Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
Arthur Koestler ist der Klassiker des Exkommunismus. Das Exemplar, das eine Gattung begründete. Mir war von Anfang an klar gewesen, spätere Exkommunisten wie ich müssten sich gerade von Koestler und seinen Analysen wie Kategorien distanzieren. Seine Größe hatte in der damals logischen Kehrtwendung gelegen, der abgesprungene oder ausgesonderte, vom Kommunisten zum Exkommunisten gewandelte Genosse wendete sich gegen den Stalinismus. Meine Generation dagegen musste für den aus Sachkenntnis resultierenden Ausgleich sorgen, sollte der Krieg zwischen Kommunisten und Exkommunisten nicht in den Weltuntergang führen.
Wir saßen im Hotel Bayerischer Hof am Swimmingpool. Die Sonne schien. Hier vom Dach des Hauses aus ging der Blick weit über die Stadt. Man war in die halbe Höhe der Türme gehoben. Föhn rückte die Alpen nahe. Ein Hotelmanager trat zu mir und verlangte mit wenig Aufwand an Höflichkeit, wir sollten den Raum verlassen. Ich vermutete ein Missverständnis und suchte den Fall diskret zu klären. Der Zerberus blieb hart: »Die Beatles sind angekommen und wollen nackert schwimmen. Kein anderer darf sich in diesem Raum hier aufhalten!«
In den Augen des Domestiken glomm die vollkommene Überzeugung von der Notwendigkeit seines Wunsches, der seiner gar nicht war, unser Abtreten aber verlangte wie Judith das Haupt des Holofernes. »Hier sitzt Arthur Koestler, ein in aller Welt berühmter Schriftsteller, wollen sie den wirklich so einfach rausschmeißen?« fragte ich, weniger von der Wirksamkeit meiner Argumente überzeugt als begierig, die Reaktion des Hotelangestellten gänzlich auszukosten, der dann auch folgerichtig erwiderte: »Was kümmert mich Ihr weltberühmter Schriftsteller, wenn die Beatles schwimmen wollen?«
Das Interview mit Koestler, nach meinen Notizen geschrieben und von ihm autorisiert, machte die Runde durch viele Zeitungen. Es gab eine kürzere und eine längere Fassung. Hier ist die kürzere: Herr Koestler, welche Gesamtauflage erreichen Ihre Bücher?
Ich weiß nicht.
Ungefähr?
Ich schätze, zwischen anderthalb und drei Millionen.
Wieviele Bücher haben Sie bisher geschrieben?
Vierundzwanzig.
Sie beantworten solche Fragen äußerst ungern?
Sie merken es.
Es heißt, von Koestler ein Interview zu bekommen, ist schwieriger als eine Ehescheidung in Italien.
Ich hab' mich in Italien noch nicht scheiden lassen. Aber fragen Sie mich ruhig weiter. Davon geht die Welt nicht unter.
Ihr berühmtestes Buch ist die Sonnenfinsternis. Es brachte Ihnen Erfolg, Ruhm und viel Anfeindung in aller Welt ein, fortan galten Sie als Musterbeispiel des literarischen Kalten Krieges.
So sieht's vielleicht aus der deutschen Perspektive betrachtet aus. Denn hier kennt man meine früheren Bücher, etwa das Spanische Testament, das 1938 erschien, nicht.
Hier kennt man Sie hauptsächlich als den Verfasser der antistalinistischen Sonnenfinsternis. Der Roman erschien 1946 und war, bitte entschuldigen Sie, wenn ich etwas Süßholz raspele, die geniale Vorwegnahme dessen, was Chruschtschow 1956, zehn Jahre später also, auf dem 20. Parteitag der KPdSU in seinem Geheimreferat offenbarte. Wie kamen Sie zu dieser frühen Erkenntnis?
Das war nicht schwer. Überdies stand ich nicht allein. Orwell zum Beispiel wusste auch vieles vorweg und hat sogar den Aufstieg des kommunistischen China und seine Entzweiung mit den Sowjets signalisiert.
Da Sie George Orwell erwähnen – Sie waren mit ihm befreundet?
Man konnte mit ihm nicht befreundet sein, wenigstens solange man in seiner Nähe lebte. Seine geistige Redlichkeit und puritanische Strenge machten ihn schwierig. Die Freundschaft wuchs mit der räumlichen Entfernung, die zwischen ihm und seinen Freunden lag.
Sein Roman 1984 wird oft zusammen mit Ihrer Sonnenfinsternis genannt. Mit Recht, wie ich glaube. Aber 1984 definiert einen pessimistischen Aspekt der allgemeinen Weltentwicklung, während Ihre Sonnenfinsternis die Verfinsterung des Marxismus zum Stalinismus signalisierte.
So kann man es sehen.
Es heißt, Ihr Roman habe in West und Ost mehr Kommunisten zum Abfall bewogen als die gesamte antikommunistische Propaganda des Westens zusammengenommen.
Ein Kompliment ist das nicht gerade.
Sie sind gebürtiger Ungar, Herr Koestler?
Irgendjemand hat das genauer formuliert: geboren 1905 in Budapest als Sohn eines aus Russland eingewanderten jüdischen Kaufmanns und einer Österreicherin. In Wien die Schule besucht, Studium der Ingenieurwissenschaften, der Philosophie und Literaturwissenschaft.
Sind Sie ein Abenteuerertyp?
Wie kommen Sie denn darauf?
1926 gingen Sie nach Palästina und siedelten in einem Kibbuz. Dann bereisten Sie den Mittleren Osten, schrieben Reiseberichte für den Ullstein-Verlag, nahmen als einziger Presseberichterstatter am Nordpolflug des Grafen Zeppelin teil, wurden Außenpolitiker der BZ am Mittag und Mitarbeiter der Vossischen Zeitung. Aber all das genügte Ihnen noch nicht.
Ich wurde auch noch Kommunist.
Das war Anfang der dreißiger Jahre?
1931 – genau gesagt. Für ein Jahr ging ich in die Sowjetunion. Das war – warten Sie – 1932/33.
Es gab damals Leute, die ein Besuch in der Sowjetunion zu abgefallenen Kommunisten und gar Antikommunisten machte.
Ich fiel – nein, sprang 1937 ab.
Warum 1937?
Unter dem Eindruck der Moskauer Säuberungsprozesse.
War das nicht ein bisschen spät?
Es war früh.
Aber viele Kommunisten sprangen noch viel früher ab.
Ein Leben verläuft nicht wie das andere.
Ich sagte es nur, weil mir scheint, dass es bei den ehemaligen Kommunisten eine heimliche oder auch unheimliche Hierarchie der gegenseitigen Verachtung gibt. Die jeweils früher Abgefallenen verachten die jeweils später Abgefallenen.
Möglich .
Sie selbst äußerten sich so.
Gewiss.
Als Alfred Kantorowicz der DDR den Rücken kehrte und Sie in London aufsuchte ...
Das war schlimm. Also wirklich, das war ganz schlimm.
Ich hab' mir die Sache von Kantorowicz erzählen lassen und vorhin auch Ihre Frau danach gefragt. Jetzt hätte ich's gern noch von Ihnen gewusst .
Das war schlimm. Nein, also wirklich schlimm.
Es gab einen Heidenkrach?
Also darüber kann ich jetzt nicht sprechen.
Mit Ernst Bloch sind Sie, nach seinem Weggang aus der DDR, auch in London zusammengetroffen?
Das war auch schlimm, wirklich ganz schlimm.
Wenn ich resümieren darf: wenn ein früher abgefallener Kommunist einem später abgefallenen begegnet, ist es immer schlimm, besonders wenn der früher abgefallene Arthur Koestler heißt.
Ich werde auch beschimpft. Sartre nennt mich einen Kalten Krieger und amerikanischen Agenten. Simone de Beauvoir nennt mich ähnlich, obwohl ...
Obwohl Simone de Beauvoir ihren Arthur Koestler besser kennen müsste?
Ach, diese alten Geschichten!
Rowohlt bringt die Beauvoir bei uns heraus. Stimmen die Bettszenen wenigstens?
Das sind doch alles ganz alte Geschichten …
Aber Sie waren doch zusammen, Sie und die Beauvoir?
So eine Frau muss eben alles in Romanform schreiben. Bald ist's Sartre, bald Algren, bald Koestler. Da geht jede Liebe durch die Schreibmaschine.
Warum schreiben Sie eigentlich keine Romane mehr?
Mein Interesse gilt dem Essay und noch mehr der Wissenschaft. Nehmen Sie mein letztes Buch – wie heißt es gleich in der deutschen Übersetzung? Ja, das in diesem Herbst im Scherz Verlag erscheint. Der göttliche Funke – den deutschen Titel zu nennen, fällt mir schwer. Englisch spricht sich das besser: The Act of Creation. In diesem Buch also versuchte ich dem Geheimnis des Schöpferischen nachzugehen. Was bringt uns zu den, wie es heißt, genialen Gedanken, Einfällen, Erkenntnissen?
Ist der Koestler, der hier über den Schöpfungsprozess in der Kunst nachdenkt, ein Mann, der bedauert, dass ihm selbst keine Romanschöpfung mehr gelingt?
Ich untersuche die Bedingungen des Schöpferischen nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Wissenschaft. Und überhaupt, warum fragt man mich immer, weshalb ich keine Romane mehr schriebe. Ich habe ja noch zwei geschrieben nach der Sonnenfinsternis, aber das sind wohl wirklich keine Romane mehr. Die essayistische Ausdrucksform ist mir jetzt die geläufigste.
Das war nicht immer so ...
Mag sein. Aber es ist jetzt so. Und mich interessieren wissenschaftliche Probleme. Es ist mein größter Wunsch, von Wissenschaftlern akzeptiert zu werden.
Seit wann schweigen Sie zu politischen Fragen und warum?
Seit 1954 – weil ich das Gefühl hatte, ich habe alles gesagt und kann mich nur noch wiederholen.
Seit nunmehr zwölf Jahren also gibt's kein politisches Wort mehr von Arthur Koestler. Was das bedeutet, kann nur ermessen, wer weiß, was eine politische Äußerung Koestlers vorher wert gewesen war. Ich denke nur an Ihre sensationelle und hochwirksame Rede auf dem Kongress für kulturelle Freiheit in Berlin 1950, als Sie jene Intellektuellen, die zur Neutralität gegenüber dem Osten neigten »Halbjungfrauen der Demokratie« nannten. Über den Kommunismus sagten Sie damals: »Wir stehen hier einer Philosophie gegenüber, die den Tod des Geistes will…« lst das heute noch Ihre Meinung?
Wenn ich mich recht erinnere, sagte ich damals, es gebe Zeiten, da man in Bedingungssätzen rede – und es gebe Zeiten, in denen man nur ja und nein sagen könne. Damals musste man ja sagen zum Westen und nein zum Osten. Ich finde es noch heute schändlich von Thomas Mann, dass er zu jener Zeit nach Weimar ging und sich den Goethe-Preis geben ließ.
Schweigen Sie in politischen Fragen heute nicht auch deshalb, weil sich die Lage so verändert hat; weil, um mit Ihren Worten zu sprechen, eine Zeit gekommen ist, in der eher in Bedingungssätzen zu reden wäre?
Wenn Sie mich auf die Pose des Kalten Krieges festlegen wollen, sind Sie auf dem Holzweg.
Die deutsche Öffentlichkeit erwartete viel, wahrscheinlich zuviel von den Gesprächen zwischen SPD und SED. Billigen Sie solche Gespräche mit Kommunisten?
Sie erwarten, dass ich jetzt nein sage?
Es gäbe mindestens eine nette Schlagzeile. Und die CDU könnte sich tatsächlich einmal auf einen Schriftsteller berufen. Das wär' doch was!
Ich äußere mich nicht mehr zur Politik.
Aber Ihre private Meinung?
Die veränderte Weltkonstellation macht Gespräche möglich und manchmal vielleicht sogar notwendig. Die starre Ost-West-Front ist durch China aufgelockert, oder nehmen Sie die Bestrebungen Rumäniens.
Ihr jetziger Wohnsitz ist London, Herr Koestler. Schreiben Sie auch Ihre Bücher in englischer Sprache?
Seit 1940 ...
Und vorher?
Schrieb ich in deutsch.
Schon im Elternhaus?
Ich wuchs zweisprachig auf. Wir sprachen daheim ungarisch und deutsch. Wenn man das einmal gewöhnt ist, kann man leicht umschalten von einer Sprache zur anderen.
Ihre Frau verriet mir freundlicherweise, Sie schreiben ein Manuskript zuerst mit der Hand. Ihre Frau tippt es dann in die Maschine. Sie korrigieren und schreiben mehrmals neu, und erst die vierte Fassung ist die endgültige.
Was wären wir Autoren ohne unsere Frauen!
Arbeiten Sie zur Zeit an einem neuen Buch?
Ja.
Darf man darüber schon etwas erfahren?
Der Titel heißt Janus ...
Moment bitte – wenn der Titel Janus heißt – der frühere Koestler, der große, klassische Antikommunist hätte damit die beiden Gesichter der Welt gemeint: das westliche und das östliche ...?
Irrtum, mein Lieber, die Bedrohung hat sich verändert. Es geht nicht mehr um Ost-West, es geht um die Vernichtung der gesamten Menschheit, die plötzlich möglich geworden ist. Wir sind der unbegrenzten Zukunft nicht mehr sicher. Denken Sie nur an die vielen kleinen Diktatoren, von denen jeder bald ein Atombömbchen und sogar ein Wasserstoffbömbchen besitzen kann. Die Chance, dass wir dadurch in die Luft fliegen, ist groß. Dabei sind die Bomben noch nicht das Gefährlichste. Im Gegenteil. Die Regierungen dulden die Demonstrationen der Bombengegner und verheimlichen sorgsam, dass sie alle an anderen Waffen mit Giften, Strahlen, Bakterien arbeiten, die viel grässlicher und noch vernichtender wirken als die Bomben.
Sie sehen schwarz für die menschliche Zukunft? Sie sind darin pessimistisch, Herr Koestler?
Ich bin realistisch, Herr Zwerenz.
Bleibt die uralte Frage: Was kann man tun gegen die Bedrohung? Sie sprachen einmal von einer »neuen Demut«, die der Mensch sich erringen müsse. Ist das angesichts der Greuel in Vietnam und der Gefahr, dass wir alle jederzeit hineingezogen werden können und, allein durch unsere Duldung, schon mitschuldig sind – ist da das Warten auf eine neue Demut nicht etwas wenig?
Bleibt nur die uralte Antwort: Wir sind Aufklärer. Die neue Demut kann nur die Frucht der neuen Aufklärung sein.
Die Orwell betreffenden Fragen an Koestler gründeten auf meinem schon in Leipzig entstandenen Interesse wegen dessen Neigung zu Trotzki. Koestlers Sonnenfinsternis als so frühe wie authentische Romanfassung des Stalinismus fand in Orwells Buch 1984 eine Fortführung, jedoch nicht Ergänzung. Im immer gespannten Verhältnis zwischen den beiden »Exen« und einer Distanz, die der liebevollen Hochachtung nicht entbehrte, sah ich, nein entdeckte ich für mich die Aufforderung, gar Notwendigkeit, bisherige Beschränkungen in Politik und Kultur nicht mehr zu respektieren. An Koestler aber schätzte ich besonders seine eindringlichen Warnungen vor dem drohenden Ende der gesamten Menschheit als Folge der neuen Massenvernichtungswaffen. Es ging fortan nicht mehr um Ost-West, denn »die Bedrohung hat sich verändert.« Als marxistischer Revolutionär lebte Koestler stets eine Periode vorweg, arbeitete insgeheim für die Partei, als das Bürgertum so antikommunistisch war wie anschließend das Nazi-Reich, brach mit der KP, als Stalin herrschte, erkannte die Gefahr des atomaren Untergangs, als West wie Ost ihre Nuklearwaffen hochrüsteten. Heute, ein Halbjahrhundert später, führen unsere Ideologen, Politiker und Militärs noch ihre kalten und heißen Kriege weiter. Der literarische Klassiker einer Wende vom Kommunisten zum Antikommunisten aber hatte schon in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die wahren neuen Risiken analysiert. Nutzte der Stalinismus seine Metasprache, setzte der Trotzkismus seine Metasprache entgegen, in der Orwell sich artikulierte, während Koestler die neue Bedrohung direkt benannte. Auf heute, das Jahresende 2008 bezogen bedeutet das: Obama als neuer US-Präsident drückt eine Hoffnung aus. Die Hessen-Wahlen zeigen den deutschen Rückstand.
Es gibt Gründe genug, daran zu zweifeln, dass der Mensch als hochgefährdete Tierart das 22. Jahrhundert erreichen kann. Die Götter der Endzeit begannen ihr Endspiel als Tanz auf Massengräbern.
Als Jürgen Reents für unser Buch Weder Kain noch Abel (Folge 49: Contra und pro Genossen) Fragen stellte, ging ich in meinen Antworten immer nur bis an die Grenze, wo ich hätte sagen müssen: Es steht 99 gegen 1, ob die Menschheit das nächste Jahrhundert noch erleben wird. Warum scheute ich davor zurück? Wollte ich nicht als Schwarzseher, Pessimist, Misanthrop auftreten? Mich selbst aktiviert die Bedrohung. Auch 1% Hoffnung ist noch Hoffnung. In meinem Roman Der Bunker, erschienen 1983, reiste der Bonner Bundeskanzler am Schluss durch eine atomar zerstörte Welt. Es scheint, es war so einer wie Helmut Schmidt. Auf das Thema kommen wir noch zurück.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 17. November 2008.
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Gerhard Zwerenz
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