Vormittags saß ich an der Maschine. Die produktive Schreib-Phase hatte früher in der Abend- und Nachtzeit gelegen. Aus mancherlei Gründen polte ich später um. Morgens möglichst früh aufstehen. Von 7-12 Uhr Arbeit am Manuskript. Dann Mittagessen und etwas Ruhe. Nachmittags die Nebenarbeiten. Zeitungen, Post, die Außengänge. Am Abend bin ich meist derart erschöpft, dass ich daheim bleibe.
Nach langen Nächten in rauchgeschwängerten Kneipen mit viel Gerede und Geschrei kann ich am nächsten Morgen nicht ausgeschlafen und frisch an die Arbeit gehen. In den letzten zehn Jahren reduzierten sich die außerhalb der Wohnung verbrachten Abende auf ein Minimum. Die Schreibdisziplin regiert das Leben.
Ein Tag Anfang September 1975. Kurz vor Mittag Anruf der Lokal-Zeitung Offenbach Post wegen des bevorstehenden Fußball-Derbys Kickers Offenbach gegen Eintracht Frankfurt.
Das Ergebnis des letzten Lokal-Spiels von Kickers Offenbach gegen Eintracht Frankfurt 2:1 – hatte ich zum Aufhänger eines Funk-Features gemacht, erste Erfahrungen am neuen Wohnort Offenbach notiert. Da wir die Wohnsitze reichlich oft wechseln, lernen wir auf diese Weise einen Großteil des Landes recht genau kennen.
Betitelte Zwerenz seine Rundfunksendung mit dem letzten LokaIderbyresultat, kann er auch was übers bevorstehende Derby verkünden, mag der zuständige Zeitungs-Redakteur gedacht haben. Die Kickers hatten in diesem Spätsommer 1975 eben ihre schlimme englische Woche hinter sich, drei hohe Niederlagen. Die Mannschaft lag am Bundesliga-Tabellenende. Die Katastrophe drohte.
Die Offenbacher ließen schon die Köpfe hängen. Sogar die Zeitungsumfrage enthielt Defaitismus. Ob die arme kleine Stadt mit ihrem Ministadion sich eine Bundesligamannschaft überhaupt noch leisten könne, stand zur Debatte. Ehrlich gesagt, nein. Doch wer ärgerliche Tatsachen erkennt und sich nicht widersetzt, der ist ein armer Wicht. Die Frankfurter durften am Bieberer Berg einfach nicht siegen. So wollten es gute Tradition und Offenbacher Nationalbewußtsein. Ich bekundete bloß Selbstverständlichkeiten: Die Kickers mit dem Fußball-Leder sind die größten Image-Träger der Leder-Stadt. Massiert der Mannschaft Oberschenkel, Herz und Moral. Strömt ins Stadion, hebt beide Hände hoch, linke Hand mit dem aus Zeige- und Mittelfinger gebildeten Victory-Zeichen Churchills, rechte Hand mit erhobenem Zeigefinger, was heißt: 2:1 für Offenbach.
Kickers- und Eintracht-Fans nahten. Die Spieler nahmen sich meine Prophezeiung zu Herzen. Weil es Ende der regulären Spielzeit noch 2:0 für Offenbach stand, ließ der Schiedsrichter drei Minuten nachspielen, damit die Frankfurter ihr Tor schießen konnten und meine Voraussage sich exakt erfülle: 2:1 für Offenbach.
Wegen der Nachspielzeit kam es später zum Verfahren vor dem Schiedsgericht des Deutschen Fußballbundes gegen den Offenbacher Trainer Rehhagel, der bei Spielende dem Schiedsrichter vorgeworfen haben soll, bestochen zu sein. Der Trainer wurde hart verurteilt und von den Kickers entlassen.
Noch aber sind wir nicht soweit.
Zwischen der Prophezeiung und dem Ergebnis lag, wie ich einräume, ein Besuch im Trainingslager Erbismühle/Taunus. Hängen die Nürnberger keinen, den sie nicht haben, lassen die Offenbacher einen, den sie haben, nicht wieder los. Kickers-Präsident Böhm lud mich zum Trainingslager-Besuch ein. Geschäftsführer Konrad chauffierte. Ich find' den Taunus schön.
Was passierte also in der Erbismühle? »Dichter dopt Fußballer« wußte der stern später zu berichten. Sie hatten alle ihre Schlagzeilen, von der Frankfurter Rundschau bis zur Abendpost / Nachtausgabe, sogar die klugköpfige FAZ hielt mit, während die Offenbach Post in pure Dankbarkeit ausbrach und nur die Springerpresse sauertöpfisch schwieg, wie sie alles verschweigt, was Zwerenz betrifft, es sei denn, man kann ihm eins draufgeben.
Worin also bestand mein Doping, begangen an den Kickers-Kämpen? Wir schüttelten uns brav die Hand, aßen gemeinsam zu Mittag, hörten Präsident Böhm zu. Dann sagte ich ein paar Sätze, nur, daß ich für die Kickers bin, sie durchweg für unter Wert geschlagen und gehandelt hielte und mit meinen schwachen Kräften dafür sorgen möchte, die der vielen Krisen und erhöhten Eintrittspreise wegen verärgerten Offenbacher doch noch ins Stadion zu bringen. Die Jungs benötigten Zuspruch.
Hernach noch ein paar Worte mit Siggi Held. Sein beherzter und beherzigenswerter Ausspruch: »Es gibt keine alten und jungen Fußballer, nur gute und schlechte.«
Der Mann zählt 33 Jahre, ein sogenannter Fußballgreis, privat bedachtsam, listig, o-beinig wie ein alter Kavallerieoffizier, auf dem Rasen noch immer der brillante, schnelle, einfallsreiche Blockadebrecher. Welch ein Spieler. Welch einen Trainer wird der Mann mit seinen Erfahrungen, seinem Witz, seiner Intelligenz abgeben. Wenn Fußball als Sportart der Proleten gilt und Tennis als Hobby bürgerlich-großbürgerlich Gebildeter, so widerlegen Fußballspieler wie Held das dumme Klischee.
Fragt sich, weshalb der Zuspruch eines Schriftstellers für den Fußballverein seines Wohnorts soviel Emotionen weckte. Meine achtzehnjährige Tochter schämte sich der Aktivitäten ihres Vaters auf diesem Gebiet, viele meiner jungen Leser reagierten irritiert und hielten die ersten Meldungen darüber für Zeitungsenten. Nun ja, gegen die Münchner Olympiade habe ich angeschrieben. Das nationale Wettkampfgedöns ist mir ebenso ein Greuel wie die verlogene Augenwischerei, wonach die Olympia-Profis keine sein dürften, sondern Amateure. Da lob' ich mir den offen kapitalistischen Fußballprofi. Hier ist alles klar, abgesehen von den Vereinsquerelen, Spieler-Transaktionen und den die Tatbestände nicht eben durchsichtig machenden Verhandlungen vor der sonderbaren DFB-Gerichtsbarkeit. Kapitalismus und Kriminalität trennt keine Mauer. Jedenfalls sind mir die Einwände gegen den Fußballkapitalismus ebenso bekannt wie die gegen Fußballhysterie.
Was bleibt, verantwortet der Schluckauf meiner Jugenderinnerungen. Karl May und Fußball als bleibende Eindrücke. Karl May hatte in nächster Nachbarschaft gelebt und gedichtet, und der legendär schußstarke, unvergessene Richard Hofmann begann seine Laufbahn im westsächsischen Meerane. So was prägt. Es sollte mich freuen, wenn ich den Kickers-Spielern im Trainingslager ein wenig Mut und Zutrauen zu sich selbst habe einreden können. Es war mir eine Genugtuung, den nervösen Offenbacher Lederball-Artisten das 2:1 zu suggerieren, das dann auch herauskam. Mir selbst erfüllte die Trainingslager-Stippvisite einen alten Wunsch. So in die Fünfziger gekommene alte Füchse wie wir haben ja schließlich vor mehr als drei Jahrzehnten mit damals siebzehn / achtzehn Jahren alle schönen Jugendträume begraben und in den Krieg der braunen Knochen ziehen müssen. Jetzt in der Erbismühle schien es mir, ich setzte die damals unterbrochene Schwärmerei fort.
Gewiß, unsere Fußballprofis sind harte Geschäftsleute. Es geht um Geld, Marktwert, Profit. Wer im Kapitalismus lebt, lebt nicht angenehm. Es ist wahr, gekaufte und verkaufte Spieler treten und schießen die Tore nicht für Ideale, für eine Stadt, ein Land, einen Verein, sondern für sich und ihren Geldwert. Fußballer haben Warencharakter. Sie sind kaufbar, nicht unbedingt käuflich.
Jungfrauen sind unter Bundesligaprofis nicht zu entdecken, auch wenn manche Trainer sie vor den Spielen dazu machen möchten. Es ist wahr, bei solchen FußballschIachten wie dem Lokalderby am Bieberer Berg geht's heiß und blutig zu. Daß ein Zuschauer durch Flaschenwurf ein Auge einbüßte, ist mir nicht, wie vermeldet wurde, egal.
Wer gegen Fußball ist, weil dabei Mannschaften und Stadionbesuchern verletzt werden können, der müßte auch alle Bars und Kneipen schließen und den Autoverkehr untersagen. Und die Pferderennen! Mag sein, ich bin voreingenommen wegen meines unererledigten Fußball-Jugendtraums. Aber dann teile ich dieses schwärmende Abenteuer, dessen Ersatz-Charakter ich nicht leugne, mit den Massen.
Fußball ist das Schachspiel des Volkes. Die Trainer und Asse auf dem grünen Rasen benötigen nahezu die Qualitäten ausgepichter Schachmeister: mathematische Vorstellungskraft, kaltblütige Fantasie und gutgetimete Courage. Von Glück nicht zu reden. Fortune hat man oder hat man nicht. Das wußte schon, jenseits allen Fußballs, der Alte Fritz.
Ein Großteil der Fußballfeindschaft rührt denn auch von Intellektuellen her (als ob die Massen, säßen sie nicht im Stadion, sich mit Soziologie und Politik abgäben, das ist eine schöne Illusion, und ich wage nicht zu sagen, wie vieler Revolutionen sie zu ihrer Verwirklichung bedürfte). Immerhin reichte der Einfluß solcher Autoren aus, den Fußballspielern ebenso wie einigen Sportjournalisten Minderwertigkeitskomplexe einzureden. Das ist unbegründet. Die Sportreporter aber sollten schärfer rangehen. Analysieren, was die ins Kriminelle reichenden Praktiken betrifft, zustimmend, ja enthusiasmierend, soweit es sich ums Spiel und Spielen handelt. Was heißt hier Kapitalismus? Entweder, jemand bringt im Kapitalismus eine sozialistische Mannschaft zustande oder man sucht den Sport innerhalb unseres Ware-Geld-Systems wie das Feuer unter der Asche.
Für mich, in der Region des »Mainischen Blocks« lebend, wurde Kickers Offenbach meine 1. und Eintracht Frankfurt meine 2. Heimatmannschaft. Ich bin, solange es sie gibt, für beide. Im Zweifelsfall, dem Lokalderby, aber für die Kickers. Nicht nur, weil ich zufällig hier wohne, sondern auch, weil die Kickers die arme Mannschaft einer armen Gemeinde sind. Reiche Vereine werden von ihren Städten unterstützt. Bayern München produziert sich im Olympia-Stadion, das mit den Steuergeldern der gesamten Bundesrepublik errichtet wurde. Man kann dort mit einer wohlfunktionierenden U-Bahn zum Fußball-Match fahren, dafür haben wir auch alle mitgeblecht. Mit Bayern leben? Für Bayern zahlen! In Offenbach muß man um einen wilden Parkplatz kämpfen und sich dann in Fußmärschen zum Stadion durchschlagen. Ich soll verkündet haben: »Die Kommune Offenbach ist ein nackter Mann.« Ich fügte aber hinzu: »Versuchen Sie mal, einem nackten Mann etwas aus der Tasche zu nehmen!« Also Finanzspritzen von der Stadt, obgleich bitter nötig, kommen den Kickers kaum zugute. Reiche Vereine haben Mäzene, weiträumige Stadien, große Spiele, ungeheure Zuschauerzahlen, können beträchtliche Gehälter auswerfen und teure Spieler ranholen. Arme Vereine geraten in den umgekehrten Kreislauf: Kleine Stadien, geringe Einnahmen, wenig Mittel für Spieler und Einkauf. Zwang zur Verhökerung der teuersten, also besten Ball-Beherrscher, somit ständige Blutspende für gutbetuchte Vereine. So mußte Offenbach u. a. seinen Star Kostedde an Hertha BSC nach West-Berlin abtreten, wo Axel Cäsar Springer als zahlungskräftige Spinne wirkt und Asse in sein Netz zieht, weil er am kleingeisternden Bild-Zeitungsleser genug verdient und sich Großzügigkeit erlauben kann.
Freilich, Geld ist nicht alles. Am 20.9., eine Woche nach der Frankfurter Eintracht, rückte Hertha BSC mit dem von Offenbach abgekauften Kostedde an und unterlag wie vordem die Frankfurter Eintracht mit 2:1. Würde der stern nun schreiben, Zwerenz habe die Kickers nicht einfach gedopt, sondern hypnotisiert und nicht wieder aufwachen lassen, Hypno im Fußball-Land, da siegen sie 2:1 im Dauerabonnement? Ich aber schloß meine Lokal-Gladiatoren in mein Herz: Held, Helmschrot, Rohr, Schmidradner, Rausch, Berg, Enders, Bitz, Bihn, Theiss, Janzon, Hickersberger, Blechschmidt, diese liebenswerten Individualisten, die gegen die hochbezahlten Foulmeister der Hertha 45 Minuten lang einen Fußballzauber entfachten, wie er die Eintracht am Samstag zuvor auch schon schier hatte verzweifeln lassen. Freilich folgte den starken Perioden regelmäßig Konditionsschwäche. Auf Dauer sind Siege, die nur aus den Knochen und dem Kampfgeist der Mannschaft geschunden werden, nicht zu erzwingen. So nützte es denn alles nichts. Die Kickers stiegen am Ende der Saison aus der Bundesliga ab. Eine große Zuschauertribüne im Stadion am Bieberer Berg wurde derart erschüttert, daß Einsturzgefahr bestand. Es handelte sich um die Haupttribüne, unter der die Ehrengäste sitzen, die Manager und Vereinsgewaltigen aus und ein gehen, die Spieler hervor- und zurückkommen. Der Abstieg der Kickers erschütterte die menschlichen Herzen und die technischen Beton- und Stahlkonstruktionen. So machtvoll kann nur König Fußball sein.
Soweit meine Fußball-Eloge auf die Spiele der siebziger Jahre. Eben ging die Europameisterschaft von 2008 zu Ende. Ein Frankfurter Leserbriefschreiber schimpft: »In Wirklichkeit spielten wir erbärmlich.« Ich fand's nicht ganz so fürchterlich. Erstens hat der in Görlitz geborene und später in Karl-Marx-Stadt spielende Ballack vor Mikro und Kamera immer den sonoren Chemnitzer Unterton in der Stimme, der mich heimatlich anmutet, zweitens ist mir egal, wer vom Schiedsrichter bevorzugt oder benachteiligt wird und sich mit Toren Millionen erschießt oder nicht, drittens bin ich nicht naiv genug, von den Eliten ungedopten Sport zu erwarten. Das Publikum macht sowieso Karneval draus. Auf den Gebrauchtwagen-Halden flaggten die Autos einhellig für Deutschland, jede Karre mit mindestens zwei Fähnchen. Streng nach Herstellerfirma sangen brave Mercedes und BMW, Opel und Ford unsere Nationalhymne mit – ein patriotischer Sound erfüllte Europa, auf den Straßen ruhte der Massenverkehr, die Kfz verharrten geparkt beiseite. Danach freilich gab's einen Corso nach dem anderen, dabei gelang Nachtruhe nur per Ohrenstöpsel. Soviel zum Fußball in postkoitalen Zeiten.
Mal ganz im Bierernst: Die Partei von Lafontaine und Gysi sollte Ballack gegen Köhler als Bundespräsidenten vorschlagen. Die Generation Fußball wüsste, was sich gehört, es sei denn sie ist nach ihrem Auftritt als Generation Golf über die Generation Dick und Doof zur Generation Fahnenstolz und verblödet verkommen.
Den Vorschlag Ballack statt Köhler nehme ich mit Bedauern zurück. Karriere entstellt Charakter und Gesicht. Zu Bonner Zeiten brachte ich Beckenbauer als Bundeskanzler ins Spiel. Man betrachte sich heute den einst genialen Ball-Artisten - tritt auf wie eine nach Österreich geflüchtete Weißwurst, die zu essen vergessen wurde.
Der Journalist Dieter Hochgesand berichtete am 30.8.2003 in der Frankfurter Rundschau über das Derby zwischen Offenbacher Kickers und Frankfurter Eintracht: »Man schrieb das Jahr 1975. Gerade hatten die Kickers, der vermeintliche David, dem vermeintlichen Goliath wieder mal die Grenzen aufgezeigt, dessen spielerische Überlegenheit mit unbändigem Willen und Einsatz pulverisiert und ihm eine ernüchternde Niederlage (1:2) verpasst. Alle Eintrachtler waren am Boden. Die frische Wunde war weit offen und schmerzte immens. Aus Selbstgefälligkeit war Fassungslosigkeit geworden. Zwischen Mullbinden, Pflastern, leeren Flaschen und verdreckten Trikots kauerten die abgestürzten Adlerträger in der Kabine und wehklagten. ›Wie oft muss ich das noch mitmachen?‹, stöhnte Mannschaftskapitän Jürgen Grabowski, während ein Teamkollege sich zum Erbrechen nach nebenan verdrückte.
Die Kickers indes durften ihren Triumph in vollen Zügen auskosten. Ihr literarischer Freund, der Dichter Gerhard Zwerenz, lief mit dem Victory-Zeichen an beiden Händen über die Tribüne und OFC-Trainer Rehhagel war tief befriedigt – doch der Erfolg war nicht von Dauer. Im Dezember musste der flotte Otto dann gehen und am Ende der Saison stiegen die Kickers ab.«
Sie stiegen, kein Wunder, immer weiter ab. Erstens ist Offenbach eine so lebendige wie verarmte Stadt als läge sie statt am Main an Pleiße oder Mulde. Außerdem verließ »der Dichter Gerhard Zwerenz« (FR) den Ort, was die Kickers um meine »seelische Betreuung« brachte. Dabei suchte ich gerade das Offenbacher Wetteramt zu überreden, das Wetter nicht nur vorauszusagen, sondern es auch zu realisieren. (Titel: Wie die Offenbacher das Wetter machen können … Essay, unter Pseudonym veröffentlicht) Weil wir wegzogen, wurde daraus nichts und Offenbach blieb die berühmte Lederstadt statt Wettermacherstadt, als die sie noch weltberühmter hätte werden können.
Im Film hatte ich, ganz nebenbei, reiche Zuhälter erwähnt, die in Frankfurt arbeiten lassen und in Offenbach das sichere Abseits im luxuriösen Hochhaus am Ufer des Mains genießen. Da reagierte das Gewerbe verdammt sauer.
Wir beschlossen, im Taunus, dicht unterm Feldberg, eine Hütte als feste Burg zu bauen und einen wachsamen Hund anzuschaffen. Der Weg dort, damals inmitten von Wald und Wiesen gelegen, inzwischen zur Straße mit zahlreich errichteten Häusern ausgewuchert, heißt Brunhildensteg. Brunhilde ist eine sagenhafte, kämpferische Dame, die, wenn es ernst wird, mit riesigen Felsbrocken um sich schmeißt - das schafft Sicherheit.
Während ich das Haus am Feldberg für den Einzug vorbereitete, so gut es eben ging, erlebte Ingrid in der Offenbacher Wohnung großes Kino ganz aus der Nähe, denn dort, mitten im ärgsten Tohuwabohu schuf die Fassbinder-Gruppe zielstrebig einen der wahnwitzigsten Filme des Jahrhunderts – Titel: In einem Jahr mit 13 Monden … RWF hatte mich zu einer kleinen Rolle in dem Riesen-Kunstwerk überredet und ließ mich bei Bedarf in seinem BMW aus meinen schweren Hochtaunus-Hausmühen runter in die Mainebene holen. In meinem lyrischen Notizbuch von 1978 findet sich dieser etwas durchwachsene Abschiedsgesang auf Offenbach und Frankfurt:
Stadtgeschichte
In Liebe gewidmet dem Struwwelpeter Das Wetter ist seit Jahren so übel, daß sich das Offenbacher Wetteramt die Wahrheit nicht mehr zu melden traut. Als hätten die jemals wahrgesagt. Der Main ist zugefroren. Die Huren im Bahnhofsviertel werden versiegelt. Der Oberbürgermeister singt vom Domturm herab stimmungsvolle Weihnachtslieder. Die U- und S-Bahn stellt aus Kostengründen auf Hundeschlitten um. Auf'm Rhein-Main~ Flughafen findet die Bundesgartenschau statt. Blumen statt Airbus. In den Straßen der Stadt demonstrieren Schüler gegen das zu nahe Ende des Jahrtausends. Die Universität beschließt, Adorno wieder auszugraben, um ihn zu haben. Im Römer wird Johann Wolfgang Goethen der Hilmar-von-Hoffman-Preis verliehn. Für standhaftes Ausharrn vor dem Feind. Die Laudatio hält Ernst Jünger. Irgendwo findet auch noch die Bevölkerung statt. Obwohl sie nur alle 4 Jahre was zu sagen hat. Sie wird zum Einkaufen benötigt. Und zum Verschaukeln. Irgendwo in der blauen Ferne schleicht Struwelpeter vorüber, der Stammvater aller ganz vorn befindlichen Hessen. Die Nöte seines Erfinders hab ich vergessen. PS von 2008: Vor nicht langer Zeit fuhren wir nach Offenbach hinunter zu einer Lesung von Hermann Kant. Über diese und weitere Offenbacher Abenteuer ein andermal.
Am Montag, den 21. Juli 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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