Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Folge 1
Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Folge 1 |
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Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
Seine Karriere als Autor begann Mitte der fünfziger Jahre nach seinem Studium bei Ernst Bloch in Leipzig. 1957 wurde er aus der SED ausgeschlossen und floh in den Westen. Freundschaften mit Arthur Koestler oder Rainer Werner Fassbinder gehören ebenso zu seiner Biografie wie sein politisches Engagement – etwa als Mitglied des Deutschen Bundestags 2004.
Wie es anfing: In den ersten Nachkriegsjahren brachen die Sachsen auf, eilten herbei aus dem Erzgebirge, Vogtland und den vorgelagerten tiefer liegenden Bach- und Flusslandschaften, aus verschlafenen Klein- und Mittelstädten, den Dörfern dazwischen, hunderte Geburtsorte sind verzeichnet als Ausgangspunkte dieses Ansturms auf Hochschulen und Universitäten. Bürgertum? Ja, im Westen des Landes. Im Osten waren es andere. Nach dem Ende von 1990 und mit Beginn des 21. Jahrhunderts blickten sie, gealtert und evaluiert zurück, sollten sich schämen, Schuld empfinden, als wäre da Fehler auf Fehler akkumuliert worden. Zu ihnen gesellten sich ausgestoßene Schlesier, Ostpreußen, Sudetenländler, manche auch aus dem bürgerlich restaurierten saturierten Westen, andere mit KZ-Erfahrungen, entronnene Wehrmachtsoldaten – sie alle traten der neuen Lehre bei, das alles sollte jetzt falsch und nahezu kriminell gewesen sein, vergleichbar der verhängnisvollen Entscheidung der vielen im Jahre 1933?
Ich verteidige meine Genossen und Ex-Genossen, denn schuldbegründende Entschlüsse fallen in den oberen Gremien. Das betrifft Bonn wie Ostberlin. Wenn Borniertheit, Charakterlosigkeit, Feigheit, Eigensucht aufeinander folgender Eliten zu strukturbildender Geschichte gerinnen, haben nicht die Völker versagt, sondern Intellektuelle, die der politischen Klasse abgestandene, nicht mehr zeitgemäße Ideen zuliefern statt revolutionärer Impulse, zuviel Luther und zu wenig Münzer. In verlorenen Bauernkriegen werden Bauern zu Opfern, in Bürgerkriegen gehen Bürger zuschanden, nach der proletarischen Revolution von Lenin und Trotzki führte die Diktatur des Proletariats zur Diktatur über das Proletariat, bis es als Klasse verschwand. In China freilich experimentieren inzwischen ca. 70 Millionen Parteimitglieder, angeleitet vom Politbüro, mit dem Kapitalismus im eigenen Lande. Falls die Koexistenz von Kapital und Kommunismus misslingt, werden beide zum Teufel gehen. Sollte es glücken, könnten die Sachsen von den Chinesen lernen. Ihre Emsigkeit, Bescheidenheit, Klugheit, Erneuerungsfähigkeit ließen es zu, falls ihre Vordenker nicht wie ihre vielfachen Verhinderer sind.
Die Chemnitzer Freie Presse erregte Ärger in Plauen, wo Sachsens Kulturminister Stefan Flath der Karl-Marx-Gesamtschule einen Namenswechsel nahegelegt und bei Verweigerung mit Entzug der Fördermittel gedroht haben soll. Flath dementierte, er habe „nur einen Witz gemacht“, über den die „offenbar roten Vogtländer“ jedoch nicht lachen konnten. Wie Augenzeugen versichern, lachte stattdessen der Karl-Marx-Kopf in Chemnitz. Es gibt noch mehr Grund zur Heiterkeit. Nehmen wir nur das international bekannte sächsische Bad Schlema. Die wegen Uranabbau nahezu verschwundene Kleinstadt ist auferstanden und könnte eine große Zukunft haben. Hat sie aber nicht, weil sie schrumpft. Zwar schrumpfen auch im Westen Dörfer und Städte, im Osten aber ist das Staatsprogramm. Fabriken verrotten, Kindergärten und Schulen schließen. Handelsketten geben auf. Das Verkehrsnetz dünnt aus. Die Jugend geht weg. Der Rest ist Melancholie.
Als ich 1990 das erste Mal wieder nach Leipzig kam, stellte ich mich vor dem Reichsgericht aufs Pflaster, unter dem mein heimatliches Pleißeflüsschen glucksend seinen Weg suchte. Von Dimitroff und Van der Lubbe sowie den 4000 verhafteten Kommunisten des Jahres 1933 wollen die meisten nichts mehr wissen. Dem Reichsgericht gegenüber aber steht jenes umfangreiche historische Gebäude, dessen östlicher Teil zu unseren Zeiten die Historiker, Theologen und Philosophen der Karl-Marx-Universität beherbergte. Davon wollen die meisten auch nichts mehr wissen. Nochmal 15 Jahre später stellten wir fest, der ganze Komplex war inzwischen der höheren Polizeiverwaltung zugewiesen worden. So wird ein Stück widerständiger Vergangenheit ausgelöscht. Ich versuche mir im Gelächter zu helfen, was mich auf die Nachbarschaft des Lachens zum Gelächter bringt.
Wie ich in eitler Bescheidenheit meine, wird der Sachse durch drei Übermenschen charakterisiert. Da ist Friedrich Nietzsche, der dem erträumten Riesen den Namen Übermensch verpasste: „Ich lehre Euch den Übermenschen“ lautet der fatale Satz in Also sprach Zarathustra, den – noch fataler – ein gewisser Hitler, Adolf las, mißverstand und fortan eisern daran glaubte, einer zu sein. Vor Jahren schlug ich vor, die fünf verdammten Worte sächsisch auszusprechen: Ich lähre eich dän Ibermänschen! Der Rest ist Gelächter. So auch beim Dresdner Revoluzzer Richard Wagner. Man führe sich die alljährliche Promi-Parade vorm Bayreuther Festspielhaus zu Gemüte – wer da jetzt nicht herzhaft gelächtert, der gehört schon dazu. Endlich Karl May als dritter übermenschlicher Sachse. Er war humorlos, doch selber ein übermenschliches Gesamtkunstwerk. Sein Werk entstand in jenem engen geographischen Raum, der von Pleiße, Mulde und Elbe begrenzt wird, aber dem grenzenlosen Potential Phantasie entspringt, der ersten und letzten Ressource unseres Landes in der Mitte des Kontinents.
Wir Ureinwohner stellen uns hier auf die Zehenspitzen, verachten die kriegerischen Preußen, gemeinden die Thüringer ein und erklären selbst die Angelsachsen zu Stammesbrüdern und -schwestern. Von hier stammten die meisten deutschen Revolutionäre, wir stellten das DDR-Stammpersonal, und als es schief ging, spielten wir in Leipzig Heldenstadt, während Dresden immer noch August den Starken mimt und den Februar 1945 als apokalyptischen Weltuntergang nicht vergessen kann. Zwischen Pleiße, Mulde und Elbe erstreckt sich Karl-May-Land. Es ist der ausladend flache Boden von Leipzig her mit den anwachsenden grünen Hügeln, die über Zwickau und Chemnitz ins Vogtland und Erzgebirge übergehend Höhe gewinnen. Es ist ein historisches Natur- und Industrieland, voll von Pionier- und Erfindergeist, aber auch ein deutsches Irland mit Emigrantenströmen rein und raus, von Flüchtigen innen und außen. Ostberlin war zeitweise von Sachsen besetzt wie das sächsische Königreich einst von den Preußen. Für den so eigensinnigen wie vigilanten Sachsen ist sein Land der Nabel der Welt, inklusive Nabelbruch, doch der ist operabel. Bleibt die weltbewegende Frage: Wie kommt die Pleiße nach Leipzig? Unterwegs besteht sie aus frühzeitlicher Kultur- und Industriegeschichte. Wilhelm Liebknecht, August Bebel, Rosa Luxemburg standen am Flussufer. Städte mit Schornsteinwäldern nebelten den Himmel grau. Fabriken soffen den Fluss durstig aus. Färbereien machten ihn braun und gelb und rot. Die Pleiße kurvte geschickt durch Wälder und Felder, schwoll dicke an und gab sich dann wieder sächsisch klein und sachte. Nach Leipzig kommt die Pleiße zu Fuß und unterirdisch wie ein tüchtiger Bergarbeiter aus Zwickau oder dem blanken Erzgebirge. Hinter Leipzig geht die Pleiße in die Elster, Saale und Elbe, dann nordwärts von Hamburg in die Nordsee und weiter durch den Atlantik in die Welt. Mehr kann man von ihr nicht verlangen und erwarten. Oder doch?
An den Ufern der Pleiße geboren zu sein, wäscht kein saurer Regen ab. Ich erlebe das Land meiner Herkunft im ständigen Wechsel von Wut und Melancholie. Darauf folgen Trauer und Resignation. Dann sage ich mir: Das darf nicht so bleiben. So nicht. Nein.
Wird Sachsen also bald chinesisch? Ist das ein Ausweg? Was 1,2 Milliarden Chinesen können, schaffen schrumpfende, von allen guten Geistern verlassene Sachsen auch? Seit 1990 ist das Land schwarz. Vorher war es 100 Jahre rot. Jetzt hagelt es Sensationen. Was gestern als bodenloser Sumpf der organisierten Kriminalität galt, trocknet heute zur Pfütze ein. Die Landesbank erwirtschaftete ein klaffendes Milliardenloch. Die regierende Staatspartei bastelt guten Willens am Aggregationszustand einer funktionierenden demokratischen Parodie. Alle sind tüchtig mit roten Ohren auf schwarzer Seele dabei. Die gestrige Staatspartei sieht staunend zu, wie sie spielend übertroffen wird. Sie habe einst Antifaschismus verordnet, heißt es anklagend. Die Nachfolger verordnen ihn mitnichten. So fehlt er eben. Stattdessen herrschen Arbeitslosigkeit und bezuschusste Resignation. Beides zusammen lässt die braune Brühe hochkochen. Ausbrüche von Ausländerhass sollen die letzten aktiven Sachsen daran hindern, sich mit China aus den schwarzen Löchern herauszuarbeiten. Schon wird in der FAZ die Gelbe Gefahr und Spenglers Untergang des Abendlandes beschworen. Mag sein, dass die Abendländer untergehen. Die DDR, dieser Versuch eines Großsachsen ist auch perdu. Das kulturelle Prinzip Sachsen aber geht auf, wenn seine Christen christlich und seine Sozialisten sozialistisch zu sein verstehen. Bis dahin halte ich es mit der 5. Internationale, deren Prinzip das Gelächter auf Distanz ist.
Fotos zur Lesung mit Gerhard Zwerenz aus der Sächsischen Autobiographie am 19.11.2009 im Haus des Buches, Leipzig
Lesungs-Bericht bei Schattenblick
Interview mit Ingrid und Gerhard Zwerenz bei Schattenblick