Umkreisungen 25 Auskünfte zum Gedicht
Herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt
Mit Beiträgen von Andreas Altmann, Klaus Anders, Jürgen Brôcan, Matthias Buth, Hugo Dittberner, Dieter M. Gräf, Martina Hefter, Manfred Peter Hein, Henning Heske, Stefan Heuer, Norbert Hummelt, Ulrich Koch, Jan Kuhlbrodt, Norbert Lange, Christine Langer, Stefan Monhardt, Jürgen Nendza, Tom Pohlmann, Marion Poschmann, Bertram Reinecke, Lars Reyer, Walle Sayer, Ludwig Steinherr, André Schinkel, Mathias Traxler
Vorwort | Nachwort
Dieter M. Gräf
HOCHHÄUSER BESTIMMEN IM CENTRAL PARK
an den Bürger
steig gekippter Eis
würfelhaufen aus die Whitneywärter, um
gepolte Raubtiere unendlich
machender Kunst
dem die Tauben
Futter picken
sagt es „alles adamitisch, erhaben, postpagan“?
am Fuße der Silver
Towers diesen schier tauben
farbenen Eichhörnchen zuhören,
– here is the über-glam lifestyle
– here is the toll-free terrorism hotline
– wir gehen Hochhäuser bestimmen im Central Park
Gedicht aus: Buch Vier (Frankfurt / Main: FVA 2008)
HOCHHÄUSER BESTIMMEN IM CENTRAL PARK lässt sich als sprachliche Assemblage lesen. In der oberen Hälfte kollidieren zwei Kurztexte. Links eine Wahrnehmung von der Straße, ein Detail: ein an den Bürgersteig gekippter Eiswürfelhaufen, aus dem die Tauben Futter picken. Alltäglich und dennoch betörend. Die Kunst besteht hier darin, sich für die Wiedergabe dieses Momentes zu entscheiden und auf alles Drumherum zu verzichten: auf jede Veredelung, Verfremdung, Verkunstung.
Von rechts kommt, in Kursivschrift, eine Innenraumsequenz in diese kleine Epiphanie, die in einem Kunst-Raum spielt: es ist von Whitneywärtern die Rede (also von Wärtern des Whitney Museum for American Art), von denen behauptet wird, sie seien umgepolte Raubtiere unendlich machender Kunst. Ein umgepoltes Raubtier mag ein Wesen sein, das sich der verkleinernden Existenz domestizierter Zivilisation zu entziehen weiß, ohne ins Animalische zu fallen. Während die links stehende Außenaufnahme fotoähnlich da zu sein scheint, ist die von der anderen Seite hineingeratende Innenaufnahme behauptend, interpretierend, kunsthaft und damit wagend. Auch in der Sequenz könnte man von einer kleinen Epiphanie sprechen – die Erscheinung des Herrlichen geht hier von Wärtern aus, oder besser: von dem Zusammenspiel zwischen Räumen, Werken, Menschen, die in ihnen existieren. Die von der Kunst verwandelten oder ihr Gemäßen scheinen also hier nicht in den Büroetagen zu sein, sondern diejenigen, die mit all dem sind und ihre Ausgegrenztheit, die aufgrund sozialer oder ethischer Herkunft gegeben sein mag, dadurch auflösen.
Jedenfalls gerät das von rechts kommende Sprachelement, das Interpretation herbeizieht, das also aus dem Kunst-Bereich in zweifacher Hinsicht kommt, in das linke, in dem sich die Kunst darin zeigt, dass sie sich zurücknimmt um anstelle von mehr oder weniger virtuosem Ego Welt und Wirklichkeit durchscheinen zu lassen. Beide Teile geraten in ein heikles, ungesichertes Zusammenspiel, das man als zufällig, labil, unfallähnlich erleben könnte, von dessen visueller Fixierung aber auch befremdliche Schönheit herstrahlt. Kippt man die Gestalt, mag man einen Wolkenkratzer sehen, oder eine Weltraumrakete.
Der obere Teil der Spracharbeit wird abgegrenzt durch eine Zeile in kleinerer Schrift, anscheinend wird eine Stimme wiedergegeben, die ominös ist und keinem Körper zugeordnet wird, und deren Vorhandensein fraglich bleibt: „alles adamitisch, erhaben, postpagan“ sind die ihr zugeordneten Worte. Durch Titel und Benennung eines Ortes im oberen Teil kann man versuchen, die nicht unraunenden, genauso aufgeladen wie salopp wirkenden Worte auf New York zu beziehen, freilich auch auf das, was vorher im Gedicht geschah.
Bezieht man, um einen Annäherungsversuch zu wagen, (post-)pagan auf New York, mag man an die Wolkenkratzer denken, an eine Architektur, die die christlichen Prachtbauten der Stadt in den Schatten stellt. Die säkularen Bauten scheinen sakraler als die, die für das Sakrale vorgesehen sind. Mag uns das zum Erhabenen führen, von dem Hegel meinte, es sei „der Versuch, das Unendliche auszudrücken, ohne in dem Bereich der Erscheinungen einen Gegenstand zu finden, welcher sich für diese Darstellung passend erwiese“? Entspringt das Gefühl des Erhabenen dem Hier und Jetzt – „dass hier und jetzt etwas ist, dass ‚es gibt‘“ (Lyotard) –, wäre das denn dann „adamitisch“, häretisch, brächte uns die reinere Wahrnehmung der paradiesischen Unschuld näher, aus den Lehren heraus, in ihre Substanz hinein? Hilft Lyotards Auffassung von der Schuld gegenüber dem Präsenten ... gegen die Erbsünde? Da denkt man sich leicht und viel zu viel, wenn man diesen unsichtbaren „Raben“ so hochlädt. Lyotard, übrigens, sieht die Schuld gegenüber dem Präsenten darin, dies (in der Kunst) zur Darstellung zu bringen – und zwar als Prozess, und nicht als Ergebnis.
Ist der „Rabe“ diesmal ein Eichhörnchen? Jedenfalls sprechen die in der unteren Hälfte der Arbeit. Während „Kunst“ im oberen Teil einerseits auf Wahrnehmung setzt und andererseits auf nicht vorhersehbare Interpretation eines energetischen Wahrnehmungsmomentes, und auf deren kollidierende Verbindung, funktioniert das Poetische hier durch die phantastische Erweiterung des Wahrgenommen. Der spielerisch eingesetzte Zeilenbruch dieser dreistufigen „Treppe“ zwinkert die sprechenden Eichhörnchen taub und verleiht ihnen eher pophaft eine Seheraura. Was für Stimmen mögen das sein, die die Eichhörnchen Manhattans wiedergeben? Man erwarte nicht zuviel: Here is the über-glam lifestyle. Here is the toll-free terrorism hotline. Wir gehen Hochhäuser bestimmen im Central Park. Eichhörnchen und Künstler beantworten unsere letzten Fragen heute nie und nimmer.
Dieser womöglich leicht übermotiviert angelegte Text entstand nach dem zweiten Treffen mit meinem Lektor. Hochhäuser bestimmen im Central Park erwies sich als einziges strittiges Gedicht im neuen Konvolut, und da ich spontan so wenig zu seiner Legitimierung zu sagen wusste, wollte ich das – auch vor mir – wieder ausgleichen durch eine Vergewisserung. Im Prinzip schreibe ich über dieses Gedicht wie über das eines anderen Autors: Ich gebe also nicht ein Konzept wieder, aus dem es entstanden wäre, sondern befrage das Gedicht im Nachhinein. Der Rabe als Terminus verweist auf Pasolinis Große Vögel, kleine Vögel, das Motiv taucht öfter auf im Konvolut. Wir warfen knapp ein halbes Dutzend Gedichte aus Buch Vier, und, obgleich ich alle mag, trauere ich keinem hinterher. Dieses aber wollte ich verteidigen und ist mir von Wert, auch wenn das Feedback, das ich einholte, zwiespältig war.
Das Insistieren auf diesem Gedicht hängt mit seiner Form zusammen und mit meiner Auffassung, wie ich als deutscher Dichter mit ganz anderen Räumen und ihren Erfahrungsmöglichkeiten umgehen kann. Seit einigen Jahren nutze ich jede gute Gelegenheit, außerhalb Deutschlands arbeiten zu können. Dies hat weder dazu geführt, dass ich eine mondänere Existenzform einnehme, noch, dass ich meine, von den Vorgängen in diesen Ländern viel zu verstehen oder gar vermitteln zu können. Meine Befähigung sehe ich nicht hierin, sondern versuche, andere kulturelle und atmosphärische Räume in unsere hiesige Gedichtsprache zu transferieren, mit dem Anliegen, sie weiten zu wollen. Nicht wenige meiner Kollegen kennen sich in all diesen Ländern bestimmt viel besser aus als ich, aber gelegentlich irritiert mich, dass ich auch deren dort anzusiedelnde Gedichte auf eine ungute Weise deutsch finde. Ich meine, dass ein Gedicht, das aus Erfahrungen mit der Wüste kommt, anders zu atmen hat als eines, das von Berlin spricht, und das wiederum hätte anders zu klingen als eines aus Südeuropa oder aus Indien. Um dies zu erlauben, scheint es mir nötig zu sein, Strukturen im deutschsprachigen Gedicht möglich zu machen, die nicht aus unserer Tradition stammen können, welche naturgemäß aus dem Leben in Weimar, im Schwäbischen oder Preußischen entstanden ist, plus Italienreisen und Bibliotheksstudien.
Bei meinen Auslandsaufenthalten meine ich gelernt zu haben, dass hiesige Sprechweisen ganz anderen, beispielsweise amerikanischen Räumen nicht entsprechen können, deren Weite und Größenverhältnisse sind mit unseren gedrängten Versverhältnissen nicht adäquat wiederzugeben. Ob Hochhäuser bestimmen im Central Park ein „gutes“ Gedicht ist, weiß ich nicht wirklich. Aber für mich öffnet es, auch in seinen ästhetischen Bezügen zu anderen Gedichten dieses amerikanischen Kapitels, zumindest meine Möglichkeiten, Gedichte zu schreiben, die freilich deutsche Gedichte sind, aber das nicht ihren Gegenden überstülpen. Vielleicht ist Der nackte Ginsberg, beispielsweise in lyrikline veröffentlicht, das „bessere“ Gedicht. Aber es interessiert mich nicht so sehr, in der Hinsicht. Zwar steckt es voller Wahrnehmungen, jedoch die Form, in der sie aufgerufen werden, hätte ich genauso gut in Hamburg entwickeln können. Damit will ich Gedichte nicht gegeneinander abrechnen, sie haben jeweils ihre Vorzüge und ihre Problematiken. Ich meine, dass sie sich ergänzen, in gewisser Weise auch hinterfragen, kommentieren. Ich mag jedes Einzelne, aber eigentlich gehören sie zusammen, in diesen Verbund des Kapitels, des Bandes. Sie sind da wie ein Team: sehr unterschiedliche Temperamente, die nicht gleichgeschaltet werden, aber freilich auch nicht einfach nur zufällig nebeneinander stehen. Sie bilden keine Serie, sondern eine Formation, die in die Tiefe des Raums soll.
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Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt (Hg.)
Umkreisungen
25 Auskünfte zum Gedicht
poetenladen 2010
ISBN 978-3-940691-11-8
192 Seiten, 15.80 EUR
portofrei lieferbar
Das Buch im Verlag
Kapitel
1 Die Innenseite des Papiers
2 Reste in der Hosentasche
3 Handwerk und Rätsel
4 Wirklichkeitsmorgen
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Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker
Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
ND
In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text.
Zeichen & Wunder
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Dieter M. Gräf, *1960 in Ludwigshafen, 2004/05 in Rom, New York und Vèzeley und nun in Berlin. Er studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie in Mannheim und ist seit 1992 freier Schriftsteller. 1997 erhielt er den Leonce-und-Lena-Preis. Weitere Auszeichnungen: Stipendium Villa Massimo Rom und Pfalzpreis für Literatur.
Dieter M. Gräf 03.12.2009
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UMKREISUNGEN
netz und buch
Wöchentlich folgt
ein Beitrag online (*)
Jürgen Brôcan: Einige Vorsätze
Die Geometrie des Gedichts
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Bin wieder hier vorbeigekommen und habe diesen Text gesagt
L’ autre monde oder:
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Das Pferd betreffend (Stücke)
Kraniche am Himmel –
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J. Kuhlbrodt: Vom Diskurs zur Freiheit
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