Umkreisungen 25 Auskünfte zum Gedicht
Herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt
Mit Beiträgen von Andreas Altmann, Klaus Anders, Jürgen Brôcan, Matthias Buth, Hugo Dittberner, Dieter M. Gräf, Martina Hefter, Manfred Peter Hein, Henning Heske, Stefan Heuer, Norbert Hummelt, Ulrich Koch, Jan Kuhlbrodt, Norbert Lange, Christine Langer, Stefan Monhardt, Jürgen Nendza, Tom Pohlmann, Marion Poschmann, Bertram Reinecke, Lars Reyer, Walle Sayer, Ludwig Steinherr, André Schinkel, Mathias Traxler
Vorwort | Nachwort
Henning Heske
Partikelwolken
Programmierte Lacke und intelligenter Staub
vom molekularen Fließband. Die Form
folgt der Funktion. Selbstreproduktive Maschinen
im Reich der Zwerge. Fantastische Reisen
durch die Blutbahn. Der Geist
im Quantenspiegel des Nanokosmos.
Roboterschwärme – selbstisolierende Röhren
auf Trägerblocks. Amorphe Kügelchen,
Latexperlen und magnetische Marker.
Unten gibt es noch viel Platz.
In abweichender Geometrie alles
atomar neu gestrickt: ultradünner Draht wie
Bakterienkompass. Genetische Sonden durchforsten
Bibliotheken bekannter DNA-Sequenzen.
Parallele Welten
Das ungelöste Problem der Superposition:
die Überlagerung mehrerer möglicher
Zustände. Hier und dort,
einzigartige Kopien unserer selbst.
Verwirrende Verzweigungen.
Ein Versuch der Beschreibung durch
Wellenfunktionen –
Wahrscheinlichkeiten der Wirklichkeit.
Trost im Gesamtzustand:
der Beobachter bleibt
ein integraler Bestandteil.
Fragmente einer naturwissenschaftlichen Poetologie
Positionsangabe I: Dem Verschwinden des lyrischen Subjekts folgt die Degeneration der Verben, ein grammatikalischer Artenschwund. Statische Poesie als globaler Fokus.
Konsequenz: Präzise Fachterminologie als Identifikation zur Decodierung von Expertenwissen.
Beispiel: Partikelkollisionen erzeugen Energiedefizite. Dieser Satz aus einem physikalischen Fachbuch eignet sich auch als poetischer Baustein. Die Lyrik darf sich thematisch nicht nur zurück in die Natur flüchten und diese als Kontrastwelt zur anthropogen gestalteten Umwelt darstellen, sie muss sich auch mit den fortschreitenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzen.
Zielperspektive: In diesem Zusammenspiel leuchtet Transzendenz auf.
Programmatik: Der spezielle Schwerpunkt meiner lyrischen Arbeit ist die periodische Annäherung an eine neue Poesie der Wissenschaften, speziell der Naturwissenschaften oder präzise der exakten Wissenschaften Astrophysik, Biochemie, Chemie, Genetik, Geowissenschaften, Informatik, Mathematik und Physik. Aus diesen Bereichen stammen auch die programmatischen Titel meiner Gedichtbände. Der Fachbegriff „Ereignishorizonte“ besitzt eine immanente lyrische Aufladung und eröffnet einen subjektiven Klang- und Bildraum, unabhängig von der Kenntnis seiner astrophysikalischen Bedeutung in der Theorie der Schwarzen Löcher. Gleiches gilt für „Wegintegrale“ – damit werden die Grenzwerte der auf stetigen Wegen gewonnenen, aufsummierten Erkenntnisse bezeichnet. In diesem Band beschäftigt sich unter anderem ein Gedichtzyklus mit „Bionik“, der technischen Anwendung von biologischen Errungenschaften.
Positionsangabe II: Entkleidung aus dem Korsett der Formen, aber Stabreime als lyrisches Stilmittel: Alliterationen arrangieren Assoziationen. Bedeutungsübertragung durch Komposita. Aufladung von Fachbegriffen durch Verfremdung der Kontexte. Entsubjektivierung als Versuch der Objektivierung bedingt eine Substantivierung. Hohe semantische Konzentration im Textkörper.
Werkstattbericht: Die Naturwissenschaften bilden eine Fundgrube für Neologismen. Viele dieser Wortneuschöpfungen sind bereits leicht poetisch aufgeladen. Das galt früher schon für Begriffe der deskriptiven Biologie, die Flora und Fauna mit so poetischen Namen wie „Augentrost“ (eine Pflanzengattung) und „Fensterschwärmer“ (eine Schmetterlingsfamilie) beschrieb. Bereits Goethe nutzte den chemischen Begriff der „Wahlverwandtschaften“, die Vorstellung vom Tanz der Moleküle, als zentrales Motiv für seinen bedeutenden Roman über verhängnisvolle zwischenmenschliche Anziehungskräfte und Verbindungen. Heute heißen solche Fundstücke zum Beispiel „Vergangenheitsmenge“, „Eigenwert“, „Selbstähnlichkeit“, „Reizumwandlung“ oder „Teilchenschauer“. Hinzu kommt eine Vielzahl von Fremdwörtern, die teilweise ebenfalls poetisch nutzbar sind: „Refugialbiotop“, „Kontinuumshypothese“, „Protuberanzen“ …
Fündig werde ich in Wissenschaftszeitschriften, Fachbüchern und speziellen Lexika. Ich suche neue, nicht ausgereizte Themengebiete und durchforste dort die Texte nach Inhalten und Fachbegriffen mit lyrischem Potential, die sich in einen verfremdeten Kontext gestellt weiter poetisch aufladen lassen. Sonnenstrahl, Windrad und Sternenlicht gehören nicht dazu – das sind zu gewöhnliche, bereits abgegriffene Wörter. Ganz im Gegensatz zum mathematischen Terminus „Wellenfunktion“, auf den ich in einem Aufsatz über die Theorie der multiplen Universen stieß. Es ist nachrangig, dass mit dieser Wahrscheinlichkeitsfunktion sehr abstrakt Quantenzustände bestimmt werden. Der Begriff besitzt ein hohes Assoziationspotenzial. Verwendung in meinem Gedicht findet jedoch nur der Plural, denn nur dann klingt die Welle nachhaltig rhythmisch durch das Gedicht: „Wellenfunktionen –“
Der Physiker Hugh Everett entwickelte in den 50er Jahren eine Theorie der Quantenmechanik, deren Interpretation zu der Annahme führt, dass zahlreiche Parallelwelten, Verzweigungen des Universums existieren. Eine faszinierende und zugleich zutiefst verstörende Vorstellung. Eignen sich solche Kopfgeburten als Gegenstand eines postmodernen Gedichts? Unbedingt. Denn es handelt sich um existenzielle Überlegungen zu unserem Dasein. Sein und Zeit waren immer schon die zentralen Motive der Lyrik.
Der Begriff „Parallelwelten“ birgt eine assoziative Verknüpfung zu „Parallelgesellschaften“. Damit würde der gedankliche Fokus jedoch zu stark verengt werden und gesellschaftliche Problemstellungen mit einbinden, die ich nicht intendiere. Eine Verwendung des Terminus „Parallelräume“ wäre denkbar, er wirkt jedoch indifferent. Ich entscheide mich nach gründlicher poetischer Abwägung schließlich für „Parallele Welten“ als Gedichttitel. Dieses Wortpaar knüpft an Alltagssprache und allgemeine Vorstellungen an, eröffnet jedoch durch seine ungewöhnliche Verbindung neue Gedankenspielräume. Zudem besitzt es durch seinen Rhythmus und seine Vokalfolge mit abschließender Assonanz eine besondere lyrische Form.
Ausblick: Eine naturwissenschaftliche Poetologie hat nicht nur den Makrokosmos, sondern auch den Mikrokosmos im Visier und vergisst dennoch nicht den Menschen, auf den sich – zumindest in der Literatur – alles bezieht. Exemplarisch für die lyrische Betrachtung des fast unendlich Kleinen steht das Gedicht „Partikelwolken“, das Vorgänge, Errungenschaften und Erkenntnisse der Nanotechnologie aufgreift.
Konzeption: Opak oder luzid? Von allem ein bisschen. In hermetische Räume fällt kein Licht. Das poetische Konzept verlangt eine geeignete Mischung der Ingredienzien.
Agenda: Eine Hermeneutik der Naturerscheinungen.
|
|
Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt (Hg.)
Umkreisungen
25 Auskünfte zum Gedicht
poetenladen 2010
ISBN 978-3-940691-11-8
192 Seiten, 15.80 EUR
portofrei lieferbar
Das Buch im Verlag
Kapitel
1 Die Innenseite des Papiers
2 Reste in der Hosentasche
3 Handwerk und Rätsel
4 Wirklichkeitsmorgen
|
Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker
Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
ND
In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text.
Zeichen & Wunder
|
Henning Heske, * 1960 in Düsseldorf, lebt seit 1997 in Dinslaken. An der Universität Düsseldorf studierte er Mathematik, Geographie sowie Germanistik und promovierte dort. Er veröffentlichte Kinder- und Jugendbücher, Lyrikbände, Essays sowie Interpretationen für die Frankfurter Anthologie. Das Gedicht Partikelwolken stammt aus seinem Gedichtband Wegintegrale (Lyrikedition 2000, 2006).
Henning Heske 14.01.2010
|
UMKREISUNGEN
netz und buch
Wöchentlich folgt
ein Beitrag online (*)
Jürgen Brôcan: Einige Vorsätze
Die Geometrie des Gedichts
dannmals, baldhin, dadorthier
Einige Zusammenhänge
SIND NOCH SCHWALBEN DA?
Ein Gedicht und seine Geschichte
Drei Gedichte – Zyklisches Schreiben
wärme (Kapitel: Wirklichkeitsmorgen)
ich denke oft an pieroschka bierofka –
ein sattes grün in kleinen schritten
Luftwurzeln
Hochhäuser bestimmen
Selbstdiagnose
Im Steinbruch
Da Apfl
die stille fällt ins wort
Fragmente einer naturwissenschaftlichen Poetologie
Belladonna
Bin wieder hier vorbeigekommen und habe diesen Text gesagt
L’ autre monde oder:
Von der Unmöglichkeit
Ins Leere
Mikroklima, Mikroflora, Mikrofauna
Nomaden
Das Pferd betreffend (Stücke)
Kraniche am Himmel –
oder wie ein Gedicht entsteht
J. Kuhlbrodt: Vom Diskurs zur Freiheit
|