Denkfabrik am Pleißenstrand
In der Neuen Zürcher Zeitung vom 28.10.04 besprach der Publizist Karl Corino Band 1 der Geschichte der deutschen Exilliteratur von Hans Albert Walter. Der Rezensent macht die von Hitler vertriebenen Autoren ebenso verantwortlich für das Dritte Reich wie die, »welche im Lande bleiben konnten oder wollten.« Ob dieses schnöde Urteil von Walter oder Corino bzw. von beiden zu verantworten ist, stehe dahin. Anders im Fall des Ernst Bloch, der in seiner Exilzeit während des Ersten Weltkrieges laut Corino »in Bern insgeheim Lohnschreiber der Franzosen war«. Auf meinen Bloch-Artikel im Neuen Deutschland vom 2./3. Juli 05 hin wiederholte Dr. Corino per Leserbrief vom 25. Juli seine Vorwürfe, denn Bloch sei im Schweizer Exil 1917/18 für seine Mitarbeit bei der Freien Zeitung, einem »Propagandablatt der Entente« so honoriert worden »wie das bei geheimdienstlichen Aktivitäten üblich ist.« Corino zitiert dazu Alfred Webers Verdikt gegen Bloch als »Vaterlandsverräter«. Da Ingrid Zwerenz und ich in unserem Buch Sklavensprache und Revolte diese Vorkommnisse ausführlich darstellen, sei hier nur kurz geantwortet: Wir halten alle Aktionen gegen das kaiserliche Deutschland wie das nachfolgende Hitler-Deutschland für absolut gerechtfertigt. Bloch schrieb für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und wurde damit zum Vorläufer der Exilanten und Antifaschisten, die für den Sieg über Hitlers Drittes Reich im Zweiten Weltkrieg eintraten. Blochs Antikriegs-Publizistik aus den Jahren 1917/18 wurde von seinem Buch Geist der Utopie (1918) begleitet, das die politische Aufforderung »Kampf, nicht Krieg« zum philosophischen Projekt vervollständigte. Im Zweiten Weltkrieg mündeten diese Widerständigkeiten in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung, das im US-Exil geschrieben, danach in der DDR gedruckt werden konnte. Wer mit dem Begriff des Lohnschreibers hausieren geht, fügt sich in nationale Fronten ein, wo es üblich ist, von Obrigkeiten gelöhnt zu werden, zu deren Charakter das Urteil der Geschichte feststeht. Für die Nationale sind Heine wie Bloch Vaterlandsverräter, diese Art Vaterland aber konnte man nur verraten oder vaterländisch dumpf und gehorsam mitmarschieren. Oder wie Alfred Dregger noch den letzten Ostkriegern Ehrenhaftigkeit zuschreiben statt ihre historische Blindheit zu bedauern.
Ingrid und ich besichtigten vor einigen Jahren das ehemalige Blochsche Direktorenzimmer im vormaligen Philosophischen Institut zu Leipzig am Peterssteinweg, wo wir beide studiert hatten. Verfaulte Dielen, Mäusefraß und herausgerissene Installationen bezeugten jene Haltung, die Hegel dem geistigen Tierreich zurechnete. Nun ja, die Leipziger hatten auch ihren Johann Sebastian Bach lange Zeit dem schmählichsten Vergessen anheimgegeben, bevor sie begriffen, dass man sich in seinem Glanze sonnen kann. Bloch ist inzwischen in seine Geburtsstadt Ludwigshafen heimgeholt worden, wo Kapital offenbar nicht so neudeutsch dumpf und bar jeder Tradition dahinvegetiert wie in den zurückeroberten Ländereien. Bloch, ein exilierter Jude wie Marx selbst, dazu Marxist, teilt das Schicksal aller revolutionären Juden als doppelt und dreifach Ausgestoßene.
So ist es auf Seite 298 unseres Buches Sklavensprache und Revolte zu lesen. Unser alter Freund, der kurz vor der Wende noch rechtzeitig emeritierte Historiker Prof. Werner Berthold, wollte den Philosophen wieder mit Leipzig verbinden und scheute keine Mühe, um zu erreichen, dass an Blochs Wohnhaus in der Wilhelm-Wild-Straße eine Gedenktafel angebracht wird. Ich war bereit, ein paar Worte zu sagen, wenn diese Tafel denn installiert würde und Blochs Sohn Jan Robert dazu spräche. Der Vorsatz galt bis zum verregneten Morgen des 6. Juni 2005. An diesem Tag fanden im Eingang zum Peterssteinweg 10 für eine Dokumentation Dreharbeiten statt, Ingrid und ich sprachen kurze Erinnerungssätze an die Zeit der fünfziger Jahre. In der unteren Etage, wo damals die Historiker domizilierten, befindet sich jetzt die Mensa. Wir stiegen ins nächste Stockwerk, ich verwies auf die einst benachbarten Theologen und ihren Professor Emil Fuchs, dann suchten wir den Zugang zum früheren Philosophischen Institut, standen jedoch vor verschlossenen und streng gesicherten Türen. Besucher werden schriftlich auf den Eingang von der anderen Straße her verwiesen. Unsere Seminarstuben, das Sekretariat, Blochs Direktorenzimmer, der kleine Ecksaal, wo er Vorlesungen hielt bis des Andrangs wegen in die alte Uni-Ruine und den Hörsaal 40 ausgewichen werden musste – all das ist heute unzugänglich für uns.
Ich stelle mir für diesen Ort eine längst fällige Gedenktafel vor: »Hinter diesen verschlossenen Türen gab es einst das Philosophische Institut der damaligen Karl-Marx-Universität mit dem Direktor Prof. Dr. Ernst Bloch – eine Denkfabrik, an die nichts mehr gemahnen soll«.
An diesem 6. Juni 2005 wurde mir einsichtig, irgendwelche Inschriften auf Bronze oder Edelstahl würden nichts nützen. Was benötigt wird, ist die Neugründung einer Leipziger Denkfabrik, in der Freiheit, Zukunft, Geschichtsbewusstsein, Gedächtnis, Phantasie und Rationalität Platz finden, allen Desinteressen, Verschweige-Maßnahmen und Druckwellen zum Trotz.
Kaffeebaum, früher Coffebaum, die Gaststätte, in der Goethe, Robert Schumann, Richard Wagner einst sumpften und Bloch 1954 über Kierkegaard nachsann – ich weiß noch an welchem Tisch.
Zum Vergleich brachte mir Ingrid ihre späteren Bloch-Nachschriften über Kierkegaard vom 22.10.
Entweder-oder. Der Begriff der Angst. Anschließende unwissenschaftliche Nachschrift. II Bände: Der Augenblick. Philosophischer Brocken. Tagebuch des Verführers – zur Selbstprüfung anempfohlen. Seltsam auch der Inhalt. Sein Auftrag, den er nicht kannte, ist kleinbürgerlich. Verzehrte väterliches Erbteil, als es zu Ende war, starb er. Es finden sich schwer pathologische Züge. Ausweichen vor der Verwirklichung, Brautzeit mit der Regina Olsen – meine Braut mit ihrem Mann (E.T.A. Hoffmann) Ibsen Komödie der Liebe. Sehr tiefgreifende Impotenzphilosophie, geht auch in seine Moral, sucht Lampenlicht des Privaten. Öffentliche Angelegenheiten uninteressant. Angelegenheit des man, nicht des mein. Wurzel: einsame Seele und ihr Gott. Kleinrentnerhaftes sehr deutlich. Will sich rein halten, wird schuldig. Zerrissenheit muss überprüft werden. Bei Kierkegaard stoßen zusammen Privates und Unendliches, so entsteht Stil, einer der wichtigsten Schreiber. Hoher beißender Galgenhumor. Verkoppelt mit Ewigkeit. Worüber ich jeden antreffe, darüber werde ich jeden richten. Augenblick – Unendliches und Endliches schneiden sich in ihm. Sich in Existenz verstehen bedeutet, das Denken hört nicht auf, aber statt des objektiven Denkers entsteht subjektiver Denker – nicht erkenntnistheoretisch gemeint. Alles auf sich bezogen, in sich vernünftiger Grund. Paradox des Daseins bringt er in sich zum unberuhigten Bewusstsein. Dialektik des Prozesses. Paradox ist unauflösbar. Endlicher freut sich, wenn Unendlichkeit ihm entgegengeht. Stoff der Opferung. Isaak Abraham erfuhr Tiefe des beseligenden Bewusstseins, vor Gott Unrecht zu haben. Dauernde Gewissensüberlastung, ungeheurer Ernst. Sehr lutherisch-protestantisch. Matthäuspassion. Wer ist's, der meinen Herren peinigt. Pause, ich bin's, ich sollte büßen. – (Bloch gibt eine Leseprobe aus dem Kierkegaard-Band II.)
Hegelsches System, wie wenn einer in Dänemark eine Fußreise machen will nach Jütland und bekommt nur eine Weltkarte, auf der Dänemark so groß ist wie die Unruhe in einer Damenuhr.«
Ernst Bloch fühlte sich in Leipzig dem Dänen besonders verbunden in Vitalität, widerspenstigem Elan und den Reflexionen über Erotik, bei der es Bloch allerdings, anders als Kierkegaard, nicht an Praxis mangelte. Ich nahm mir damals vor, das Karl-May-Land Sachsen Richtung Ernst-Bloch-Land voranzutreiben. Bloch mochte May. Ich mochte May und Bloch. Also galt es, die individuelle Revolte zur humoristischen Revolution an beiden Ufern der Pleiße reifen zu lassen. Zu fragen ist, wie Bloch als gleichsam wiedergeborener Existentialist Kierkegaard in der pseudomarxistischen DDR-Diktatur des Proletariats, alias Politbüro, sich zwölf Jahre lang halten konnte. Ich selbst als verkappter Trotzkist unter Hitler, Stalin, Ulbricht, später Adenauer und anschließenden Obrigkeiten schaffte das mit Hilfe meiner realen wie taktischen Harmlosigkeit als Humorist unter Assistenz von Gert Gablenz sowie weiteren Pseudonymen, die zu enthüllen ich mich hütete. Sein outing muss jeder selbst betreiben, das ist wie bei den Schwulen, nur riskanter. Jedes Pseudonym besitzt ein Menschenrecht auf Anonymität. Was aber ist mit Blochs Verhältnis zu Kierkegaard? Im Werk ist einige Male von ihm die Rede, ohne jene Bedenken aus dem Jahr 1954, die er offenbar schon 1956 wegließ, wie Ingrids Nachschrift nahelegt. Nun spielte der dänische Denker bei den Linksintellektuellen in Weimarer Zeiten eine bedeutende Rolle. Durfte er in Leipzig zumindest in Andeutungen den dekadenten Provokateur spielen? Bloch schien das anzunehmen, erhielt jedoch 1957 die Quittung für derlei gewagte Experimente: Von der Universität verwiesen.
Kierkegaard zählte zum theoretischen Inventar einer Linken um Brecht, Walter Benjamin, Bloch, Günther Anders und Hannah Arendt. Sie versuchten Anfang der dreißiger Jahre Heideggers Philosophie und der anwachsenden Hitler-Bewegung ihr »eingreifendes Denken« entgegenzusetzen. Das scheiterte ebenso wie Blochs späterer Versuch in der DDR. Am 19. Dezember 1956 ließ das Politbüro durch Blochs Gegenspieler Prof. R.O. Gropp via Neues Deutschland den Bannspruch gegen Bloch verkünden. Überschrift: »Idealistische Verirrungen unter antidogmatischem Vorzeichen« – im Rundumschlag ging es gegen Anthropologie inklusive Ontologie, die radikal als idealistischer Irrweg verdammt wurden. Damit war der Linksphilosoph von der Uni verwiesen und die DDR-Philosophie bei Strafandrohung auf den Parteikurs eingegrenzt. Die in Leipzig beabsichtigte Denkfabrik scheiterte bereits in den Anfängen. Eingreifendes Denken durfte nicht stattfinden. Es war ganz so wie heutzutage, da aus fauler Angst nicht gedacht wird.
Aus dem Internet – comfactory – schneit uns ein Anti-Joschka-Text ins Haus: »Natürlich führt in der Bundesrepublik kein Journalist seine Leser und schon gar kein Politiker seine Wähler hinters Licht. Im strahlenden Scheinwerferlicht unserer Massenmedien verkündete hier das ehemalige legendäre Frankfurter Putztruppen-Mitglied, der spätere Auschwitz-Verhinderer, der Hufeisen-Stratege und Fötengrill-Experte, der damalige bundesrepublikanische Außenminister Joschka Fischer, den denkwürdigen Satz: ›Krieg ist die realpolitische, pazifistische Konsequenz.‹«
Der bitterböse Text berührt mich, er ist so scharf wie treffend. Und trotzdem ungerecht. Wer da gerecht sein wollte, müsste sehr genau sein. Was Fischer nicht entlastete, doch erklärlicher werden ließe. Widerstrebend gestehe ich mir eine ähnliche Gefühlslage ein, geht es um Blochs Gegenspieler Prof. R.O. Gropp. Er war unser Feind, kein Gegner, das wäre nicht exakt genug ausgedrückt. Zugleich war ich dem Mann nahe aus mehreren Gründen. Einer davon ist nachzulesen in Sklavensprache und Revolte auf Seite 67: » … Gropp, Professor für Historischen Materialismus am Bloch-Institut, vormals Zwangs-SS-Einheit Dirlewanger, schwor sich auf Parteilinie ein, niemals mehr in Verdacht geraten, so verteidigte er eisern Marx und Stalin gegen Bloch …« Dirlewangers Strafeinheit zu entkommen macht nicht frei, aber zornwütig autark. Dann die Entscheidung im Lungensanatorium, mir gelang es, vor der schwerwiegenden letzten Operation gerade noch vom Tisch zu springen. Gropp sägten sie mehrere Rippen heraus. Lebenslang von Atemnot geplagt, trug er einen ledernen Stützpanzer, der die fehlenden Knochen ersetzen sollte. Mir fiel schwer, sein Feind zu sein. Wenn wir die Treppen zum Philosophischen Institut hochstiegen, langsam, auf jeder Stufe pausierend, erlitten wir verfeindete Solidarität. Am Ende war da nur noch Feindschaft.
Aus anderen Gründen und mit anderen Wirkungen widerrief Joschka Fischer die einstige Nähe. Karriere ist Negativauslese. Was aber bleibt von uns? Ich erlaube mir die Antwort als Selbstzitat aus Sklavensprache und Revolte: Das kulturelle Erbe der Arbeiterbewegung mitsamt ihren politischen Traditionen verlottert. Unser DDR-Kulturerbe ist mit dem Staat abgeschafft worden, postmoderne Hampelmänner mit austauschbaren Gehirnen suchen den Verlust vergessen zu machen. Konterrevolutionäre Sklavensprache dröhnt aus den Medien. Aufgepeppte Heilige werden von Fans belagert, bis sie ihr durch Gebrauch signiertes Toilettenpapier verstreuen, das die Anhängertrupps sich daheim übers Bett kleben. So macht mancher noch aus Scheiße Goldene Schallplatten.
Genug davon. Wer zu tief bohrt, kommt auf der anderen Erdseite als sein eigener Antipode heraus.
Was also, fragten wir, sind Blochianer? Sie entziehen sich dem Ausbruch der Vulkane, die statt kochender Lava ausgekochte Gangster hervorschleudern. Da ist kein Mitmachen, Mitlaufen, Mitsingen, kein Vertuschen, Vertauschen, Verdummen, da sind wir Ungläubigen jenem polnischen Papst nahe, der zum Krieg Nein sagte und dabei blieb. Die Kirchen und Parteien leiden am Mitgliederschwund. Blochianer brauchen weder Kirchen noch Parteien, können aber drin sein, wenn's beliebt. Wenn jeder Politiker sich als Sonne ausgibt und Planeten um sich sammelt, ist es Zeit, als Komet oder Sternschnuppe zu überraschen. War Hitler der Bauchredner des deutschen Volkes, bieten die Anhänger des Philosophen dagegen ihr Prinzip Bloch an. Nicht zum Nachahmen, aber zum Nachdenken, Nachfühlen und zum überleben. Bloch wurde bisher nur zum Teil entschlüsselt. Die machthabende Elite verträgt keine plurale Klarheit. Es gibt keine Gemeinsamkeit zwischen unserem Projekt Bloch und dem Krieg. Es sei denn zur revolutionären Abwehr.
Im Rückblick auf Blochs Haltung zu Kierkegaard sind zwei Lehren zu empfehlen: 1. Dekonstruktion, die Bloch lange vor den Sartre-Nachfolgern lehrte. 2. Liebe zum Gelingen, damit die Dekonstruktion nicht alleine bleibt.
Sklavensprache XI
Denker benötigen wir nicht, sagten sie, das besorgen unsere Hausangestellten, und sie drückten dem Denker einen Pinsel in die Hand und stellten ihn aufs Gerüst. Nun streiche fleißig an, sagten sie, und mache dich nützlich, du Glied am Körper des souveränen Volkes. Gehorsam begann der Denker sich einzuüben in Nützlichkeit. Als sie kontrollierten, am Abend, hoben sie an ihn zu beschimpfen. Statt eines neuen einheitlichen Anstrichs hatte der Denker Gestalten geschaffen, Bildnisse entworfen. Wegen erwiesener Unfähigkeit verdammten sie ihn zum ständigen Nichtstun. Vor seiner Hütte steht ein Posten unter Gewehr. Jede Idee sei zu arretieren, jeder Gedanke zu erschießen, lautet sein Befehl. Der Denker im Lehnstuhl im Innern der Hütte lächelt. Geschmeichelt. Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 22. Dezember 2008.
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Gerhard Zwerenz
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