „Nachtkreis“-Zyklus, dem die beiden Gedichte „Treibeis“ und „Über den Sund“ angehören, einen überraschend poetolo­gischen Bogen. Der zehnte, letzte Zyklus schließt die Sammlung mit sieben Tankas ab, beginnend mit dem Kindheitsgedicht „Labiau 1937“:

Höfe durchstreifen
Herbst wie Winter hinter der
Maske des Tigers

Zwischen Grau und Weiß der Grat
den somnambul das Kind tanzt

Karakallio, Oktober 2008

Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt (Hg.)
Umkreisungen
25 Auskünfte zum Gedicht
poetenladen 2010
ISBN 978-3-940691-11-8
192 Seiten, 15.80 EUR

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2   Reste in der Hosentasche
3   Handwerk und Rätsel
4   Wirklichkeitsmorgen

Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker

Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
ND

In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text.
Zeichen & Wunder

Manfred Peter Hein, *1931 in Darkehmen, lebt seit 1958 in Finnland. Er studierte Germanistik, Kunstgeschichte, Geschichte und Finnougristik in Marburg, München, Helsinki und Göttingen. 1984 erhielt er den Peter-Huchel-Preis. Für seine Vermittlung von finnischer Literatur in deutscher Sprache wurde er 1974 mit dem Finnischen Staatspreis ausgezeichnet. Die im Beitrag zitierten Gedichte stammen aus Nachtkreis (Göttingen: Wallstein 2008).

Manfred Peter Hein  25.09.2009   

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