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Walle SayerKerngehäuseEine Innenansicht des Wesentlichen Kurzkritik
„Stell einen Notenständer ins Freie, schon sammeln sich darauf Schwalben.“ Solche wunderbaren Bilder finden sich in dem neuen Buch des Horber Dichters Walle Sayer zu Hauf. „Kerngehäuse. Eine Innenansicht des Wesentlichen“ nennt er die Sammlung von kurzen Prosastücken, die meisten kaum länger, oft kürzer als eine halbe Seite. Sayer erkundet die ländliche Gegenwart. So mancher Text, so manches Wort sind im Schwäbischen angesiedelt, etwa das „schuckelige Gefährt“ des Sonntagsfahrers, der einen Anhalter mitnimmt. Ein Heimatdichter ist Sayer jedoch nicht, zu sehr weisen die Texte über das Regionale hinaus. Da ist etwa das Brandloch im Sitz eines Schulbusses, „ein Oberstufler (hatte) es mit einem Gesicht eingekreist, daß das Brandloch erschien wie der offene Mund bei Munchs Schrei.“ Ein leiser, ein melancholischer Archivar des Vergänglichen ist er, „es ist noch zu spät, um jetzt schon heimzugehen“, notiert er über die „Sperrstunde.“ Vom Literaturbetrieb und seinen Moden hat sich der vielfach ausgezeichnete Lyriker nie beeindrucken lassen, der 1960 geborene Sayer hat über die Jahre seinen eigenen Ton entwickelt. Die Tradition von Rainer Brambach oder Walter Helmut Fritz fortsetzend, schreibt Sayer zurückhaltende, gelegentlich karge Texte, die aber immer zum Leser hin sprechen und das selbstreferentielle Sprachspiel meiden. Zeitlos sind seine Porträtskizzen, seine Miniaturstudien oder seine sanfte Ode über das Altern („Selbst Gebrauchtwagenhändler und Autolackierer überkommt es, daß sie als Zehnjährige dereinst Rennfahrer werden wollten“). Doch zugleich sind die Texte fest in der Gegenwart verankert, etwa „Die Graugarde aufgereihter Mülltonnen vor einem Betonklotz“ im letzten Text des Bandes unter dem Titel „Hingetuscht“. Feinste Nuancen auf der einen Seite, grobe, aber präzise Details auf der anderen Seite – Sayers sprachliches Sensorium weiß zu unterscheiden: „Brunzstrahlellipsen. Prostatageplätscher. Und Klosteine unter die Motorhaube gehängt: daß deren Geruch Marder abhalten würde. An den Pißbecken stehen noch ein letzter Wanderprediger, der sich selbst zuhört, und ein schwankender Mehlsack, der seine Strafrunde um den Häuserblock läuft. Männer halt, die aus ihrem Seelendickicht treten, ihre Stirnen an den kalten Kacheln kühlen...“ Walle Sayer sei einer aus der seltenen Gattung derer, „die unfähig sind, an der Oberfläche zu bleiben“, zitiert der Klappentext treffend einen Kritiker. Seine großartigen „Innenansichten des Wesentlichen“ genießt man am besten schlückchenweise wie einen guten Rotwein.
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Matthias Kehle
Lyrik
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