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Christoph Wenzel – Archiv
zeit aus der karte (Rimbaud Verlag 2005)
MIT DEM KOMPASS liest du
die zeit aus der karte
eine in die fläche formatierte welt
geglättetes flachland darüber ein fingerzeig
auf einen ort in der falte
der verschwindet im klappen des plans
zwischen den rändern das standbild einer landschaft
aus papier und projektion
liegenschaften im staub unter dem auge
verblassen die farben der straßen und pfade
im licht unter der hand wird orientiert
bis nichts mehr geht
ein richtungsvektor deutet vage zum ziel
jenseits des ausschnitts
bei konstanter geschwindigkeit
läßt sich der weg dorthin
in sekunden beschreiben
ERSTE UND LETZTE ZEILE: bordsteine
am rand und flüchtige schienen im straßennaß
dazwischen ein bildbruch provoziert
die klirrende kälte im wind
geraten die metaphern schief
der schneelose winter –
ein unbestelltes feld der witterung
ein undeutliches wetter alles
nur abgebrochene versuche
eine jahreszeit zu beschreiben
an den rändern die ausläufer
eines tiefs – die eisheiligen:
ein kollektiv kalter tage das drängt sich
in den folgemonat der frost
hat seine bildsprache: eine plane
glashaut über den versen
legt den regen einen film auf eis
und alle zeichen stehen
auf stumm
DIE GRAMMATIK DER GLEISE
ein strenges regelwerk
von norm und verspätung
die typographie der differenz
etwa 30 minuten später
kommst du an
und bist schon nicht mehr
abkömmlich von hier
die weiteren anschlußmöglichkeiten
entnehmen wir den örtlichen
durchsagen beim verlassen
der zeit
IM TIEFSCHLAF liegt der letzte tag in bildern wach
diese nachsendung: eine montage aus ungereimtem
ein wirres protokoll des ungefähren wovon du erzählst
und ein begriff von gestern liegt dir noch auf der zunge
im erwachen atmest du tief ein und schnappst
mit den ersten augen schon nach licht
im verdunkelten zimmer durch die tür
hörst du die stimmen vom vortag reden:
ein kopiertes gespräch auf du und du in falschen zitaten
im strecken stemmst du die arme vergeblich gegen deinen schlummer
und während noch mal nacht wird über geistes gegenwart
schläfst du im licht mit mir
eine geschätzte stunde etwa wieder ein
ein SCHEINRIESE: der mond
sitzt dir im nacken und läßt nicht locker
den rückspiegel verstellst du
die linke hand am steuer
um zu sehen wer dir sonst noch folgt
aus kurzer distanz ein doppelmond
deckt sich mit den kreisen deiner pupillen: verdoppelung
auf dem glas das bild zweier scheinwerfer wie satzzeichen
im intimen inneren des fahrzeugs
vor dir der unterbrochene mittelstreifen
kommata zwischen den fahrbahnen
und hinter dir noch das gestreute fernlicht
eines trabanten
jüdisches museum, berlin
sternbruch: in der stadt
schlägt der blitz achsen
unter einen himmel in das fundament
frakturen der geschichte
hier ein bau von winkeln und
wundem gedächtnis
ein weg in hoffmanns garten: eine straße
ins exil eine andere zum turm
einbahnstraßen sind hier
und immer wieder sackgassen die im
toten winkel münden
eine treppe führt hinauf ins leben
between the lines jahrhunderte von schrift
und unterirdisch passagen
durch den kreuzberg
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