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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Folge 45

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

45

So trat ich meinen Liebesdienst an …

Friedrich Nietzsche
Sucht die Frau im Manne Nietzsches Übermenschen?
Mit meiner schönen Krankheit im Leib war ich der reinste Asoziale, war wie die Lilien auf dem Felde, von denen sie in der Kirche früher immer berichteten, sie arbeiteten nicht und ernteten doch, als ob Lilien arbeiten könnten, und ich konnte es genausowenig, statt dessen gaben sie mir auf einer ihrer tausend Amts­stuben einen prima Ausweis, auf dem stand, dass ich schwerbeschädigt sei und bevorzugt und zu halben Preisen befördert werde in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Das Kranken­geld, das ich erhielt, langte vorn und hinten nicht, man konnte aber durchkommen, im Übrigen braucht die Lilie auf dem Feld nicht viel, sie wächst ziemlich kostenlos heran.
Gewisse Schwierigkeiten ergaben sich mit meinen Fortpflanzungstierchen. Die Biester erwiesen sich als springlebendig. Oder sie hatten mich längst aufgegeben und machten, dass sie wegkamen von mir. Bei uns gibt es ein Sprichwort, das vererben die Generationen aneinander weiter: Der braucht nur die Hose ans Bett zu hängen, und schon ist seine Frau schwanger. Ich hängte die Hose vorsorgehalber nicht ans Bett, denn Trauke hatte gerade zwei Abtreibungen hinter sich und schwor drei heilige Eide, beim nächsten Mal das Kind zu behalten. Mir wurde ganz schwindlig bei dem Gedanken, mit einem Nachkömmling die jetzige Zweiergruppe zum dreiköpfigen Familienverband zu komplettieren. Ich hatte gerade so viele Familien kaputtgehen und sterben sehen, ich fühlte mich unzuständig für den Ersatz. Außerdem hatte ich so wunderbar wunde Lungen, da konnte ich es doch gar nicht verantworten, ein Kind in die Welt zu setzen.
Was ich aber auch vorbrachte, es wog leicht gegenüber der einzig schwerwiegenden Beteuerung Traukes, die die Nase voll hatte von den Auskratzungen, na, eigentlich war es weniger die Nase, jedenfalls drohte sie glatt mit Abtreibungsstreik. Zugleich blühte sie nach den Eingriffen um so kräftiger auf. An einem Sonntagnachmittag war es so langweilig, dass wir uns auf die Matratze warfen, doch bevor es soweit war, fielen mir meine heiligen Prinzipien ein, und ich weigerte mich. Es ergaben sich natürlich alle möglichen Ersatzhandlungen, und meiner Meinung nach ist mancher Ersatz gar keiner, aber Trauke hatte da ihre eigene Meinung, außerdem einen verdammten Dickschädel, den setzte sie durch, da kannte sie nichts, da ging sie durch die stärkste Wand.
Je mehr sie drängte, desto zurückhaltender reagierte ich. Unzufrieden begann sie herumzumaulen, früher hätte ich den Rückzieher perfekt gebracht, das jetzt wär eine Stümperei. Ich stellte mir aber immer nur vor, dass ein Kind da wäre, das man nicht satt kriegen könnte, und daran scheiterte ich. Gut, erklärte Trauke, dann nimm einen Pariser. Das hätte ich längst getan, doch war keiner mehr im Haus. Bei dem Massenverbrauch in unserer kleinen Zweiergruppe hielt der Vorrat nie lange an. Nun konnte man die freundlichen Verhinderungsmittel zwar an Wochentagen beim Friseur und Apotheker kaufen, doch heute war Sonntag, da hielten die ihre Läden geschlossen. Der nächste Automat, aus dem man Dreierpackungen ziehen konnte, befand sich am Bahnhof in der Männertoilette.
Dann nimm das Fahrrad und fahr zum Bahnhof, beschied mich Trauke.
Ich hab keinen Fünfziger! antwortete ich.
Ich hatte tatsächlich keinen. Man brauchte aber einen für den Automaten, da ging kein Markstück und kein Zweimarkstück rein, die Gummis gab's nur fürn Fünfziger und für nichts sonst.
Dann geh zu Papa und frag ihn, ob er'n Fünfziger hat! fauchte Trauke.
Und wenn er fragt, wozu ich ausgerechnet am heiligen Sonntagnachmittag von ihm einen Fuffziger haben will, was antworte ich dann?
Sie blickte mich an wie einen Idioten. Was sag ich dann? wiederholte sie, was sag ich dann? Was sagst du denn dann?
Sie ergriff mich bei der Hand und schleppte mich ab zu ihrem Alten, der friedfertig in seinem Opalehnsessel saß und so tat, als lese er Zeitung. Dabei stand doch immer nur dasselbe drinnen, ich wußte längst, er hielt die Zeitung seit Jahren nur zum Schein so, als läse er darinnen, in Wirklichkeit schlief er wie die Hasen mit offenen Augen.
Papa! fuhr sie ihn an, gib mal 'nen Fuffziger raus!
Der Alte schreckte zusammen, das Papier raschelte, gehorsam begann eine Hand in der Hosentasche zu suchen, man hörte die Hand an der Holzprothese entlangscharren, dann kam sie wieder zum Vorschein mit einigen Münzen.
Wozu braucht ihr denn am Sonntag ausgerechnet einen Fuffziger? fragte der liebe Papa verwundert. Er konnte sich in seiner beschädigten Altmänner­landschaft wirklich nicht den Baum vorstellen, den seine Tochter hervorzaubern wollte und für den ich geradezustehen hatte an diesem Sonntag der Langeweile.
Gutmütig suchte er in drei Handvoll Münzen nach einem silberglänzenden Nickelstück oder war es irgendein Ersatzleichtkunstmetall. Tatsächlich fand sich ein Fünfziger, ich kriegte ihn in die Hand gedrückt und hatte mich aufs Rad zu schwingen. Ein paar gute Wünsche Traukes begleiteten mich noch den Berg runter, fahr vorsichtig, sie hatte Angst, aber weniger um mich als um die Gefahr, dass meinem Pionier was zustieße, dass ich ihn dann etwa beschädigt wieder zurückbrächte, was nützten drei Gummis, wenn nichts da war, es reinzustecken.
Ich strampelte also Richtung Bahnhof. Es war tatsächlich so ein richtiger gottverdammter, hoffnungsloser Sonntagnachmittag mit grauem Licht und endloser Elegie, wie sie nur verkehrslose Innenstadtstraßen ausströmen können. Auf dem Bahnhofsvorplatz sang eine Dreiergruppe der Heilsarmee fröhliche Weisen, wozu ihnen die Tränen über ihr armseliges irdisches Dasein die Wangen näßten. Ich war so hingerissen von der Vorstellung, dass ich beinahe meinen Fünfziger in die Mütze des Bittkassierers geworfen hätte. Im allerletzten Moment wachte ich auf, schreckte zurück, umkrampfte mein einziges wichtiges Geldstück, als wär's meine Seele selbst, und der Heilsarmist, der mich scharf beobachtet hatte unter seinem tränenumflorten Blick hervor, verdammte mich in diesem Moment meines schändlichen Egoismus wegen zur ewigen Höllenfahrt.
Er konnte schließlich nicht wissen, dass ich ausgesandt worden war, drei Pariser zu holen und mit ihrer Hilfe Trauke an diesem elenden Wochenendnachmittag ein wenig glücklicher zu machen als sie sich fühlte in ihrer tiefen irdischen Einsamkeit.
Offen gesagt schämte ich mich etwas vor diesem Heilsarmisten, der in mir wirklich den Abschaum der Menschheit erblicken mußte, weil ich so gierig an meinem Fünfziger festhielt, statt ihn wegzuschenken, wie es sich gehörte für einen anständigen Christenmenschen, der ich zwar gar nicht war, was der Heilsarmist wiederum nicht wissen konnte, weil man es mir äußerlich nicht ansah. Am liebsten hätte ich dem guten Mann der Bitternis eine Erklärung abgegeben, doch wie erklärt man an so einem Sonntagnachmittag einem singenden und abkassierenden heiligen Heilsarmisten, dass man ihm einen Fünfziger vorenthalten müsse, weil man ihn zum Kauf von Gummiprodukten benötige, unter deren Schutz man daheim sein geiles Mädchen befriedigen müsse ohne es der Gefahr einer Schwängerung auszusetzen.
Ich fürchtete, mit dieser Erläuterung den Mann unter der großen bunten Mütze leicht zu überfordern, lehnte mein Rad gegen die Bahnhofsseitenfront, schloß es sorgfältig ab und verschwand im Inneren, wo ich schnurstracks die Herrentoilette aufsuchte.
Als ich drinnen war, überkam mich's wie ein Drang und Zwang, jedenfalls mußte ich erst einmal pissen, dabei stellte sich heraus, ich war voll bis oben hin, es dauerte eine ganze Zeit, mich zu entleeren, ich stand also und ließ es laufen, und als ich ihn tüchtig abschwenkelte und wieder verstaute und mich eben Richtung Hinterwand, wo die Automaten angebracht waren, wenden wollte, fuhr mir der Schreck durch alle Glieder, denn in der Zwischenzeit war jemand hereingekommen und stand auch an der Pißrinne, wo er es rinnen ließ. Da stand also kein anderer als mein Abkassierer von der Heilsarmee.
Mir wurde leicht übel vor peinlicher Überraschung. Der Nickel in meiner Hand brannte wie Feuer. Würde ich es wirklich fertigbringen, unter den Augen dieses pissenden Heiligen mit der bunten Mütze den Fünfziger, den ich ihm und allen Bedürftigen der Welt eben verweigert hatte, in diesen sündigen Automatenschlitz zu stecken? Der Mann tat so, als ginge ihn das alles nichts an. Dabei bemerkte ich genau, er beobachtete mich unablässig. Wahrscheinlich war er mir sogar absichtlich gefolgt, um mich zu bestrafen oder um zu sehen, was ich trieb. Vielleicht hatte er Verdacht geschöpft und wollte sich nun durch Augenschein von meiner ungeheuerlichen Verkommenheit überzeugen. Zuzutrauen war dem kleinen Frömmling alles, nur nichts Gutes. In meiner großen Not tat ich so, als läse ich nur neugierig die Schrift an den Automaten, und weil der Heilsarmist immer noch an der Rinne verharrte, obwohl er schon längst nicht mehr pißte und ganz ausgetrocknet herumstand, dieser Wachsoldat der Moral, faßte ich mir ein Herz, wandte mich abrupt um und schritt gemächlich an ihm vorbei und hinaus in die Bahnhofshalle, wo ich zu den Bahnsteigen abdampfte.
Dort ging ich wie ein Fahrgast einige Male auf und ab, in gemessenem Schritt-Tempo und ganz so wie jemand, der auf den Zug wartet, nur wurde in dieser Zeit gar kein Zug erwartet, es wartete auch weit und breit keine einzige Menschenseele mit, so dass die beiden Bahnbeamten, die verdrossen ihren Sonntagsdienst verrichteten, worin der auch bestehen mochte, mich verwundert bis verdächtigend anblickten.
Ich störte mich nicht daran, und als ich meinte, so lange könne auch ein Heilsarmist nicht ausgepißt an der Rinne stehen, ging ich in die Toilette zurück. Tatsächlich war niemand außer mir da. Ich trat an die Automaten und steckte meinen Fünfziger hinein. Es gab einen blechernen Ton, und das Geldstück kollerte unten wieder heraus. Zum Glück befand sich neben dem Automaten ein zweiter. Ich warf mein Geld hier ein. Es kam unten nicht wieder heraus, aber es erschien auch keine Packung Gummis. Ich klopfte gegen den Automaten. Es dröhnte hohl und leer. Mir schwante, das Ding enthielt gar keine Überzieher, und zum Ausgleich dafür behielt es meinen Fünfziger. Vor Wut donnerte ich gegen das Blech, und als es nichts nützte, versetzte ich ihm einen Tritt.
Der Kasten sprang vor lauter Angst und Entsetzen aus seiner Halterung in die Höhe und fiel mit einem ohrenbetäubenden, explosionsartigen Scheppern auf den Steinfußboden.
Ich stand da und begriff die Welt nicht mehr. Jetzt hast du für fünfzig Pfennig auch noch den Automaten kaputt gemacht, dachte ich blöde. Doch im Niederfallen war der Deckel vom Gehäuse abgegangen. Wenn ich mich ein wenig vorbeugte, konnte ich von oben in das Blechding reinblicken, und was sah ich denn da: viele feingestapelte Packungen.
Das ist gut, dachte ich und begann mich zu bedienen. Es ging nicht so ganz einfach und schnell, man mußte die einzelnen Packungen mit List und Tücke und dem Fingernagel an einer Seite erst anheben, um sie heraus­zubekommen, Übung aber macht den Meister. Als ich mitten in der besten Bergearbeit bin, geht die Tür auf und einer der beiden verdrossenen Sonntagsdienst-Bahnbeamten steht hinter mir und hat vor lauter Staunen ganz große Augen.
Was machen Sie denn da? fragte er überflüssigerweise.
Das sehen Sie doch! sage ich. Und: Nun seien Sie kein Frosch, haben Sie keine Frau daheim, die Sie mit so was beglücken können?
Ich hatte ein rundes Dutzend rausgehebelt und packte mir die Taschen von Hose und Jacke voll damit.
Na! sagte ich zu dem Beamten.
Mit einem Ausdruck ganz offener und ehrlicher Gier stürzte sich der Eisenbahner über meinen Automaten und begann sich ebenfalls mit Parisern einzudecken für das laufende Jahr. Die Mütze rutschte ihm dabei von der Stirn, sie kollerte Richtung Pißrinne, war aber ebenso unrund wie anständig genug, noch vor dem Eintauchen liegen zu bleiben.
Ich hoffe nur, dass Sie wenigstens verheiratet sind? fragte ich im Tone forschester Moralerfüllung.
Er hatte keine Zeit zum Nachdenken und antwortete wie ein Maschinchen.
Jaja –
Sind Sie auch wirklich und wahrhaftig verheiratet?
Ich war jetzt ganz eine Amtsperson, so hart und blöde stellte ich meine überflüssige Frage.
Der Bahnbeamte blickte, die Hände voller Pariserpackungen, verängstigt zu mir auf. Der Schein einer gedanklichen Dämmerung verklärte seine dunkle Seele.
Warum muß man denn da verheiratet sein? fragte er verwundert.
Weil, schrie ich, weil nur Verheiratete so viele Verhüterli klauen dürfen!
Damit trat ich ab.
Auf dem Vorplatz sangen und predigten die drei Heilsarmisten noch immer von den oberen seligen Gefilden, während ich die Taschen ausgebeult trug von den Instrumenten, die mich gleich den unteren Seligkeiten näherbrächten.
Der Kassierer, der mir in die Toilette gefolgt war, maß mich mit einem verachtungsvollen Blick. Wahrscheinlich sagte ihm ein höheres Wesen oder sein siebter Sinn, mit welch einem Ausbund von Unmoral und Verworfenheit er es zu tun hatte. Allerdings sind diese Engel ja gehalten, sich besonders um die schwersten Sündenfälle zu kümmern, und schon näherte sich der Bemützte mir wieder. Bevor ich fürchten mußte, ihm vor lauter Verlegenheit eine Packung Fickgummis zu schenken, schwang ich mich aufs Fahrrad und brauste davon.
Hinter mir verklangen die heiligen Himmelslieder, und das schwere Geschick der Sänger jammerte mich derart, dass ich mit einem steifen Schwanz im Altersheim anlangte.
Hast du welche? Mit diesen Worten empfing Trauke mich. Ich griff siegreich in meine Taschen und baute meine Beute auf dem Tisch auf.
Trauke staunte das Gebäude, das ich errichtet hatte, an wie ein Wunder. Ich hatte ja auch wirklich ein Wunder vollbracht. War mit einem von ihrem Vater gespendeten Fünfziger abgefahren und mit zwölf Packungen zurückgekehrt.
Es war tatsächlich ein Dutzend Packungen, wie Trauke feststellte, indem sie dreimal nachzählte.
Zwölf mal drei sind sechsunddreißig Stück.
Hohen Lobes gewärtig, lächelte ich meine Geliebte an. Was hatte ich ihr zuliebe vollbracht? Eine Großtat.
Trauke aber deutet nur ein leichtes Lächeln an. Dann überblickte sie die gesamte Beute noch einmal und erklärte: Du Großmaul, du!
Mir dämmerte, sie nahm die zwölf Dreierpackungen als ein Versprechen, das ich gar nicht hatte geben wollen. Das lag an mir, ich hätte erläutern müssen, was geschehen war, statt dessen zeigte ich nur stolz meine Ausbeute vor und erwartete Bewunderung dafür. Trauke konnte sich einfach nicht vorstellen, was mir zugestoßen war. Meinen Fehler wiedergutmachend, wollte ich eben ansetzen zu einer Erklärung, doch da griff Trauke nach einer Packung, öffnete mit ihren zierlichen Händen, an denen die langen Fingernägel geil und rotgelackt aufglänzten, das Papp- und Papierzeug und zog einen Pariser heraus. Sie hielt den Gummi vor ihre Lippen und begann in das Ding hineinzupusten, bis es eine Größe erreicht hatte, die mich mindstens symbolisch ins Abseits verwies. Also willst du nun oder willst du nicht? fragte ich verärgert. Los! sagte Trauke.
Wir marschierten Richtung Bett. Sie warf sich mit dem Rücken drauf und rief: Mann, komm … So trat ich meinen Liebesdienst an.
Am 12. August 2005 las ich in der Zeitung, die Gewerkschaft der Polizei nehme von ihrem Vorhaben, auf dem bevorstehenden katholischen Weltjugendtag mit Papst-Besuch in Köln Kondome zu verteilen, Abstand, weil das als Provokation missverstanden werden könne. Ich überlegte, ob ich in Köln meine Präservativ-Automaten-Geschichte zur allgemeinen Verlustierung anbieten sollte. Im selben Blatt las ich anschließend, es gebe »immer weniger Sachsen«. Kein Wunder, wenn sogar die Polizei Verhüterli verteilen will.
In meiner Erinnerung legte ich die groteske Automaten-Geschichte als kleine Oper ab. Hörte ich später, unsere großen Politiker wie Schröder und Fischer, brächten es jeder für sich auf 4-5 Heiraten, erschienen mir meine zwei Ehen geradezu spartanisch. Zugleich entdeckte ich in meiner damaligen Frau einen jener tragischen Züge, die wir in unserem alltäglichen Einerlei gern konstatieren und wenn wir sie dazu erfinden müssten.
In den Nachkriegsjahren war ich von berufswegen mit Karl Marx befasst und nahm mir zum Ausgleich jenen sächsischen Nietzsche dazu, der nicht zuletzt seiner Selbststabilisierung halber die Mär vom Übermenschen gedichtet hatte. Von der fixen Idee erfasst, Frauen erblickten im Manne den Übermenschen, der sich der Pflege ihrer Feuchtgebiete annimmt, gefiel ich mir im Entwurf einer großen Oper. Die Geschichte um ein Dreiecksverhältnis trug den Titel Nedine oder die 15. Rose. Derart den Verlauf meiner ersten Ehe und Liebe zur beinahe antiken Tragödie aufbereitend fühlte ich mich selbst mit erhöht. Später fragte ich mich, wie denn unsere bedeutenden Politiker an ihre pluralen Eheleben zurückdächten, oder ob sie ihre pubertäre Romantik einfach leugneten.
Dann las ich nicht ohne Erstaunen am 31.1.1976 in der Frankfurter Rundschau ein Interview von Wolfram Schütte mit Rainer Werner Fassbinder, der über seine nächsten Pläne berichtete:
»Schütte: Ich habe gehört, dass Sie zusammen mit Peer Raben eine Oper machen wollen?
RWF: Peer Raben hat Gespräche mit August Everding geführt, um hier fürs Münchner Nationaltheater eine Oper zu schreiben, und ich hab gesagt: ›Na klar, ich schreib dann halt auch gerne etwas, weil ich mal gerne eine Oper machen will, ein Libretto … ‹
Schütte: Interessiert Sie das Libretto oder die Inszenierung?
RWF: Mich interessiert eigentlich mehr, eine Oper zu inszenieren. Aber ich will – wie beim Theater – nicht machen, was schon da ist, ich will was Neues machen. Wie beim Theater: erst dann mache ich wieder Theater, wenn man das wie einen Film machen kann, also konkret, direkt zusammen mit Leuten, die sich dafür interessieren und davon betroffen sind; und nicht, dass man so Stücke liest und dann sagt: dieses Stück wollen wir jetzt machen; das mache ich überhaupt nicht mehr, dazu habe ich mich effektiv entschieden. Vielleicht gibt es das wieder: dass man an ein Theater geht, für zwei Monate, sagen wir mal, und da etwas macht, was mit einem zu tun hat. Und weil ich das so sehe, möchte ich auch lieber eine Oper machen, die aus Sachen entstanden ist, die mit mir etwas zu tun haben – wie die Musik von Peer Raben oder der Stoff.
Schütte: Was ist das für'n Stoff?
RWF: Eine Geschichte von Zwerenz, über die ich jetzt nicht genauer sprechen will.«
Gerhard Zwerenz | Nicht alles gefallen lassen
Gerhard Zwerenz
Nicht alles gefallen lassen
Schulbuchgeschichten
Fischer Verlag 1972
Das ist nachzulesen in meinem Buch Der langsame Tod des Rainer Werner Fassbinder (Schneekluth, München 1982). Im Buch merkte ich zum Interview an: Der Opern-Plan war, soweit ich sehe, nur Fassbinder, Armin und Peer Raben genauer bekannt gewesen. RWF und Armin entwickelten ihn in der ›Deutschen Eiche‹. Die Story ist meinem Erzählband Nicht alles gefallen lassen entnommen und heißt, wie schon erwähnt: Nedine oder die 15. Rose. Das Büchlein ist seit langem vergriffen. Wer es irgendwo aufspürt und die Geschichte liest, wird begreifen können, was Fassbinder daran faszinierte, und wer es begreift, wird unseren toten Freund wiederum besser verstehen lemen.
Ergänzung 2008: Auch nach Fassbinders Tod hielt Peer Raben an dem Opernprojekt fest und berichtete mir davon. Im Januar 2007 erlag Raben einer langen und schweren Krankheit.
Von der unheimlichen Höhe des 21. Jahrhunderts in die Niederungen des vorangegangenen zurückblickend, erscheint es mir, als sei eine fremde Regie am Werk gewesen, die meine kleine Nachkriegsoper in eine große Vorkriegsoper überführen wollte. Dass RWF am 10. Juni 1982 als jugendlicher Held und »Fettkloß« (taz) vorzeitig starb, brachte mich um den Genuss einer Opern-Aufführung, zu der gewiss auch Richard Wagner auferstanden wäre. Höflich ausgedrückt: Rainer Werner Fassbinders und Peer Rabens Bühnenkunstwerk fehlt uns noch wie Richard Wagners Wiederkehr, um den Bayreuther Musentempel endlich zu entweihen

Nach kurzer Sommerpause erscheint am Montag, den 1. September 2008, das nächste Kapitel.

Gerhard Zwerenz   04.08.2008

Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz