poeten | loslesen | gegenlesen | kritik | tendenz | news | links | info | verlag | poet |
Carl-Christian Elze
Gehirn
Ein guter Freund hat im Gehirn ein T. Daran lässt sich nicht rütteln. Leider. Eintausendmal leider. Das T ist zufällig entdeckt worden, so wie die meisten T's zufällig entdeckt werden, und alle Experten sagen, dieses T ist nicht operabel. Aber warum nicht operabel? Ihre Antwort ist: Weil das T ungünstig sitzt! Weil es sich sternig strahlend in vorzügliche Strukturen hineinbewegt hat, genauer gesagt, sich in solche absolut notwendigen Strukturen hineinmanövriert hat, die erst das lebendigmachende Fühlen und Sich-
Aber nein. Jeder fürchtet sich bereits vor dem allerkleinsten Schaden. Der größtmögliche Schaden, der genau genommen vielleicht gar kein Schaden mehr ist, bleibt unvorstellbar. Der allerkleinste Schaden aber wäre schon gewaltig, und muss verhindert werden. Lebendigmachendes Fühlen, Sich- Zunächst verflucht man diesen Henker da oben, der einem etwas derart Gemeines verpasst hat; verhält sich also tatsächlich so, als ob es diesen Henker wirklich gäbe. Man tobt und zürnt … aber auch das vergeht. Und schon kommt man sich wieder so abgrundtief dumm dabei vor, diese durchsichtige und an allem völlig uninteressierte Luft anzufauchen. Ein ganz und gar sinnloses Schuldzuweisungsunternehmen, begreift man und weint. Auch wenn ich meinen Freund noch nie habe weinen sehen, nicht vor und nicht nach der Entdeckung des T's, so muss man doch annehmen, dass er geweint hat. Wir alle würden weinen; schrecklich weinen. Ich stelle mir vor, es heißt: „Ihr T wird nicht kleiner werden, es bleibt in Ihrem Kopf, aber wir halten es in Schach“. So oder so ähnlich werden Worte aneinandergereiht, aber niemand kennt dieses T persönlich und kann sagen, was es wirklich will. Vielleicht will es wachsen und groß werden, aber vielleicht will es auch klein bleiben, Kind sozusagen. Doch welche Kinder wollen schon klein bleiben? Wir sollten schweigen! Und können wir nicht schweigen, so sollten wir uns zumindest hüten vor solchen Vergleichen! Denn ein Kind ist kein T und ein T kein Kind! Ein Kind wächst immer, muss wachsen, auch wenn es nicht wollen würde. Ein T aber kann wachsen, muss aber nicht! So ist es besser; sofort Schluss mit all diesen falschen Vergleichen! Aber das schaffen wir nicht. In unseren Köpfen wimmelt es ja geradezu von falschen Bildern, Vorstellungen und Vergleichen. Es wimmelt von lauter falschen Hilfsvorstellungen, die aber, wenn auch falsch, zuweilen dennoch hilfreich sind, wie uns das Wort schon sagt. Und weil es gar keine Alternativen zu diesen menschlichen Hilfsvorstellungen im Kopf gibt, wollen wir auch gar keine anderen Hilfsvorstellungen im Kopf haben als unsere verkorksten menscheneigenen. Aber zurück zur Ausgangssituation! Obwohl ich mich langsam frage, warum wollen wir denn zu dieser verdammten Ausgangssituation eines T's im Kopf, im Gehirn, hineingefressen in die weiße und graue Substanz, warum wollen wir denn dahin zurück? Man kann nur Vermutungen anstellen. Vielleicht wollen wir ja dahin zurück, weil jede konzentrierte Beschäftigung mit irgendetwas genau denjenigen Zustand eines Gehirns voraussetzt, den sich mein Freund so lange wie möglich zu erhalten wünscht, und zwar von ganzem Herzen. Er möchte sein gut funktionierendes Gehirn voller Hilfsvorstellungen behalten, fürchtet er sich doch vor dem genauen Gegenteil, nämlich einem Gehirn, das auf keinerlei Hilfsvorstellungen mehr zurückgreift, weil es keinerlei Hilfsvorstellungen mehr braucht. Es ist zum Kotzen. Ich weiß, wir fallen aus der Rolle, aber seit ich diesen Text verfasse, habe ich schon mehrmals bereut, diesen Text angefangen zu haben, so wie man bereut, den Mund geöffnet zu haben für einen Gedanken, der noch nicht zu Ende gedacht ist. Andererseits erlebt man so oft die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, dass es einem Mut macht. Wie oft bin ich schon dem Rat von K. gefolgt und habe mir einen, ich sage einmal Hauptgedanken, damit gelockert und aus dem Mund herausgezogen, indem ich mich dem Druck aussetzte, eben dieses blockierte Ding einem besonders aufmerksamen Zuhörer zu überreichen wie einen schönen Knochen. Ich sage das nur, weil ich denke, dass ich in meinen Ausführungen noch zu keinem Hauptgedanken vorgestoßen bin. Nicht einmal ansatzweise. Obwohl es scheint, dass sich die Sätze fügen. Aber auch das kann täuschen. Es ist nicht viel, was bisher berichtet wurde. Man kann sagen, im Grunde rechnet niemand mit Wundern. Worte wie Wunder und rechnen passen nicht zueinander. Für gewöhnlich wird mit dem Schlimmsten gerechnet. Aber was ist denn das Schlimmste? Das Schlimmste ist der Tod, denkt ein Lebendiger, der das Leben zu deutlich sieht: Mein Freund sieht das Leben, jetzt, wo es ihm bedroht erscheint, viel deutlicher. Die Menschen sehen wunderbar verschwommen, solange sie gesund sind. Dann lebt es sich wie ewig. Das geht eine schöne Weile gut. Das ist der Idealfall. Aber vielleicht gibt es ja gar keinen Idealfall. Und wenn doch, ist es vielleicht der Idealfall, dass das Leben als etwas außerordentlich Bedrohtes aufscheint. Und zwar jeden Tag. Denn jede Bedrohung ist auch eine Befreiung ... Was seltsam klingt. Wie kommen wir nur darauf? Wir sollten wirklich schweigen. Denn auch jeder Hauptgedanke, einmal ausgesprochen, scheint schon wieder abwegig zu sein. Aus: Aufzeichnungen eines albernen Menschen
|
Carl-Christian Elze
Prosa
Lyrik
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany |
virtueller raum für dichtung |