Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
Die am Rand aufgeführten Titel der 99 Fragmente und bisher 15 Nachworte nacheinander gelesen ergeben ein postmodernes Gedicht, das sich zu Geburt, Hochzeit und Beerdigung hinreichend unfeierlich aufsagen lässt, ist es doch die erlebte Enzyklopädie des märchenhaften Landes Saxonia und seiner Inländer wie Exilanten, die als erste Fremdsprache Hochdeutsch erlernen mussten. Karl May, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche allerdings ursächselten bis zum letzten Atemzug.
Auf Seite 68 geht's endlich zur Sache: „Doch zurück zur Affektenlehre Ernst Blochs, der auch schon die weiteren Folgerungen für die Ästhetik des Tragischen gezogen hat, indem er als die neuen, unserem Gesellschaftszustand angemessenen Affekte nicht mehr Furcht und Mitleid, sondern T r o t z und H o f f n u n g bezeichnet. (Siehe dazu das Kapitel ›Weitere echte Aktualisierung: Nicht Furcht und Mitleid, sondern Trotz und Hoffnung‹ in Das Prinzip Hoffnung Bd. I.)“
Kaum war das Bändchen erschienen, erwähnte es Bloch im Seminar. Anschließend Vieraugengespräch mit Bloch und sein Verweis aufs Ende der Weimarer Republik mit Heideggers Rechtswendung. Ich improvisierte eine Linie von Trotz zu Trotzki. Er reagierte abschweifend, geriet über Brecht zu Benjamin und ihre missglückten Versuche, vor 1933 intellektuellen Widerstand gegen die Nazis zu organisieren. Erst viel später, im Jahr 1962, als er die erweiterte Suhrkamp-Ausgabe von Erbschaft dieser Zeit schickte und signierte mit „Ein Gruß vom Kurfürstendamm der zwanziger Jahre …“ begriff ich die Kontinuität der roten Bloch-Linie von Trotz und Hoffnung über eingreifendes Denken bis zur Dekonstruktion. Marx hatte die Bourgeoisie dekonstruiert, Nietzsche kam von Goethes Klassik übers private Unbehagen zur barbarischen Phantasiemetaphorik, die sich von Heidegger bis Hitler als ausbeutbar erwies. Nun waren die Übermenschenzwerge unter sich, Parteigenossen eben, von denen ein jeder den anderen zu führen gedachte. Danach traten die neuen jungen kritischen Franzosen an, die Söhne Sartres, bei dem sie lernten bis sie Papa Freud folgend den Vatermord riskierten und sich auf Französisch verheideggerten.
Wir erholen uns ein wenig bei Brecht, denn sein lakonischer Dreisatz über das große Karthago, das drei Kriege führte, bis es unauffindbar war, ist das Musterexemplar dekonstruktiver Poetik. Die Allgemeinheit Krieg wird auf das konkrete Nichts, das der Vernichtung folgt, reduziert. Die Poetik verlangt inhaltsbestimmt die Form der Lakonie. Jedes Wort mehr wäre Ideologie oder Lamento. Jedes Wort weniger fehlte der Beweisführung irrer Logik. Werten wir den Brechtschen Dreisatz gesellschaftlich, ist die Welt noch zu retten. Werten wir ihn anthropologisch, ist Schluss mit lustig. Soviel zur Lebens- und Todeslinie, auf der sich das vereinige Deutschland nun wieder einrichtet. Na da kämpft mal schön ihr neuen Heldensöhne und -Töchter.
Aus reiner Sympathie für die heutigen Nachkommen fällt mir ein, was ich in früheren Kriegszeiten darüber dachte. In Soldaten sind Mörder von 1988 spricht ein Ich, das sich zusammensetzt aus dem 62jährigen Schriftsteller der Jahre 1987/88 und aus dem 18jährigen Infanteristen der Jahre 1943/44. Ich versuchte, authentisch der junge Soldat zu sein, und ich wurde, oft im seIben Satz, der seither durch viele Lebensschulen gegangene alte Mann. Vergessen werden sollte nichts. Aber hinzugelernt. Doch das Hinzugelernte darf das Dokumentarische .nicht verdrängen. So spricht manchmal der Polemiker, der inzwischen die Dokumente kennt, und manchmal der betroffene Soldat, der nichts kannte und nur seine Haut verteidigte.
Der Krieg erscheint im Rückblick meist aus der Sicht jener Offiziere, die in der Bundesrepublik Deutschland die Nachkriegszeit bestimmten. Zeugnisse einfacher Soldaten sind rar: Wolfgang Borchert ist vergessen. Der Deserteur Alfred Andersch ein Unbekannter. Heinrich Bölls Kriegsdenunziation scheint nie geschrieben worden zu sein. Und bald waren die nationalen Trauerredner am Werk mit ihren falschen Worten, Gesten, Ritualen. Indem ich über den Krieg schreibe, suche ich die Erfahrungen der darauffolgenden Jahrzehnte, die mir vergönnt waren, mit in die Schlächterei hineinzureißen. Doch beschreibe ich nicht das Schlachten, sondern seine Bedingungen und nicht überwundenen Nachfolgen. Seinen Frieden mit denen schließen, die den Krieg in sich nicht überwinden wollen, heißt die Bedingungen des Krieges fortwirken lassen. Die Kriegsursachen liegen im Innern der Menschen, die ihn nicht verhindern. Alles andere sind Ausreden. Und so haben wir keine gültige Kriegesverhinderungsstrategie. Darüber nachdenkend bin ich von einem Wort zum andern der blutjunge Infanterist im Schützenloch, voller Dreck, Schweiß, Läusen, Wut. Ungefiltert kommen die Eindrücke. Ihr habt uns schießen gelehrt und findet das in Ordnung. Nun gewöhnt euch auch an unsere Verfluchungen. Sie sind Dankesworte. Die äußerste Objektivität und die schärfste Subjektivität zusammengenommen ergeben die Handgranaten, die euch um die Ohren fliegen. Ich hoffe, euer alter Adam zählt bald zu den Kriegstoten.
Das Gedicht ist Selbstfindung, der Daumenabdruck des Ich im Augenblick äußerster Konzentration. Oder es ist ein Suchprozess mit offenem Ende. Gehst du aber ganz aus dir heraus, taucht das Lyrische Subjekt in der Haftzelle des Objekts auf. Mehr als diese drei Varianten gibt es nicht. Der Rest ist Technik mit Girlanden.
1981 erschienen bei Suhrkamp Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Es sind 1391 Seiten Dünndruck im extra kleinen handlichen Format, eine poetische Mini-Bibel und zugleich deren poetische Materialisierung. Gedichte auf fast anderthalbtausend Seiten – gibt's denn so was? Aus dem lapidaren Vorwort:„Es ist mir gleich, ob diese Welt mich liebt, schreibt Brecht. Doch nicht von Liebe soll hier die Rede sein, es geht um die Notwendigkeit, Brechts Gedichte zu lesen. Er bleibt der Klassiker der Vernunft.“ Auf Seite 852 zehn Zeilen der Vernunft für heute:
„Sie wollen siegen
Gegen den Sieg wollen sie nichts wissen. Sie wollen nicht unterdrückt werden Sie wollen unterdrücken. Sie wollen nicht den Fortschritt Sie wollen den Vorsprung. Sie sind jedem gehorsam Der ihnen verspricht, daß sie befehlen können. Sie opfern sich dafür Daß der Opferstein stehen bleibt.“ Brechts Hundert Gedichte 1952 vom Aufbau Verlag herausgebracht, enthalten einen repräsentativen Querschnitt seiner Lyrik. Die Gedichte in einem Band von 1988 sind ein poetisches und poetologisches Vademecum. Es ist als hätten Grimmelshausen und Marx sich zusammengetan um zu zeigen, wie konkret und universell das Gedicht sein kann, wenn es aufs Ganze geht.
Am 22. Januar 2010 wird Verteidigungsminister zu Guttenberg in den Nachrichten vorgezeigt, während er Bundeswehrsoldaten das Ehrenkreuz für Tapferkeit verleiht.
Der kleine Text aus schönen Nachkriegszeiten ist mir auch 56 Jahre danach noch lieb und wert. Mag sein, wenn einer bei Hitler wie bei Stalin die Desertion riskierte, obwohl ein Loch im Fell drohte, fällt es ihm nicht schwer, auch von der totalitären NATO-Fahne zu gehen. Als ich damals ins Bonner Land flüchten musste, gab es keine NATO und bis zur deutschen Einheit galt sogar das grundgesetzliche Kriegsverbot. Immerhin entstand jetzt am 13. Februar in Dresden eine zumindest symbolische Friedensbewegung. Linke Proteste gegen den geplanten braunen Marsch auf Dresden führten an der Elbe trotz staatsjuristischer Sabotageversuche an den Abwehraktionen zur parteiübergreifenden Solidarisierung gegen rechts. Na also, es geht doch, wenn genügend Menschen wollen und aktiv werden. Wenn aber nicht? Soeben warnte Admiral Mullen, Vorsitzender der Vereinten Stabschefs der US-Army, in Israel „sehr besorgt“ vor den Folgen eines „etwaigen Militärschlags“ gegen den Iran. Die regionale Konfrontation könne „ein sehr großes Problem für alle sein“, auch wenn die „Konsequenzen unbeabsichtigt“ seien. (FAZ, 16.2.2010) Da ich dies notiere, ist Aschermittwoch. Schöne Aussichten. Zitat von Bertolt Brecht: „Die gute Tat: Die Panzergrenadiere nehmen das Telefongebäude zum dritten Mal. Der Mut ist ungeheuer. Das Gemetzel ist riesig. Größer ist der Mut dessen, der dem Befehl widersteht.“ Was aber soll Brecht bei Weltpolitikern bewirken, die mal wieder Sarajewo 1914 spielen wollen?
Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 01.03.2010, geplant.
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Gerhard Zwerenz
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