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Carl-Christian Elze
Gehirn
Ein guter Freund hat im Gehirn ein T. Daran lässt sich nicht rütteln. Leider. Ein­tausend­mal leider. Das T ist zufäl­lig entdeckt worden, so wie die meisten T's zu­fällig entdeckt werden, und alle Experten sagen, dieses T ist nicht opera­bel. Aber warum nicht operabel? Ihre Antwort ist: Weil das T ungünstig sitzt! Weil es sich sternig strahlend in vorzügliche Strukturen hinein­be­wegt hat, genauer ge­sagt, sich in solche absolut notwendigen Strukturen hinein­manö­vriert hat, die erst das lebendig­machende Fühlen und Sich-bewegen-können des ganzen schönen Kör­pers ermög­lichen. Da will ver­ständ­licher­weise keiner, auch der nicht, der es theo­retisch könnte, praktisch hinein. Nichts darf auch nur leicht be­schädigt werden an einem Gehirn, handelt es sich doch um ein unge­heures und unge­heuer empfind­liches Wunder­werk, vielleicht um das komple­xeste Gebilde des Uni­versums. Aber ist die Gefahr, zer­stört zu werden, für das Gehirn meines Freundes nicht inzwi­schen weit größer, als die Gefahr bloß beschädigt zu werden? Und müsste man nicht deshalb sofort und augen­blick­lich hinein, egal wie?
Aber nein. Jeder fürchtet sich bereits vor dem allerkleinsten Schaden. Der größt­mögliche Schaden, der genau genommen vielleicht gar kein Schaden mehr ist, bleibt unvor­stell­bar. Der allerkleinste Schaden aber wäre schon gewaltig, und muss ver­hindert werden. Lebendig­machen­des Fühlen, Sich-bewegen-Können, Denken-Können, Sprechen-Können, all das stünde auf dem Spiel, versuchte man diesem feindlichen T, denn wie soll man es nicht als Feind betrachten, mit dem Messer näher zu treten. Die dring­lichste Frage ist deshalb jetzt die: Wie verhält sich dieses T? Was hat es vor? Oder was hat Einer, auf den das T hört, eigentlich vor? Und gibt es wirklich diesen Einen?
Zunächst verflucht man diesen Henker da oben, der einem etwas derart Gemeines verpasst hat; verhält sich also tatsächlich so, als ob es diesen Henker wirklich gäbe. Man tobt und zürnt … aber auch das ver­geht. Und schon kommt man sich wieder so abgrundtief dumm dabei vor, diese durchsichtige und an allem völlig uninteres­sierte Luft anzufauchen. Ein ganz und gar sinn­loses Schuld­zu­weisungs­unter­nehmen, begreift man und weint.
Auch wenn ich meinen Freund noch nie habe weinen sehen, nicht vor und nicht nach der Ent­deckung des T's, so muss man doch an­nehmen, dass er geweint hat. Wir alle würden weinen; schrecklich weinen. Ich stelle mir vor, es heißt: „Ihr T wird nicht kleiner werden, es bleibt in Ihrem Kopf, aber wir halten es in Schach“. So oder so ähnlich werden Worte an­einander­gereiht, aber niemand kennt dieses T persönlich und kann sagen, was es wirklich will. Vielleicht will es wachsen und groß werden, aber vielleicht will es auch klein bleiben, Kind sozusagen. Doch welche Kinder wollen schon klein bleiben?
Wir sollten schweigen! Und können wir nicht schweigen, so sollten wir uns zu­min­dest hüten vor solchen Vergleichen! Denn ein Kind ist kein T und ein T kein Kind! Ein Kind wächst immer, muss wachsen, auch wenn es nicht wollen würde. Ein T aber kann wachsen, muss aber nicht! So ist es besser; sofort Schluss mit all diesen falschen Vergleichen!
Aber das schaffen wir nicht. In unseren Köpfen wimmelt es ja geradezu von fal­schen Bil­dern, Vor­stel­lungen und Ver­gleichen. Es wimmelt von lauter falschen Hilfs­vorstel­lungen, die aber, wenn auch falsch, zuweilen dennoch hilf­reich sind, wie uns das Wort schon sagt. Und weil es gar keine Alter­nativen zu diesen mensch­lichen Hilfs­vorstel­lun­gen im Kopf gibt, wollen wir auch gar keine anderen Hilfs­vorstel­lungen im Kopf haben als unsere ver­korksten menschen­eigenen. Aber zurück zur Aus­gangs­situation! Obwohl ich mich langsam frage, warum wollen wir denn zu dieser verdammten Aus­gangs­situation eines T's im Kopf, im Gehirn, hineinge­fres­sen in die weiße und graue Substanz, warum wollen wir denn dahin zurück?
Man kann nur Vermutungen anstellen. Vielleicht wollen wir ja dahin zurück, weil jede konzentrierte Beschäftigung mit irgend­etwas genau denjenigen Zustand eines Gehirns voraus­setzt, den sich mein Freund so lange wie möglich zu erhalten wünscht, und zwar von ganzem Herzen. Er möchte sein gut funktio­nierendes Gehirn voller Hilfs­vorstel­lungen behalten, fürchtet er sich doch vor dem genauen Gegen­teil, nämlich einem Gehirn, das auf keinerlei Hilfs­vorstel­lungen mehr zurück­greift, weil es keinerlei Hilfs­vorstel­lungen mehr braucht.
Es ist zum Kotzen.
Ich weiß, wir fallen aus der Rolle, aber seit ich diesen Text verfasse, habe ich schon mehrmals bereut, diesen Text angefangen zu haben, so wie man bereut, den Mund geöffnet zu haben für einen Gedanken, der noch nicht zu Ende gedacht ist. Ande­rer­seits erlebt man so oft die allmähliche Verfer­tigung der Gedan­ken beim Reden, dass es einem Mut macht. Wie oft bin ich schon dem Rat von K. gefolgt und habe mir einen, ich sage einmal Haupt­ge­danken, damit gelockert und aus dem Mund heraus­gezogen, indem ich mich dem Druck aus­setzte, eben dieses blockierte Ding einem beson­ders auf­merk­samen Zuhörer zu über­reichen wie einen schönen Knochen.
Ich sage das nur, weil ich denke, dass ich in meinen Ausführungen noch zu keinem Haupt­gedanken vorge­stoßen bin. Nicht einmal an­satz­weise. Obwohl es scheint, dass sich die Sätze fügen. Aber auch das kann täuschen. Es ist nicht viel, was bisher berich­tet wurde. Man kann sagen, im Grunde rechnet niemand mit Wundern. Worte wie Wunder und rechnen passen nicht zu­einander. Für gewöhn­lich wird mit dem Schlimms­ten gerechnet. Aber was ist denn das Schlimmste? Das Schlimmste ist der Tod, denkt ein Leben­diger, der das Leben zu deut­lich sieht: Mein Freund sieht das Leben, jetzt, wo es ihm bedroht erscheint, viel deutlicher. Die Menschen sehen wunder­bar ver­schwom­men, solange sie gesund sind. Dann lebt es sich wie ewig. Das geht eine schöne Weile gut. Das ist der Idealfall. Aber vielleicht gibt es ja gar keinen Ideal­fall. Und wenn doch, ist es viel­leicht der Idealfall, dass das Leben als etwas außer­ordent­lich Bedrohtes aufscheint. Und zwar jeden Tag. Denn jede Bedrohung ist auch eine Befrei­ung ... Was seltsam klingt. Wie kommen wir nur darauf? Wir sollten wirk­lich schweigen. Denn auch jeder Haupt­gedanke, einmal ausge­sprochen, scheint schon wieder abwegig zu sein.

Aus: Aufzeichnungen eines albernen Menschen
Erzählungen. Verlagshaus J. Frank, 2014

Carl-Christian Elze    2014