Im Jahr 1955 entwickelte das Philosophische Institut der Karl-Marx-Universität in Leipzig deutliche Zeichen einer autarken Denkfabrik. Mit dem Lehrverbot für den Institutsdirektor Ernst Bloch und der Maßregelung seiner Schüler ab Ende 1956 wurde diese eben erst mühsam errungene Funktion und Vitalität zerstört. Der Verlust wiederholte sich ab 1990, als man auch die letzten Blochianer entfernte und der Universität den Namen Karl Marx entzog. In den sogenannten Jungen Ländern sollte es eine solche Denkfabrik nicht geben. In unserem Buch »Sklavensprache und Revolte – Der Bloch-Kreis und seine Feinde in Ost und West« heißt es dazu: »Die Verfolgung der Blochianer dauerte in der DDR bis zum Staats-Ende 1989, und wer so lange im Lande indirekt und mit List oder offen und unverbrämt zu widerstehen gesucht hatte, der landete vor den Richterstühlen westdeutscher Evaluierer und wurde rausgeworfen, wie nicht nur das Exempel des Günther K. Lehmann in Leipzig zeigt, denn es soll kein Müntzer neben Luther, kein Marx neben Nietzsche und kein Bloch neben Heidegger sein. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir, befiehlt der deutsche Traditionsgötze, ein Herr Professor von Staates Gnaden, der das herrschende Prinzip der Ausgrenzung exekutiert.«
Auf der Buchmesse im März 2005 faßten wir die in »Sklavensprache und Revolte« enthaltenen Anregungen für eine Wiedergutmachung in drei Punkten zusammen. Dies also ist unser höflicher Ratschlag an die Stadt und die Universität Leipzig und den Freistaat Sachsen:
Erstens: An der Leipziger Universität wird ein Ernst-Bloch-Institut eingerichtet mit dem Ziel, seine Philosophie zu erforschen und weiterzuentwickeln.
Zweitens: Die Universität in Leipzig wird nach Ernst Bloch benannt. Gelang es, die Universität Oldenburg gegen konservativen Widerstand mit dem Namen des Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky zu versehen, sollte es auch in Leipzig eine nach dem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels benannnte Universität geben.
Drittens: Das Völkerschlachtdenkmal, alljährlich Ziel provokatorisch neonazistischer Aufmärsche, wird zum Völkerfriedensdenkmal umgewidmet. Das kritisch-analysierende Material der Wehrmachtausstellung, das jetzt in unzugänglichen Kellern zwischenlagert, bekommt im Völkerfriedensdenkmal seinen historisch legitimen Platz auf Dauer. Das wäre aufklärende, aktive Kulturpolitik, vergleichbar dem israelischen Yad Vaschem: Zu einer Gedenkstätte gehören Sammlungen von Belegen, die über die Ursachen von Faschismus, Nazismus und Fremdenhaß didaktisch und sensibel informieren. Leipzig sollte seine Chance nutzen, schließlich begann mit der Völkerschlacht 1813 die fast anderthalb Jahrhunderte andauernde Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich. Das Völkerschlachtdenkmal wurde fatalerweise zu Beginn des 1. Weltkriegs eingeweiht. Es sollte spätestens im Jahr 2014 zum Völkerfriedensdenkmal umgewidmet werden.
Eine Kulturmeile, die Völkerfriedensdenkmal, Deutsche Bücherei, Theater und Hochschulen einbezieht, bietet sich an. Eine Radrundfahrt ums Denkmal, festliche Friedensspaziergänge zum 8. Mai, ein Bloch-Museum und das Archiv im Mendelssohn-Haus könnten Zeichen setzen gegen Rassismus und Krieg. Schließlich wurde Felix Mendelssohn-Bartholdy einst ähnlich wie Ernst Bloch – nicht nur in dieser Stadt – vergessen gemacht.
Die aus Arbeitslosigkeit und politischem Defätismus resultierenden Gefahren der antiparlamentarischen Aushöhlung des Rechtsstaates bedürfen der Korrektur durch rationale, reformatorische Aufklärungs-Energien. Leipzig verfügt über eine Reihe demokratischer antifaschistischer Traditionen und brachliegender intellektueller Ressourcen, die es zu aktivieren und vor Fehldeutung und Mißachtung zu bewahren gilt. Die Berliner Republik bedarf einer in Ostdeutschland beheimateten parteiunabhängigen und modernen Denkfabrik. Die Idee der Leipziger Kulturmeile entstand schon im Jahr 1955. Nach einem Halbjahrhundert ist es endlich an der Zeit, sie zu verwirklichen. Damit könnte am passenden Ort aus Blochs Kategorie des noch nicht ein endlich doch werden.
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Ingrid und Gerhard Zwerenz und der Zweiwochenzeitschrift Ossietzky 11/2005.