Björn Kuhligk und Jan Wagner (Hg.)
Lyrik von JETZT zwei
Die Freude über das Jetzt
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Björn Kuhligk, Jan Wagner
Lyrik von JETZT zwei
Anthologie
Berlin Verlag 2008
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Als „die jungen Milden“ hatte Peter Geist in der Süddeutschen die seinerzeit von Björn Kuhligk und Jan Wagner 2003 in der Anthologie Lyrik von JETZT versammelte Lyrikergeneration ab dem Jahrgang 1965 zusammengefasst. Er wollte damit ein Kennzeichen neuer Lyrik hervorheben, das sich hervordrängt, weil man die gesellschaftskritischen bis revolutionären Impulse der Vergangenheit, die Dichter und ihre Gedichte immer wieder gegeben haben zu den unterschiedlichsten Zeiten, in den Gedichten der Wohlstandsgeneration (um es in seiner Lesart klarer zu benennen als er tut) vergeblich sucht. Doch wenn man genauer hinschaut, und der Blick schärft sich noch an der eben erschienenen Fortsetzung jener Anthologie, dem Teil zwei mit wieder fünfzig neuen lyrischen Stimmen, dann kann man entdecken, dass die neue Lyrik eine stille Umwälzung enthält, einen Phasenübergang ohne formulierbare Utopie, eine Revolution im weitesten Sinne, nur dass sie sich immer nur auf den einzelnen bezieht und die Räume, die er für sich zu behaupten gedenkt. Jeder einzelne, der heute ins Schreiben findet, muß in sich eine Revolution durchlebt haben, um neben das Alte das Neue setzen zu können. Der Milde muß das Wilde überwunden haben.
Es macht selbst nach so kurzer Zeit von gerade einmal 5 Jahren tatsächlich Sinn eine erneute Sammlung vorzulegen und Kuhligk/Wagner erweisen sich als exquisite Kenner der Szene. Und es ist auch richtig erneut eine Jahrgangsgrenze zu ziehen. Diesmal legen sie, mit kleinen Abweichungen, die Orientierungslinie am Geburtsjahr 1975 an. In der großen Bandbreite der heute geschriebenen und veröffentlichten Lyrik, diesem farbigen Nebeneinander unterschiedlichster Gedichtlandschaften, gleichzeitig gestaltet von einer Vielzahl von Generationen, lässt sich womöglich ein Areal umzirkeln, ein topographischer Niederschlag aufspüren von dem, was „jung und jetzt“ im Schreiben bedeutet. Tendenzen, die sonst im everything goes nur verwaschen auszumachen wären. Da alle Kunst eine Gebärde ist, die sich aus kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen herleiten lässt, ist auch die neue Lyrik ein Abdruck des Kontexts der Zeit, eine graphische Spur seelischer Strömungen, eine Frottage aktueller Lebensbilder. Die generationstypischen Eruptionen zeigen ihr Fließmuster in allen künstlerischen Äußerungen, in Film und Musik, in Malerei und Literatur – sie werden deutlicher, wenn man sie zunächst isoliert, erscheinen in der Zusammenschau als Feld.
„Von der Flüchtigkeit und Partikularität der Lebensmomente wie der Gebilde, die sie festhalten wollen, hat noch keine Generation so viel gewusst wie diese.“ schreibt Gisela Trahms absolut treffend in ihrer Rezension zu „Lyrik von Jetzt zwei“. Und keine Generation hat so umfassend Einblick nehmen können in vergangenes und neues mögliches Schreiben und befand sich derart im Wettbewerb. Das Internet ermöglicht raschen Zugriff auf ein weitgreifendes, prächtig gedeihendes Literaturnetzwerk. Welten kommen und gehen mit einem Klick und sind nicht verbindlich. Das sind ein paar Kennzeichen des Felds. „Originell verfremdete Realitätsbezüge“, attestiert Axel Kutsch der neuen Generation. Die sich immer rascher auflösende Realität hinterlässt einen offenen Raum, der kaum mehr sinnvoll zu hinterfragen ist, außer reduziert auf Dinglichkeit in unscharfer Metrik. Nicht „die hilflose Beziehungskisten-Poesie“, wie Michael Braun in seiner Kritik des ersten Bandes bemäkelt, bestimmt die Inhalte, sondern das Beziehung schaffen, in Beziehung treten zur Welt. Und hier sind es die kleinen Dinge, die, wie in Zeitlupe erlebt, zu Orientierung verhelfen sollen. Das Verlässliche ist nicht das Gefühl, sondern das Fühlen. Es ist eine neue Innerlichkeit, die man begrüssen sollte als Auslotung und Vermessung, und nicht als Anmaßung. Was die neue Generation in der Dichtung tut ist nicht greifbar und verhandelbar auf dem Schauplatz von Theorie und Wissen, sondern geschieht im Offenen, also genau abgewandt von intellektuellem Sulz. Auch wenn die Lebensläufe der Akteure fast immer einen geisteswissenschaftlichen Studien-Hintergrund aufzeigen. Das Offene meint nicht den puren Zweifel und die zweifelnde Infragestellung, sondern den perspektivlosen Moment. Keine Generation bislang musste so zurückgedrängt auf Augenblickswelten für sich eine Orientierung finden und dabei noch auf wirkliche Utopien verzichten. Das Offene der Expressionisten war gefüllt mit Zukunft, unbekannter, neuer, möglicher, gültiger Welt, das Offene der Moderne ist das unüberwindbare Jetzt.
Vor dem Gedicht steht die Sprachlosigkeit. Dann erscheint die Frage: Was ist auf welche Weise noch irgendwie Gedicht? Nach dem Gedicht kennen wir Antworten und können sie vergleichen. Jedem, der heute dichtet, stellt sich diese Frage sehr viel wesentlicher und auch drängender als je. Wer sich in Reime und gültige Formen retten kann, der hat gut dichten (insofern hat Jan Wagner andernorts recht, wenn er den Reim als „kreativen Störfaktor im Schreibprozess“ brandmarkt, es kürzt ab und macht vieles leichter.). Die unterschiedlichsten Räume sind bereits weit erkundet und oft durch routinierte Virtuosen besetzt, so dass es nicht verwundert, wie mancher sich in das sehr individuell geprägte Reich der Assoziationen flüchtet. Vielgliedrige Karawanen überziehen die tiefe Landschaft des Gedichtes mit ganz persönlichen Sinnexpeditionen. Ein Ausweg, der, wenn er mit Cleverness in der Form einhergeht, auch bei einem Gedicht landet, das als supermodern durchgeht (aber vom Prozess her auch eine olle Kamelle ist). Auch die vorherrschende Kleinschreibweise ohne Punkt und Komma lässt so manches zu, was eher in die Kategorie Bastelstunde oder Trickkiste fällt, und trotzdem: all das will und muß ausgelotet sein. Und das spüren die Autoren heute überdeutlich: sie haben an die Grenzen zu gehen, mehr als jede Generation vor ihnen müssen sie klarer und feiner zu sehen versuchen, notfalls auf Kosten des eigenen Ichs. Michael Brauns Vorwurf greift also ins Leere, das Eigene, das in die Beziehung zur Welt gebracht wird, ist nämlich nicht das Ich, das um sich Theater macht und Dramen und Tragödien abfeiert, sondern es ist ein Ich, das sich dabei zusieht, ohne sich deswegen fremd zu sein. Nicht die erdige, betroffene, orangerote Innerlichkeit der siebziger Jahre, sondern eine beispielhafte, an den abgekühlten Wänden der Moderne sich stoßende, schwelt in den Hintergründen. Räume werden erobert, sehr offensiv und sehr bewusst, neue und solche, die man schon für besetzt hielt, in denen man nun aber andere Gültigkeiten behauptet.
Das sind beste Voraussetzungen für gute Gedichte, die auch reihenweise auf erfrischende Art und Weise gelingen. Natürlich gibt es auch schwächere Texte, vor allem da, wo sich Autoren in eine nicht authentische Reife hineinspielen und wo deswegen poetische Gelassenheit auch mal zu kaltherziger Distanz verkommt. Es gibt auch das Imitat. Aber ganz überwiegend hat dieser Band so viele schöne und überzeugende Überraschungen, dass man ihn nur wärmstens jedem Lyrik-Interessierten empfehlen kann. Ich nenne hier keine Namen, hebe niemanden heraus. Das Bild ist stimmig – Kuhligk und Wagner haben aus einem weit umfassenderen Pool jene Autoren abgefischt, die beispielhaft zeigen, warum und wieso sich die moderne Lyrik wohin entwickelt. „Es gab in der deutschsprachigen Literatur selten eine solche Breite an bemerkenswerten lyrischen Talenten wie in unseren Tagen“, konstatierte Axel Kutsch. Genau so ist es. Ich glaube, nicht nur das wollten Kuhligk und Wagner zeigen, diese enorme Dichte an Qualität, sondern auch: Lyrik geschieht wieder, nicht nur im social beat und nicht allein bei poetry-slams, und was geschieht hat literarische Relevanz. Es ist Zeit sich darüber zu freuen. Und sehr konzentriert streben diese Autoren in einen längst veränderten Literaturbetrieb hinein. Dort gibt es unabhängige Kräfte, die sie aufnehmen und die Impulse weitertragen – die Gedichte kommen an. Die Gedichte werden tatsächlich gelesen. Die Lyrik kommt aus dem Jetzt und belebt den Moment.
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