Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
Als Jürgen Reents für unseren Interview-Band Weder Kain noch Abel Fragen stellte, erkundete er Details meiner Gablenzer Bodenkammer-Bibliothek. Im Buch lesen sich meine Erinnerungen so: Heutzutage nimmt vor allem der Konsum von dummen und idiotischen Büchern zu. Man muss aber die guten Bücher zur Hand nehmen, auch wenn sie keine Neuerscheinung sind. Ich plädiere für das Bücherlesen, und meine Argumente sind die Bücher meiner Jugend. Hier sind sie, nach der Liste meines Onkels Otto Widl:
Ich beginne bei A mit Anzengruber, „Der Sternsteinhof“ – und muss gleich gestehen: Den habe ich nie gelesen, ich weiß bis heute nicht, was das ist. Also: Das A überspringen wir.
Unter B haben wir Giovanni Boccaccio „Decamerone“ I und II, gefolgt von Honoré de Balzac „Glanz und Elend der Kurtisanen“, Henri Barbusse „Das Feuer“, Karl Friedrich Becker „Weltgeschichte“ 20 Bände – damit kann man natürlich eine lange Zeit verbringen.
Bei C finden sich: Giacomo Casanova „Memoiren“, Otto von Corvin „Der Pfaffenspiegel“ – das ist Religionskritik, da geht es um christlichen Fanatismus, wir sagen heute auch: Fundamentalismus.
Dann D: Fjodor Michailowitsch Dostojewski „Aus einem Totenhaus“, Charles Dickens „Oliver Twist“. Nun kommen die ersten Rechten, es ist nützlich, auch ihr Denken zu kennen: Edwin Erich Dwinger, „Die Armee hinterm Stacheldraht“ und „Zwischen Weiß und Rot“. Das war ein kaiserlicher Kriegsfreiwilliger, der sich nach dem 1. Weltkrieg in den Dienst russischer Weißarmisten stellte. Ich habe beide Bücher gelesen, dadurch war ich später als Soldat sehr hellhörig, wenn ich solche Töne hörte.
Unter E folgt Hans-Heinz Ewers. Das war ein hochinteressanter Schriftsteller, in der Weimarer Republik sehr beliebt, ein Gespensterautor. Hier sind seine Titel: „Der Geisterseher“, „Der Zauberlehrling“, „Mein Begräbnis“, „Alraune“.
Bei F dann Gustave Flaubert „Madame Bovary“. Das nächste Buch ist verschwunden: Sofja Fedortschenko „Der Russe redet“ – ich habe es sehr geliebt. Die zehn Bände Gustav Freytag habe ich mir nicht angetan, das war mir zu viel.
Gehen wir zu G: Nikolai Gogol „Die toten Seelen“, Maxim Gorki „Meistererzählungen“, Johann Wolfgang von Goethe „Faust“ – den habe ich als Junge aber auch nicht gelesen. Dann ist da Friedrich Gerstäcker „Tahiti“, er hat Tagebücher über seine Reisen geführt – Hans Jakob Christoffel von Grimmeishausen „Simplicissimus“. Und nun der Gegenschlag: Hans Grimm „Volk ohne Raum“.
Bei H kommen wir wieder aus der Düsternis raus: Jaroslav Hasek „Schwejk“ Band I und II, Ludovica Hesekiel „Unter'm Sparrenschild“, E.T.A. Hoffmann, „Vier Novellen“, „Phantastische Geschichten“, „Von Spuk und Wirklichkeit“, „Die Elixiere des Teufels“, „Musikalische Novellen“. Heinrich Heine „Buch der Lieder“, Magnus Hirschfeld „Sittengeschichte des Weltkrieges“ I. und II. Band.
Unter K finden sich Adolph Freiherr Knigge „Über den Umgang mit Menschen“, Erich Knauf „Ca ira!“ – das war ein Revolutionsbuch, eine Reportage aus dem Kapp-Putsch. Dann ein Autor, der mir ungeheuer geholfen hat, die Welt zu verstehen: Max Kemmerich, er ist heute völlig unbekannt, verschwunden. „Prophezeiungen“, „Kulturkuriosa“, „Aus der Geschichte der menschlichen Dummheit“, „Moderne Kultur“ und „Dinge, die man nicht sagt“ hießen seine Bücher. Ein Kulturaufklärer, ich habe ihn immer wieder gelesen, und erst nach und nach verstanden.
Wir kommen zu L mit Adolf Langer „Casanovas Abenteuer“, Choderlos de Laclos „Gefährliche Liebschaften“, Ludwig Levy-Lenz „Der Arzt im Hause“ und Jack London mit acht Büchern: „König Alkohol“, „Menschen der Tiefe“, „Jerry der Insulaner“, „Michael“, „Südseegeschichten“, „Ein Sohn der Sonne“, „Lockruf des Goldes“ und „Abenteuer des Schienenstrangs“.
Bei M haben wir Dmitri Mereschkowski „Leonardo da Vinci“, eine Biografie. Dann Victor Margueritte „Dein Körper gehört Dir“, ein Aufklärungsbestseller. Unsere Arbeiterfrauen haben ihn von Hand zu Hand gegeben. Das war damals eine Sensation. Weiter: Guy de Maupassant „Meisterromane“, Thomas Mann „Buddenbrooks“; Prosper Merimee „Die Bartholomäusnacht“ – das Buch habe ich verschlungen. Warum haben die in der Nacht eigentlich wen so massenhaft abgemurkst? Dann ist da noch Gustav Meyrink „Der Golem“.
Und jetzt kommt N: Friedrich Nietzsche „Also sprach Zarathustra“. Den habe ich als Mitglied der Flieger-HJ angefangen zu lesen, das war meine philosophische Jugendlektüre, die mich seitdem immer begleitet hat. Anfangs habe ich das natürlich auch nicht verstanden, habe aber unterstrichen und Fragen an den Rand geschrieben und mir später in Leipzig die einzelnen wichtigen Worte hinten notiert. Natürlich auch das wichtige Wort, das jeder deutsche Männerarsch kennt: „Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht“ – Seite 71 Peitsche, steht da. Auch: Seite 197 Atomfeuer. Nietzsche hatte darüber ja spekuliert. Das Wort „mühsam“ hat mich ungeheuer interessiert. Ebenso „böse“, „bösern“, „es ist Nichts zu bösern“, ich böser, du böserst – das sind so Dinge, bei denen ich angefangen habe nachzudenken. „Die Dichter lügen zu viel.“: Da gab es ganz tolle Passagen, die haben mich interessiert. Da habe ich aber noch nicht gewusst, dass er das bei Schopenhauer halb abgeschrieben hat, er hat es aber besser formuliert. „Die Menschen erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung“. Das habe ich mit 15 Jahren in der Flieger-HJ zitiert, gegen unseren „Crimmitschauer Stadtanzeiger“ gerichtet, es gab ein riesiges Gelächter. Und das ist ja heute noch genauso. Nietzsche ist immer umstritten gewesen. Im Dritten Reich war er durchaus angesehen, wurde aber nicht völlig akzeptiert. Die SS war gegen ihn, wegen seiner Judenfreundschaft. Dann komme ich zurück aus der Gefangenschaft und halte meine Vorlesungen an der Ingenieurschule. Da habe ich ab und zu eine Sentenz von Nietzsche eingeflochten, die ich diesem Buch entnommen habe. Ich war aber immer unzufrieden, weil ich nicht so richtig verstand, was mit Nietzsche nun los ist, er galt in der DDR als Klassenfeind. Als ich im zweiten Semester bei Bloch war, habe ich bei unseren ersten persönlichen Zusammentreffen das Gespräch auf Nietzsche gebracht, ich wollte Blochs Meinung über ihn wissen. Er hat sich ziemlich zurückgehalten, aber ich habe gemerkt, dass Bloch, so wie er Marxist war, auch Nietzschianer war, ein fast klandestiner. Das hat er noch lange an sich abtropfen lassen, erst 1956 konnte man offen mit ihm darüber sprechen. Als Bloch dann in Tübingen war, war es das selbe Problem: Nietzsche war nicht angesehen, war belastet durch die Bezugnahme auf ihn im Dritten Reich. Unsere Genossen wollten nichts davon hören, dass Bloch zum Drittel Marxist, zum Drittel Nietzschianer und zum Drittel er selber war, Blochianer. Ich habe das Nietzsche-Buch aus der Kiste meines Onkels immer auf Reisen mitgenommen, vor allem, wenn ich ab und zu nach Tübingen zu Bloch fuhr, dann wollte ich immer mit ihm über Nietzsche sprechen, um das endlich zu verstehen.
Einen Autor mit O haben wir nicht, darum geht es weiter mit P: Abbé Prevost „Manon Lescot“, das hat Massenet und Puccini zu Opern angeregt. Und Ernst Penzoldt „Die Powenzbande“.
Bei R gibt es Alexander Roda Roda „Schwabylon“ und „Die verfolgte Unschuld“, Ludwig Renn „Krieg“, ein großer Bestseller in der Weimarer Republik, ein absolutes Antikriegsbuch. Überhaupt: Erich Maria Remarque „Im Westen nichts Neues“, Robespierre „Erinnerungen“ – das Buch habe ich verschlungen. Es war für mich ein absoluter Roman, das Köpfen in Frankreich.
Und nun S: Emil Scholl „Der Rosstäuscher“ kenne ich nicht. Upton Sinclar mit „Boston“ und „Amerikanische Erziehung“. Aron Simanowitsch „Rasputin der allmächtige Bauer“. Henrik Sienkiewicz „Mit Feuer und Schwert“, schließlich Eugene Sue „Die Geheimnisse von Paris“, ein mitreißender Krimi, ganz früh.
Dann T, sehr wichtig: Mark Twain „Tom Sawyers Abenteuer“, Rabindranath Tagore „Meine Lebenserinnerungen“, Leo Tolstoi 12 Bände, darunter „Auferstehung“, „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“, „Lebensstufen“, „Weltanschauung“. Der nächste Russe: Ivan Turgenev „Väter und Söhne“ Das U fehlt. Bei V haben wir Friedrich Theodor Fischer „Auch Einer“.
Unter W ein ganz wichtiges Buch für mich: Heinrich Wandt „Etappe Gent“, ein Antikriegsbuch aus dem Ersten Weltkrieg, mit Blick hinter die Armee. Vorne sind die Arschlöcher ins Feuer geschickt worden und in der Etappe, das war hier also Gent, fressen und huren die Offiziere in Saus und Braus. Der hat richtig saftig darüber geschrieben, das war das Aufklärungsbuch für mich. Als ich dann selber Soldat war, habe ich immer jeden Offizier angeguckt, ob er so ein „Etappe Gent“-Hengst ist. So bin ich in meine Rolle gekommen, natürlich auch über viele Irrtümer.
Abschließend Z: Emile Zola „Nana“ und „Lourdes“, Arnold Zweig „Der Streit um den Sergeanten Grischa“.
Um es zusammenzufassen: Vieles von dem, was mich bewegt, wie ich mich verhalten und was ich getan habe, führt auf diese frühe Lektüre zurück. Ich ließ mich nie von anfänglichem Nichtverstehen abschrecken. Ich muss wirklich den Hut ziehen vor der Bibliothek meiner Jugend, und so singe ich das Lied des Buches als einer widerständigen Lebensform. Jürgen Reents befragte mich im vorigen Jahr so geduldig und kenntnisreich nach meiner Gablenzer Lektüre der frühen Jahre, dass ich mich bis in die Details erinnern musste. Die zitierten Passagen aus Weder Kain noch Abel sind für mich sowohl Vergangenheit wie Gegenwart. Stehe ich heute in unserer Hausbibliothek vor den geretteten 200 Büchern aus der Weimarer Republik, erkenne ich den mein Leben durchziehenden roten Erzählfaden. Diese Bücher von Bocccacio bis Emil Zola und Arnold Zweig wurden mir zum epischen Schatzkästchen, von dem ich noch in Notzeiten zehrte und zugleich zum Schlachtfeld, das eine Vorstellung dessen erlaubte, was mir danach von Monte Cassino bis Warschau geschah. Heute, im Rückblick auf Weimar und sein Ende erhebt sich die Frage, ob die Epoche der Vernichtungskriege überwunden ist oder zur Wiederholung ansteht.
Vor kurzer Zeit Nachricht aus dem Internet: „Langewisches Wilder Haufen führt neues Stück auf – Motto: Bloß nichts gefallen lassen – Eine Satire nach Gerhard Zwerenz“. Ich wünsche dem jugendlichen Wilden Haufen Erfolg.
Unsere Online-Serie im poetenladen heißt zwar Die Verteidigung Sachsens …, umfasst jedoch das ganze Ostdeutschland als vergangene DDR, diesen gescheiterten Versuch, der nicht scheitern musste. Kein Grund, sich zu entschuldigen, zu verleugnen, zu schämen. Die da jetzt anklagend auf andere zeigen, sollten sich an die eigene Nase fassen. Schon stolperte Stanislaw Tillich mehrmals über seine Fragebogenvergangenheit, die er anderen verübelte. Komm heraus aus dem Versteck, du CDU-Altmitglied, mach dich ehrlich und wage eine neue Politik, die der Kultur nicht entsagt. Dazu gehörte die Erkenntnis, dass die friedliche Revolution von 1989 scheiterte. Erstens gehört zum Frieden das Verhalten beider Seiten. Das klappte am Anfang, weil Gorbi gerade erzitterte. Zweitens schlugen die Revolutionäre statt des 3. Weges den 1. Weg ein und landeten bei kapitalen Pleitegeiern, denen jetzt auch noch die Flügel gestutzt werden. Glückauf zur Ankunft im Reich der Insolventen, Bankrotteure und Arbeitslosen? Statt Rommels Panzern in Afrika rollen heute Merkels und Jungs Panzer am Hindukusch. Sieht so das Erbe von Weimar aus?
Die Suhrkamp-Ausgabe seiner Bücher schickte Bloch uns stets mit freundlicher Widmung an Ingrid und mich. Nur Erbschaft dieser Zeit in der erweiterten Fassung von 1962 war mir allein zugeeignet: „Ein Gruß vom Kurfürstendamm der zwanziger Jahre für Gerhard Zwerenz – herzlich Ernst Bloch“. Das war ein Brückenschlag von Tübingen aus zurück zu meinem letzten Leipziger Besuch im Haus von Ernst und Karola. Die Erbschaft …, 1935 in Zürich erstmals erschienen, in der DDR nicht und erst danach in Frankfurt am Main wieder aufgelegt, enthält den Kern der Differenz zum Moskauer und Ostberliner Parteimarxismus. In jener Augustnacht 1957 fragte ich den Philosophen, weshalb er nicht darauf bestanden habe, die Erbschaft … im Aufbau-Verlag herauszubringen. Seine Antwort: „Es ist nicht ihre Erbschaft.“ Zielsicher richtete sich die Anti-Bloch-Kampagne gegen seine Versuche einer marxistischen Ontologie und Anthropologie. Leo Kofler arbeitete später an den verfemten Themen. In der gelben Hanser-Reihe erschien 1973 Aggression und Gewissen. Kofler aber war selbst Renegat, im Osten indiskutabel und für den Westen viel zu links.
Blochs Erbschafts-Buch enthält 3 Grundsatz-Thesen:
1. Die Niederlage der Linken im Kampf gegen Hitler wurzelt in falschen strategischen Annahmen. 2. Der Antifaschismus bedarf der Dekonstruktion des Faschismus sowie der eigenen Irrtümer. 3. Bei allen Differenzen unter Linken gebührt der „Liebe zum Gelingen“ Vorrang.
Das Axiom „Liebe zum Gelingen“ schmuggelte Bloch leicht verändert als „ins Gelingen verliebt“ in die ersten Sätze des Vorworts zum Prinzip Hoffnung ein. (Erster Band, Aufbau-Verlag 1954) Es hätte als Motto zu Erbschaft dieser Zeit gehört. Das Buch war Blochs Meisterwerk des frühen zweiten Exils, sein Dokument der Dekonstruktion, die Warnung vor der Niederlage von 1933 und den Folgen bis heute. Die Berliner Republik ist die erneute Versuchung der Deutschen wie die Weimarer Republik zu enden statt den 3. Weg zu gehen.
In der Liste der Gablenzer Bibliothek wird das Antikriegsbuch Etappe Gent von Heinrich Wandt hervorgehoben, das mich davor bewahrte, dem heroischen Dandy Ernst Jünger auf den Leim zu gehen. Der von der FAZ in Erinnerung an Helden-Zeiten dauerbelobigte Kriegsheld ist zu süß, wie wir in Folge 5 unserer Verteidigung des sächsischen Pazifismus belegen. Ebensoviel verdanke ich Magnus Hirschfelds Sittengeschichte des Weltkrieges. Wer die zwei in Text und Foto fulminanten Bände kennt und trotzdem wohlgemut in die Schlacht zieht, muss schon vorher hirntot gewesen sein. Beide Hirschfeld-Bücher sind die konkretisierte Dekonstruktion aller Kriege. Besonders Jugendlichen zu empfehlen, bevor sie Soldat oder Soldatin werden müssen oder wollen. Wir führen drei Hirschfeld-
Am 21.9.2008 bediente sich ausgerechnet die an hochartifizieller Mode interessierte FAZ der Hirschfeldschen Dekonstruktionstechnik, indem sie ein loses Kunstwerk des phantastischen Bildhauers Peter Lenk vom Bodensee abdruckte. Entgeistert erblicken wir die Kanzlerin bar aller Textilien, etwa als DDR-FKK-Erinnerung? Sie steht in intimer Nähe zu ebenfalls entblößten Polit-Recken; dem Schröder streichelt sie den Rücken, den Stoiber packt ihre Hand am Kleinen Herrn, doch der bleibt ungerührt und zeigt nur gesichtsweise Wirkung. Kunst eben.
Ist es das schöne alte Märchen von des Kaisers neuen Kleidern? Die Kanzlerin als des kriegerischen Monarchen Stellvertretung? Warum nicht im total entfesselten Dekolleté bei den Wagner-Festspielen zu Bayreuth antreten wie schon mal in Oslo? Vorschlag fürs aufgehübschte Publikum: diademgeschmückt, goldkettenbehangen, brillantringbefingert – die kunstbeflissenen Herrschaften der Wagnerbrunst huldigen dem Zeitgeist, der bis auf die nackte Haut präsentiert wird und nur ein paar Notmillionen an sich trägt. Da fühle ich mich an Etappe Gent erinnert und sehe Hirschfeld die Götterdämmerung dirigieren. Ich, GZ alias Gert Gablenz und Ingrid Zwerenz stehen daheim vor den 200 Büchern, die durch 12 Jahre Hitlerzeit, DDR und BRD bis in unsere Hausbibliothek am Fuße des Feldbergs gerettet wurden. Ein Hoch auf das treue Buch? Online nachzulesen? Ein Hoch auf das Netz? Die lustige bibliophile Geisterfahrt vom Buch zum www und bis in die Hölle der buchlosen Zeit ist jedenfalls mit guten Vorsätzen gepflastert. So sagen wir's im poetenladen, diesem literarischen online-Paradies an der Pleiße, wo Angela in Leipzig ja auch einst friedvoll studierte, bevor sie sich des Kaisers neuen Kleidern zuwandte, nicht ahnend, dass sie es einst laut Grundgesetz zur Oberbefehlshaberin einer am fernen Hindukusch kriegführenden gesamtdeutschen Armee bringen würde.
Dagegen der Sachse Erich Kästner:
Und als der nächste Krieg begann, Da sagten die Frauen: Nein! Und schlossen Bruder, Sohn und Mann Fest in die Wohnung ein. Dann zogen sie, in jedem Land, Wohl vor des Hauptmanns Haus Und hielten Stöcke in der Hand Und holten die Kerls heraus. Sie legten jeden übers Knie, Der diesen Krieg befahl: Die Herren der Bank und Industrie, Den Minister und General. Da brach so mancher Stock entzwei Und manches Großmaul schwieg. In allen Ländern gab's Geschrei Und nirgends gab es Krieg.
Anmerkung zur Kunstgeschichte. Herrschten in Deutschland römische Sitten, stieße Merkel dem Schröder statt ihn zu streicheln ein Messer in den Rücken. Und des Stoiberers ungalante Reglosigkeit trotz Angelas Handreichung, um den Puls der Zeit zu fühlen, erledigte den Mann für alle Zeiten. Über den Wassern aber schwebte der Geist Mussolinis, inkarniert in Silvio Berlusconi. So sähe eine intelligente Comic-Serie von heute aus. Abgesehen davon denke ich, alle diese kriegerisch engagierten Politiker und -innen, Generäle und -innen bekamen in ihrer traurigen Kindheit und Jugend einfach die falschen Bücher zu lesen. Wir versuchen das jetzt via Netz wieder gutzumachen.
Nachdem sich ein Halbdutzend elitärer Spiegel-Essayisten für den Krieg am Hindukusch und sonstwo abmühte, überrascht der freie Bestsellerphilosoph Richard David Precht die akademische Leserwelt am 3.8.2009 plötzlich mit einem geistesblitzigen Handkantenschlag gegen den Krieg. Ähnliche Orgien der Vernunft leistet sich in letzter Zeit nur noch Hans-Ulrich Jörges im stern. Was ist los in Hamburg? Kommt Desertion von den Schlachtfeldern in Mode? Precht: „Deutschland verteidigt am Hindukusch nicht seine Sicherheit, sondern es verstößt gegen das Völkerrecht. Geboten wäre ein Aufstand der Intellektuellen…“
Was für ein Utopist – und das so plötzlich mitten im Spiegel! Geht da etwa der Geist Augsteins um, vonwegen Sturmgeschütz des Grundgesetzes?
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 24.08.2009.
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Gerhard Zwerenz
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