Die Kulisse ist das den Münchner Kammerspielen vorgeschaltete Lokal, wo sich das Theaterpublikum in der Pause einen schnellen Happen reinwirft. Tagsüber hocken grämliche Schauspieler und solche, die so aussehen, als wären sie welche, an der Theke und den kleinen Tischchen. lch traf dort viele Jahre hindurch mit A.P. zusammen, meinem Münchner Agenten, der da residierte, ein gläsernes Wandschränkchen im Rücken, wo er seine neuesten Bücher ausstellte. Er hielt sich mit kleinen Filets in Form, zu denen er Mineralwasser trank, auf dem Stuhl daneben funkte seine dicke, wohlbeleibte Ledertasche ihr kiloschweres Gewicht und die angeschlossene literarische Weltbedeutung ins Umfeld. Verträge, Entwürfe, Programme, wir schoben in den siebziger Jahren ne Menge Zeug über die Marmortischplatte. Später mied ich die Kulisse, zwischen Agent und Autor ist es wie in einer Ehe, beide Seiten wollen gut zusammenpassen, aber die dickste Nähe lässt ein gewaltiges Bedürfnis nach Distanz und Dissonanz entstehen, so legten wir Pausen ein, außerdem missfiel mir, dass ich im Lokal immer wieder auf Leute traf, die ich nicht treffen wollte.
Als ich mich 1978 aus dem weiten Flachkopfland der deutschen Kulturwüste in den hohen Taunus zurückzog, beschloss ich, reinen Tisch zu machen und mied die Kulisse samt Schwabing und München jahrelang, was meinem Kreislauf, Blutdruck und Nervenkostüm gut tat. Ende 1986 war ein Treffen dort unvermeidlich. Ich pirschte mich die Autobahn Frankfurt-Würzburg-Nürnberg-Regensburg entlang heran, nahm den nächsten Umweg über Deggendorf-Regen in den Bayerischen Wald und brach an einem späten, wolkenverhangenen Vormittag von der Seite her in die Landeshauptstadt ein. Die Straße war seit Jahrhunderten zum Ausbau als Autobahn vorgesehen, aber nur in kleinen Stücken, zwischendurch stand man in einer kilometerlangen Kolonne bei nicht abreißendem Gegenverkehr und Überholverbot. Bei einer Ortsdurchfahrt gönnte ich mir an der Tankstelle einen Kaffee samt der Münchner Abendzeitung zur Vorbereitung auf die City. Es hat sich nichts verändert in den runtergerissenen acht Jahren, stellte ich erleichtert fest und das Hotel Biederstein stand noch an derselben Stelle gleich neben dem Englischen Garten. In Schwabing alle hundert Meter ein einzelner Bauarbeiter, der das Pflaster aufriss und mit seiner Höllenmaschine infernalischen Lärm produzierte. Dass diese Leute dafür auch noch bezahlt werden, hat mich schon immer an jeder Form menschlichen Zusammenlebens zweifeln lassen Nach einer Unterbrechung von knapp einem Jahrzehnt sitze ich also wieder in der Kulisse. Wenn Sie reinkommen, durch die rechte Tür, geradeaus nach hinten der vorletzte Tisch rechterhand vor dem verengenden Durchgang in die anschließende Erweiterung. Ja, ganz richtig, rechts liegt dann die Toilette. Es ist immer gut zu wissen, wo in der Kneipe sie sich befindet. Am Tisch in der Ecke dämmern drei bemooste Yuppies der Unendlichkeit entgegen. Als Heinar Kipphardt noch den Kammerspielladen schmiss, tankte er an diesem Tisch auf. So oft ich ihn damals traf, er war immer gestrichen voll, ein gelernter Psychiater. Dramaturgie ist, es laufen zu lassen. Einmal begegneten Ingrid und ich ihm zufällig an der Zapfsäule einer Autobahnraststätte. Er hatte wie immer bei Überlandfahrten seine Familie dabei und stotterte etwas von Abenteuern in Mordwinien oder so ähnlich. Der Himalaja kam auch vor. Er sei eben aus dem hintersten Asien zurückgekehrt. Ich verübelte ihm nichts, er war ständig gleichmäßig besoffen und fuhr volltrunken so sicher Auto wie ein Blinder vom Hund geführt wird. Sein Wagen hatte den Blindenführerschein. Später las ich seinen Asienreisebericht in einer Zeitschrift, ob er aber dort gewesen war oder sich das ganze Abenteuer am letzten Tisch in der Kulisse aus den unterirdischen Strömen des Weins geholt hatte, weiß ich nicht, und es ist mir auch egal. Die drei Alt-Yuppies mampfen Rindswurst und trinken – wie stillos – Kaffee dazu. Natürlich ist das Lokal vom Senftöpfchen längst zu den kleinen Portionspackungen übergegangen, einer der drei kriegt das Ding nicht auf, dann schreit der zweite vor sich hin und hat den Mostrich auf der Nase. Ich bestelle mir das zarteste Filet des Hauses und einen trockenen Weißwein, den ich nicht nenne, damit er noch länger vorrätig bleibt. Mein Verdacht ist unausrottbar, dass die Kollegen von der Feinschmeckerliteratur am fleißigsten die Speisen und Getränke herausstellen, die sie nicht mögen. Was wirklich vorzüglich ist, halten sie geheim. Sollen die Gäste, die so dumm sind, sich nach den kulinarischen Empfehlungen zu richten, all das Zeug wegfressen, was nicht erster Güte ist. „Also, diese Monarchen“, höre ich vom Nebentisch, „sind ja oft schwul, der schwedische König zum Beispiel, der die Olympiahostess geheiratet hat – “ „Silvia? Die Sommerlad?“ „Ja. Wenn der bei Tisch sitzt, braucht es nur kalte Speisen zu geben, so warm wird es an der Tafel ... “ Bei diesem und jenem, denke ich, das geht hier ja zu wie in Kir Royal. Zwei chimärische junge Frauen erscheinen, bepackt mit Tüten, Beuteln, Kartons, die sie auf der Sitzbank und darunter deponieren. Die Runde schwillt auf fünf Personen an. Sie holen einen Stuhl bei mir ab. Ich nicke dem Make up humanistisch gebildet zu und werde mit einem zerstreuten Lächeln belohnt. Mit Fassbinder saß ich zuletzt am Ecktisch. Er war anfangs zu und schnupfte sich dann immer mehr auf. Leute, die vorbeigingen, weil sie pissen wollten, erblickten Rainer, standen starr da und mussten nicht mehr pissen. Überall wurde getuschelt. Rainer war kurz zuvor aus New York zurückgekehrt. Am Tag drauf hörte ich, er hatte drüben was Neues kennengelernt, den Faustfick, danach erkundigte er sich nun ringsherum und wenn die Befragten nicht wussten, was das ist, lachte er. Mir gegenüber war er immer höflich, gehemmt, gebremst oder verlegen. So ist mir bis heute unbekannt, was es mit dem verdammten Faustfick auf sich hat. Ingrid weiß, was das ist, will's mir aber nicht erzählen. Lilo jedenfalls – nach seinem Tod füllte sie die Mutter-Rolle perfekt aus – war damals todunglücklich, weil Rainer in den letzten Jahren so selten bei ihr auftauchte. Ließ sie einfach unter den Tisch fallen. Ich murkelte an ihm rum. Geh hin, ist ja schließlich deine Mama. Er hat nur gefeixt. Es gab Zeiten, da glaubte er es und Zeiten, da glaubte er einfach nicht, dass Lilo seine Mutter sein könnte. Die Familie ist so ein Erbstück, das du selbst im Bankrott nicht loskriegst. Was für eine Pleite. Als Fassbinder dann drei Jahre lang tot gewesen ist, hat Lilo mir eins übergegeigt und im Interview gemosert: „Rainer hat Zwerenz sehr gemocht – aber da war er noch ein politisch engagierter Schriftsteller und kein Soft-Porno-Schreiber. Ich glaube, Rainer hat bei Zwerenz so eine Art Vaterersatz gesucht.“ Als ich das las, war ich stocksauer. Am übelsten fand ich das Wort „Soft“, was meine harte Mannesehre knickte. Lilo erzählte dann noch allerhand Details, die keine Sau interessierten, dass der Sohn sie Mutti nannte, zum Beispiel und oft was mit Frauen gehabt habe und nicht schwul gewesen sei, sondern bisexuell. Als ich das las, musste ich mir immer wieder an die geschwollene Stirnader greifen. Mutti packte aus, hat keine Ahnung vom US-Faustfick. „ Mein Gott, dass ich so dämlich dastehe, das hat mich schon geärgert“, na, dieses Geständnis von Lilo fand ich schon wieder liebenswert. Obwohl sie mir den Porno-Softi verpasste und, vonwegen des Ersatzvaters, den Rainer in mir suchte. Vielerlei Väter gab's zu allen Zeiten, nominelle, wirkliche, erträumte, verabscheute und kesse. Ich glaube, es war in der Zeit, als ich eines meiner Fassbinders-Porträts schrieb und wir uns zufällig in der Kulisse trafen. Erst schwärmte er wieder von New York, wohin er gelegentlich übersiedeln wollte und dann geriet er unversehens ins Führer-Thema. Ich erzählte ihm von meiner Rolle als Hitlers kleiner Soldat in Italien bei der Landung der US-Army zwischen Albaner Bergen und Pontinischen Sümpfen. „Steht alles genau drin im Kriegstagebuch der Wehrmacht, Rainer, kannste dort nachlesen.“ „Sind mir zu dick, die vielen Bände, da halte ich nicht durch.“ War glatt gelogen. Er las die umfangreichsten Bücher, las nächtelang, war ein ungeheuer fleißiger Arbeiter. Meine Rolle als Hitlers kleiner Soldat zwischen Nettuno und Anzio haben die im Kriegstagebuch glatt vergessen, eine Unterschlagung. Aber was der Führer machte, wie er sich räusperte und spuckte und uns jedes kleine Fürzelchen von Angriff eigenhändig vorschrieb, das haben sie alles aufgeschrieben. „Also Rainer, der du zum Glück nie Soldat sein musstest – ich hatte damals gerade alle Hände voll zu tun, um Monte Cassino zu verteidigen, als die Amis und Engländer nebenan bei Nettuno landeten. Gleich meldete sich Adolf zu Worte: ›... wies der Führer auf die große Wichtigkeit einer eindeutigen Schwerpunktbildung beim Gegenangriff hin ... der Kampf müsse hart und erbarmungslos nicht nur gegen den Feind, sondern im Falle des Versagens auch gegen jeden eigenen Führer und die eigene Truppe geführt werden ... müsse der Feind erkennen, dass die deutsche Kampfkraft ungebrochen und die Großinvasion ein Unterfangen sei, das im Blute der angelsächsischen Soldaten ersticken werde ...‹“ Weil ich damals gerade darüber arbeitete, konnte ich diesen ganzen Mist auswendig und der Filmemacher hörte mir fasziniert zu. „Hitler“, sagte Fassbinder, „war nicht nur ein Schwein, er spricht und schreibt auch wie ein Schwein, das ist ja nicht auszuhalten.“ Da konnte ich ihm nur zustimmen, allerdings fand ich den Vergleich beleidigend für die Schweine und erzählte weiter: „Wir also nix wie raus aus dem Schlachthaus Monte Cassino und rüber zur Küste ins Schlachthaus Nettuno. Am 31.1. kam Adolf erneut auf die beabsichtigte Angriffsführung im Brückenkopf Nettuno zu sprechen ... also direkt mit mir sprach er ja nicht, doch wurde ich brühwarm informiert über die Linie Feldmarschall Kesselring – General Conrad usw. runter bis zu meinem Vorgesetzten, einem Obergefreiten, der hatte Schweißfüße, hieß Kunz und war ein Held, weil er nicht richtig schnell und leichtfüßig genug flüchten konnte, weshalb er lieber im Schützenloch hocken blieb und sich rundum verteidigte.“ Adolf ließ nicht locker. Am 2.2. meckerte er wieder rum: „Der Führer unterstrich ... erneut die Wichtigkeit, den Landekopf Nettuno zu bereinigen ...“ Auf Seite 147 berichtet das Kriegstagebuch von den Anstrengungen der Heeresleitung, uns Grabenkriegern Verstärkung zuzuführen, als da genannt werden: „Landesschützen Bataillone ... 2-3 Magenkranken-Bataillone ... Lehrtruppe der Hochgebirgsschule Mittenwald ...“ Dann geht's weiter im Kriegstagebuch: „Die Div. Hermann Göring nahm Isola Bella.“ Kurz und bündig, nicht wahr? Damals gehörte Gustaf Gründgens noch nicht zu unserer Truppe, er stieß erst Anfang 45 dazu, ich hätte ihn gern schon ein Jahr früher dabei gehabt. Aber er durfte vorher noch zur höheren Ehre des Dritten Reiches Theater machen, dafür sorgte Görings Frau, die ehemalige Schauspielerin Sonnemann ... Das wusste Fassbinder – wie er überhaupt glänzend informiert war über die Bühne der zwanziger und dreißiger Jahre. All diese Geschichten beschäftigten ihn. Mit dem Krieg kannte ich mich besser aus. Er und seine Generation hatten nur an den Folgen zu knabbern. Lilo plagten andere Sorgen. Nach seinem Tod bat sie eine tüchtige Cutterin, ihr schriftlich zu bestätigen, dass Rainer mit ihr, also der properen Cutterin was hatte – damit wäre dann bestätigt, was die Mutter im Interview über die Bisexualität des Sohnes zum Besten gab. Die Mütter machen gern aus einer Mücke zwei Elefanten und spielen Verkehrspolizei, um die Samenströme in die richtige Richtung umzuleiten. Dabei war das doch alles längst gelaufen und kein Mensch hatte auch nur den geringsten Grund, sich darüber aufzuregen. Die Mutter reagierte aus ungewissen Schuldgefühlen heraus, obwohl sie wegen ihrer krankheitsbedingten Abwesenheit in Rainers Kinderjahren nicht schuldig war. Dessen Menschensammelwut könnte im heftig empfundenen Einsamkeitsgefühl des kleinen Jungen wurzeln. So sammelte RWF erst angelesene, dann selbsterfundene Gestalten, bis er als Schauspieler und Regisseur imstande war, lebende Menschen um sich zu gruppieren. Wer wollte, konnte beim Blick in Rainers Augen den Seelensammler erkennen und eine Spur Angst, auf Feinde zu stoßen, zurückgewiesen und wieder zum Alleinsein verdammt zu werden. Auf diese Weise sah ich den Mann und begann ihn zu begreifen, auch wenn ich längst wusste, Kriegskinder sind als Kinder des Krieges unbegreifbar. Ganz der Krieg selbst, der ein Geheimnis bleibt, weil der Mensch sich scheut, in den Spiegel zu blicken, wenn ein bewaffneter Affe herausschaut. Der monumentale Chemnitzer Marxschädel sollte Nachbarn erhalten mit den Köpfen von Friedrich Nietzsche, Karl May, Richard Wagner, Ernst Bloch, Rainer Werner Fassbinder. Die beiden letzten sind keine geborenen Sachsen. Marx auch nicht. Es kommt nicht auf den Geburtsort an. Maßgabe ist der Überlebensmensch. So entstünde die moderne Chemnitzer Walhalla, ein Zentrum der Erinnerung an die kreative Schaffenskraft der Klasse Mensch im Widerstand. Am Montag, den 5. Mai 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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