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Marius Hulpe (Hg.)
Privataufnahme

Junge deutschsprachige Lyrik
Kritik
Marius Hulpe (Hg.): Privataufnahme   Marius Hulpe (Hg.)
Privataufnahme
Junge deutschsprachige Lyrik
Dahlemer Verlagsanstalt, 216 Seiten


Vor einiger Zeit – es waren gerade die Anthologien Lyrik von Jetzt 2 und Neubuch erschienen – wurde auf den einschlägigen und viel gelesenen Websites und Blogs heftig gestritten. Es ging um Sinn oder Unsinn von Anthologien mit Gedichten der „jungen Generation“, der ab 1970 geborenen Nachwuchsdichter. Anfang 2009 kam eine ganze Reihe solcher Anthologien auf den Markt, ältere Autoren mokierten sich über die Hybris der Jungen, die sich natürlich heftig wehrten, man möge ihnen doch bitteschön die Aufmerksamkeit gönnen. Schließlich und endlich verebbte dieser „Sturm im Wasserglas“ (Ron Winkler), dessen Winde immerhin der halben oder ganzen deutsche Lyrikszene um die Nase wehte.

„Lyrik boomt“ war zur gleichen Zeit ostentativ im deutschen Großfeuilleton zu lesen. Tatsache ist jedoch, dass noch nie so wenige Lyrikbände gekauft werden wie zur Zeit. Zwei Protagonisten unter den Lyrikverlagen - Kookbooks und die Edition Urs Engeler – stecken schwer in der Krise. Es ist ein offenes Geheimnis, dass selbst die angesagtesten gerade unter den jungen Autoren Verkaufszahlen im zweistelligen Bereich haben, dass selbst von den Anthologien nicht viel mehr Bücher verkauft werden und man mit 200 bis 300 verkauften Lyrikbänden schon zu den Bestsellern gehört – symptomatisch ist, dass das renommierte Jahrbuch der Lyrik 2009 nach über 25 Jahren zum letzten Mal erschien. Dass Lyrik boome, kann getrost als Feuilletongeschwätz abgetan werden. Dass noch weniger Lyrik gekauft wird als je zuvor liegt unter anderem daran, dass sich die anspruchsvolle Lyrikkritik fast ganz ins Internet verlagert hat und Online-Anthologien wie poetenladen.de oder fixpoetry.com hunderte, ja tausende von Gedichten präsentieren.

Gänzlich untergegangen ist die schmale Anthologie Privataufnahme. Junge deutschsprachige Lyrik, herausgegeben von Marius Hulpe. Das ist schade, denn sie gehört zu den interessanteren Gedichtsammlungen junger Autoren. Im etwas prätentiösen Vorwort schreibt Hulpe von seiner Motivation: „Wir baten die Autoren daher um ihre persönlichsten (und darum, so das Experiment glücken will, evidentesten) Gedichte, ihre aus ganz persönlicher Sicht mitunter wünsch­barsten Texte ...“

„erinnerst du dich erinnerst dich“, beginnt gleich das erste Gedicht der Schweizer Autorin Nathalie Schmid und sie gibt damit einen Tenor der Privataufnahme vor – bei sehr vielen Texten handelt es sich um Erinnerungstexte. Erinnerungen an die Kindheit, „an die schnittstelle/ zwischen seele und marmorkuchen erinnere ich mich, da/ wo du unter dem lampenschirm saßt“, an die guten alten Zeiten eben. Selbst Ron Winklers geniales, aber viel gedrucktes Geweiharchiv mit seinem ganz eigenen Witz findet sich in dieser Anthologie. Sperrig, rätselhaft und experimentell kommen viele junge Dichter normalerweise daher. Doch das Erstaunliche an dieser Sammlung ist: Es finden sich hier reichlich „verständliche“, narrative, sehr subjektive und anrührende Texte; Gedichte, die so gar nicht selbs­treferen­tiell, sondern im Gegenteil vom sprachlichen Zeichen auf eine wie immer geartete Wirklichkeit verweisen: „hinterm bahndamm ragen die gesprengten/ gestalten – schlote kühltürme – auf geneigten/ photos in die gruben: fürs gedächtnis// unweit das ausgestellte förderrad/ diese treibscheibe jetzt mehr klettergerüst/ für uns inder als industrie-/ denkmal“ (Christoph Wenzel). Besungen wird also und nicht codiert: Der „Dreikönigs­tag“ (Anke Bastrop), ein Augusttag („irgendwelche wettervögel in gold“, Anja Kampmann), der „teich in omas garten“ (Marius Hulpe) und Ron Winkler grüßt in einem weiteren Text „meine kleine Farm Kindheit.“

Manchen Leser junger und auch älterer Dichter beschleicht das ungute Gefühl, dass er viele Gedichte eigentlich gar nicht mehr lesen will, weil sich die Autoren doch so ähnlich sind und außerdem krampfhaft originell geben, um sich voneinander abzugrenzen. Er hat auch das Gefühl, dass im Kon­kurrenz­kampf um die wenigen Leser und Rezensions­plätze im alt­ehrwürdigen Feuilleton die lebens­lange Arbeit am eigenen Ton kaum eine Rolle spielt und statt­dessen normative Poeto­logien Gedichte hervor­bringen. Marius Hulpes Privat­aufnahme macht darin eine Ausnahme. Er hat seine jungen Kolleginnen und Kollegen dazu gebracht, jene Gedichte einzusenden, die geschrieben werden mussten, Gedichte zumeist aus dem prallen Leben gegriffen und nicht von einer Poeto­logie erzwungen.
Matthias Kehle    07.12.2009   

 

 
Matthias Kehle
Lyrik