Die Antworten moderner Dichtkunst auf aktuelle Welterfahrung immer mehr ausschließlich in einer großstädtischen jungen Berliner Szene verorten zu wollen (und zu dieser Vereinfachung neigt der etablierte Literaturbetrieb, der einem vermeintlichen Trend zuliebe eigentlich interessante Autoren ausschließt, nur weil sie geographisch dort nicht zuhause sind), gibt ein völlig falsches Bild wieder, denn die Erfahrbarkeit von Welt ist grenzenlos und nicht in Reservate aufteilbar. Das zurückgezogene Erleben in der Provinz ist de facto gleich wahrhaftig wie dasjenige eines städtischen Treibens nah am Puls der Zeit. Wenn nicht sogar dichter und näher an seelischen Kernprozessen, die im städtischen Umfeld überspielt oder in Exzessen melodramatisiert werden. Dem Burgdorfer Lyriker Stefan Heuer ist es vor Jahren passiert, dass sein Manuskript von einem namhaften Verlag abgelehnt wurde, mit der einzigen Begründung, er müsse schon in Berlin leben, um im Literaturbetrieb wirksam unterzukommen. Wenn solche Argumente die Veröffentlichungs-Politik literarischer Verlage bestimmen, dann spätestens ist es Zeit, eine Debatte loszustoßen, was wir für eine Lyrik heute wirklich brauchen und ob ihre Funktion auf die seismographische Wiedergabe des modernen Lebenspulses in den städtischen Topographien beschränkt sein soll, oder ob wir nicht auch – heute mehr denn je – bedachte und bewußte Reflexionen aus dem weniger aufgewühlten Gebiet, aus den poetischen Niederlassungen der Provinz brauchen, um die tatsächlichen Weltsituationen wahrhaftiger abbilden zu können. Wenn die Poesie eine Beschreibung der Welt darstellt, mehr noch eine Art fünftes Element (wie sie der französische Lyriker René Char einmal bezeichnete), das einen Ausgleich zwischen innerem und äußerem Himmel sucht, dann kann nur eine in ihrer wahren Breite aufgeschlossene Poesie diesen Ausgleich ermöglichen, eine Poesie, die nicht nur in geographischen Räumen Trends auswalkt und Versteigungen ermöglicht, sondern inneren Widerhall in jedwedem möglichen Raum zuläßt. Ein Literaturbetrieb, der sich ausschließlich dem »the next big thing«, dem Kuriosum und dem Hype verpflichtet fühlt, fußt in einer völlig falschen Analyse des Notwendigen (»Welche Literatur brauchen wir?«) und auch des Vorhandenen (»Welche Literatur haben wir?«). Er läßt außer Acht »the real big things« und was sich sonst in Echtzeit sagen läßt über den Menschen in der Welt. Das legitime Interesse auf die Abbildung des Fortschritts in der Sprache, das allerdings auch bisweilen tatsächlich untalentierte und unreife Akteure in den Focus hineinzieht, so sie denn nur experimentell und unverschämt, neugierig und mutig genug sind (aber eigentlich sonst nichts weiter zu sagen haben), sollte man mit dem Interesse verbinden, Fortschritte in den Inhalten aufzuzeigen und so zu einer gesellschaftlich relevanten Kultur beitragen, die mehr transportiert als sinnfreie Sprachverliebtheit. Daß das in großen Teilen auch klappt und für eine äußerst spannende Gegenwartslyrik sorgt, soll hier nicht verschwiegen werden. Einen Gedichtband jedoch abzulehnen, weil der Erzeuger nicht aus Berlin kommt, das sollte – wie hier – öffentlich angeprangert und scharf zurückgewiesen werden. Doch zurück zum Vorwurf des Subjektivismus, den man bisweilen hört und liest. Diese Ichbezogenheit wird begleitet von einem Happening im Formellen – alles ist möglich, alles macht Sinn, alles macht Spaß (das aber nicht unbedingt) – und befreit die Akteure aus jeglichen Beschränkungen. Ein Gedicht ist heute mehr denn je Raum, Landschaft, die der Schreibende entwirft, kaum mehr Architektur. Strenge und Disziplin sind ersetzt durch Offenherzigkeit und Freiheit. Und daß inmitten dieses geöffneten und aufgebrochenen Handwerks das Dichten nicht neu erfunden sondern in eigenen Tiefen neu gefunden wird, allerlei Instrumente (neue und alte) getestet, gelernt und vielleicht wieder verworfen werden, sich eine neue Virtuosität herausbildet, in einem sehr breiten Spektrum und auf einem sehr hohen Niveau, zeichnet die Gegenwartslyrik aus. Ein weites Feld, kaum auch nur in groben Zügen durchschreitbar. Das Nebeneinander von Generationen hat in der Lyrik schon immer für befruchtende Vielfalt gesorgt – heute ist daraus ein vergleichsweise kosmisches Gären geworden. Daß einer freiwillig sich und seine neu gewonnene Virtuosität dann doch wieder diszipliniert einem Konzept unterordnet, um mit seinem Handwerk absichtsvoll ein Thema abzuarbeiten, das passiert auch in diesem »alles ist möglich« nicht häufig. Stefan Heuer hat mit seinem Band honig im mund – galle im herzen sich dem Thema des deutschen Linksterrorismus angenommen. Die ersten Gedichte dazu entstanden übrigens noch bevor die ersten Rückblicke die Medien und die danach folgenden Neiddebatten und gezielten Provokationen zur Erregung öffentlicher Empörung anläßlich der Freilassung von Brigitte Mohnhaupt und des Gnadengesuchs von Christian Klars die Boulevardpresse durchzogen. In 68 Gedichten erzählt er die Geschichte der Roten Armee Fraktion bis ins Jahr 1999, beendet das Buch schließlich mit einem Epilog zur schon erwähnten Entlassung Brigitte Mohnhaupts im März 2007. In exakten Schritten zeichnet er nach, macht an genauen Daten fest, welche Ereignisse die Geschichte kumuliert abbilden. Zitate, Auszüge aus Kommando-Erklärungen und Zeitungsberichten, zeichnen Schemen der damaligen öffentlichen Wirklichkeit und werden montiert in die fast immer dreizeiligen Strophen, um dort neben der von Heuer erzählten, gezielt auf Menschliches hin gedachten Wirklichkeit und Erscheinung kontrastreich ein Spiel der Realitäten aufzunehmen. Die so erzeugte und unisono durch alle Texte durchgehaltene Spannung lässt den Gedichtband als gewollte und konzipierte Einheit erkennen – die Texte reihen sich, wirken erst als Ensemble. Dabei gibt es einen Ton, der vermeidet klar definierte Grenzen zu ziehen, er verurteilt weder Mörder noch Opfer, sondern sucht nach der menschlichen Situation in all der politischen Brisanz. Vietnam ist da, der Schahbesuch, Benno Ohnesorg ist da – alles, was hineinführt in eine Spirale von staatlicher Gewalt, Ohnmacht und Gegengewalt. Es schließen sich an, dicht und kenntnisreich geschildert, alle Anschläge, Tode, Morde und Erpressungen, spürbar überall der kaum zu überwindende Hass, spürbar überall die gewollt aufs Letzte zugespitzte Konfrontation, spürbar überall, daß es Menschen sind, die hinter den Ideologien stehen und sich bekriegen. Heuer gelingt es diesen Ton durchzuhalten und einen Rhythmus zu erzeugen, der den Leser von einem ins nächste Gedicht zieht. Eine Geschichte, tatsächlich, wird erzählt – eine Geschichte, die wir noch immer nicht ganz verstanden haben, die eine offene Wunde unserer Gesellschaft ist, denn obwohl die RAF sich auflöste und ohne Nachfolge blieb, die Gründe, die zu ihrer Manifestation führten, sind nach wie vor auffindbar: eine Jugend, die ohne wirklichen Einfluß auf eine ganz eigene Zukunft (im Gegenteil: sie muß die Erblasten übernehmen und für nicht selbst Verschuldetes büßen) und ohne eine vorstellbare Utopie hinüberfließt in den fahlen Geschmack eines Lebens in einer kranken bürgerlichen Zivilisation. Stefan Heuer benutzt in den Gedichten das Präsens – es ist nicht vorbei, was mal war, es ist noch immer möglich, weil eine Möglichkeit des Menschen. Das Faktische, und so erzählt Heuer die Geschichte, kann immer Dinge gebären, um sich selbst seinen Ausgleich zu suchen. Die Ohnmacht den Terror, der Terror die Ohnmacht des Staates. Stefan Heuer, der in der Riege der Gegenwartslyrik schon seinen Platz gefunden hat, geht einen deutlichen Schritt heraus aus jedem Subjektivismus. Hinüber in ein konzeptuelles Arbeiten, mit dem er sich neues handwerkliches Wirken erschließt. Er hat alle anfallenden Hausaufgaben gemacht, sich mit umfangreichem Quellenstudium eine detailsichere Präsenz in seinen Gedichten gesichert, die ihm ermöglicht aus dem ideologischen Krieg eine Geschichte von Menschen zu rekonstruieren ohne dabei parteiisch zu wirken. Das heißt nicht unengagiert. Seine oft atemlose, unbarmherzig wahr wirkende Sprache benutzt er sicher und zielgerecht als tragfähiges Netz. 18. OKTOBER 1977 Die poetischen Qualitäten des Buches liegen klar im Erzählerischen. Das chronologisch geordnete Geschehen wird in der Abfolge von Momenten und durch die Kombination von knappen bildlichen Hinweisen mit Versatzstücken wie Zitaten rhythmisch und inhaltlich aufgeladen. Heuers aus früheren Gedichtbänden vertraute Stilmittel (Zeilenbrüche über die Strophen hinweg, Schrägstriche statt Punkte, Komposition auf das Gedichtende hin etc.) bestimmen das Tempo und schieben den Leser voran. Mit dem Gnadenakt des Staates, der vorzeitigen Freilassung von Brigitte Mohnhaupt, dem kein Gnadenakt des Volkes, sondern Morddrohungen gegen die Unbequeme, nicht öffentlich Bereuende und Nachstellungen durch die Medien folgen, endet das Buch mit dem vereinzelten Wort »verbrennt«. Was sich verrennt, verbrennt. Heuers Buch dagegen bleibt nicht auf der Strecke, geht seinen Weg zu Ende und darf gerne inspirieren zu anderen konzeptuellen Arbeiten. Wenn sich durch wahrhaftig notwendigen Subjektivismus (wir brauchen das – wir brauchen den Weg zu sich selbst, das Ertasten des heute möglichen lyrischen Ichs) erworbenes lyrisches Handwerk auch überpersonaler Themen an- und so eine weitergehende Verantwortung wahrnimmt, wie im Falle von Heuers honig im mund – galle im herzen, dann wird die neue Lyrik noch lange von kultureller und gesellschaftlicher Relevanz sein.
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Frank Milautzcki
Lyrik
Naß einander nicht fremd
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