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Antiphonia
Auszug I Dieser Mann liebte seine Andrea und veröffentlichte mit ihr drei Kinder. Stefanie, Heiner und Katarina; Kat mit den schön vertrödelten Zöpfen. Sie hielten sich einen ans Haus geknoteten Garten plus einen Golden Retriever. Jeder aus der Familie streichelte den Goldenen Hund wenigstens einmal am Tag; sie herzten ihn hinter den Ohren. Der Hund war ein Schattentier mit einem Bellhorizont von unendlich vielen Lichtjahren und jeweils gleich großen Portionen Vollkostfutter im Napf. Aus vier Minuten wurden schnell schon mal fünf. Eines Nachts wachte der Mann davon auf, dass seine Frau nicht schlafen konnte. Dabei hatten sie doch gerade eben beschlossen – aber beschließen kann man immer viel. Die Frau, eine Psychosomatin, ging auf die Terrasse und weitete ihr Bewusstsein. Sie rauchte Eigenbedarf, sie erweiterte ihr Bewusstsein um die blühendsten Adoptionsfantasien ever. »Wenn ich alt bin, werde ich mich verdünnisieren ... ich werde verschwunden sein. Ich lasse mich so lange hin- und her-, vor- und zurückadoptieren, bis mir der Tod die Verwandtschaft aufkündigt. Denn Verwandtschaft ist nichts, ist falsche Anhänglichkeit.« Vielleicht ein schütterer Traum oder eine vierblättrige Gegend mit Tüten, vielleicht ein Freelancer aus Meerane oder der singende, klingende Affenfürst von Gibraltar: Irgendwer, irgendwas würde die Frau schon adoptieren. Meist jagt ein Wort, belastet ein Schweigen das andere. Der Mann bog mit aller Kraft eine Büroklammer auf und sagte zu seiner Frau: »Die Stirn- und die Wangenpartie hat Katarina von mir, die stotternden blassen Fäustchen sind eindeutig deine. Heiner hat sich in den Kopf gesetzt, keinem von uns ähnlich zu sehen. Er lockt den Retriever in eine menschenscheue App. Steffs Humor ist elternunabhängig und herrlich.« Lockt den Retriever in eine gottverlassene App. Im Schulkindalter hatten Stefanie, Heiner und Katarina viel mit dem Retriever gespielt. Kat warf ihm den goldenen Knochen zu, und der Knochen ließ sich von allen Jahreszeiten bemuttern. Der Hund bewachte den Knochen, der Knochen beschützte die Kinder. Die Kinder kolumbisierten auf der Landkarte bis nach Irrtumsamerika. Sie füllten die Fässer mit Sauerkraut gegen den Skorbut, lernten Kielholen, Glasen und Singen. Steff hörte schon mit zehn die Klassiker der Moderne im Rundfunk. Aus dem verschollen geglaubten Roman direkt vom Monte Veritá. Buddha auf seinem Hügel über der Gischt, die ihn auszehrt. Wenn Steff ein Wort nicht verstand, fragte sie ihren Vater: »Papa, was heißt irrational? Was ist mit überbordend gemeint, was mit erhaben?« Papa erklärt, und Heiner tupft sich Baumwollinseln in seine allergischen Meere. Erhaben geht besser zu merken als irrational. Über- bordend bedeutet, dass etwas über den Rand des dafür vorgesehenen Kästchens hinausschießt. Freude, Gier, Wasser- und Lichtmassen, Widerspruchsgeist, allgemeines Gelächter. Das passiert doch in den besten Familien. In den Jahren der Pubertät und des hoch- auflösenden Trotzes, von dem nur geheilt werden kann, wer einen anderen damit ansteckt. ... Aus: Antiphonia. Gedicht. poetenladne Verlag 2018
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Jörg Schieke
Lyrik
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