Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
Stellen wir uns vor, wir sitzen im gespenstisch vergangenen Leipziger Hörsaal 40 und erleben den Auftritt von Ernst Bloch, Martin Heidegger, Papst Benedikt, Georg Lukács, Hannah Arendt, Rosa Luxemburg. Sie sind die Hauptdarsteller eines Sechspersonen-Stücks, das Anfang 1957 mit der Entfernung Blochs von der Universität beginnt. Bisher wurde übersehen, dass das Ende Blochs in Leipzig das Ende jener internationalen Volksfrontpolitik bedeutete, die mit dem Pariser Kongress 1936 begonnen hatte. Bloch war einer der intellektuellen Gründungsväter. Sein Buch Erbschaft dieser Zeit, 1935 in Zürich erschienen, wies ihn dafür aus. Es geht also um die Differenzen. Bloch lehnte die Diktatur des Proletariats als misslungen ab, hielt die 11. Feuerbach-These für mindestens unzureichend interpretiert, favorisierte seit 1935 eine Gramsci-nahe kulturelle Hegemonie mit antidiktatorischen Akzenten, verwarf das Dogma vom „wissenschaftlichen Sozialismus“ und entwickelte seine eigene Existenz- und Subjektphilosophie. Alle diese Abweichungen sind im Erbschafts-Buch enthalten, das folgerichtig in der DDR nie erscheinen konnte. Trotzdem wirkte Bloch hier als Kraftwerk. Seine Energien strahlten Mitte der fünfziger Jahre aus auf Harich, Janka, Kantorowicz, Huchel, auf Gustav Just, Heinz Zöger sowie Fritz Behrens mit seiner oppositionellen Theorie einer fehlenden sozialistischen Ökonomie. Hubert Laitko, der Wissenschaftshistoriker glaubt sogar Fernwirkungen bei Jürgen Kuczynski festzustellen, allerdings erst nach der Wende. (Utopiekreativ März 2006) Die Spuren von Behrens reichen bis ins heutige kapitalkommunistische China der Nach-Mao-Ära. Das interessiert momentan kein Schwein. Denn das Volk soll mal wieder wählen gehen. Die Gegenwart als Gedächtnislücke breitet sich aus.
In den Mordzirkeln der Kissinger und des kürzlich verstorbenen McNamara geht seit kurzem das Gespenst atomarer Weltzerstörung um. Man wird der Nuklearmächte nicht mehr Herr. Von wegen in die Ecke Besen, Besen … der Atomtod lauert vor der Tür. Was tun? Und wenn uns das schwere Wasser bis zum Halse steht, die tüchtigen Marx-Professoren diskutieren weiter die wichtigen Fragen des Revisionismus. Aber ja doch, Lenins Materialismus und Empiriokritizismus hilft als linkes Gebetbuch gewiss noch aus den Krisen des 22. Jahrhunderts, falls es das noch geben wird. Die Herren der Rechten von FAZ bis zum Nachwuchsorgan junge Freiheit haben auch viel zu tun mit ihren Heidegger, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Ernst Nolte und Prof. Baring, der ja im Blatt der hochgebildeten Mainzelmännchen schon einmal die heilige konservative Revolution ausrief.
Bedenken wir, dass die bürgerliche Ökonomie von der Wissenschaft so sternenweit entfernt ist wie die Astrologie von der Astronomie, und dass der staatsmonopolistischen Ökonomie des Sozialismus mit dem Ende des Ostblocks der Bankrott bescheinigt worden ist, bleibt tatsächlich die entscheidende Frage, ob Bloch im philosophischen und Behrens im wirtschaftlichen Bereich die besseren Lösungen anbieten. Die Fragen nicht akzeptiert, sondern die östlichen Fragesteller verfolgt zu haben zählt zu den Ursachen des Untergangs. Die Völker sind daran so unschuldig wie die Basis der Parteien. Es versagten die Intellektuellen mit ihrem fatalen Hang zur Sklavensprache, wo klipp und klar hätte geredet werden müssen.
In unserem Buch Sklavensprache und Revolte – Der Bloch-Kreis und seine Feinde in Ost und West heißt es auf Seite 428: „Die DDR bestand aus zwei Republiken. Die Macht lag in Moskau, von wo den deutschen Vertrauten das untaugliche Modell vorgeschrieben wurde. In der Gesellschaft aber bildeten sich die Konturen eines anderen Entwurfs heraus. Dies alles unterdrückt zu haben ist die Schuld der Machthaber, die sich und den sozialistischen Versuch damit zur Untauglichkeit verurteilten. Ganz anders das Beispiel des Fritz Behrens, der, zu keinen Zugeständnissen mehr bereit, von allen Wirkungsmöglichkeiten ausgeschlossen, am Schreibtisch daheim seine Analysen und Warnungen zu Papier brachte. Sein Verzicht auf Sklavensprache war ein Verzicht auf jede öffentliche Einflussnahme. Seine Bitte an mich, für die Publikation im Westen zu sorgen, scheiterte an der Borniertheit unserer BRD-Verlage und auch an meinem gebremsten Engagement, hatte doch Frau Behrens mich unter vier Augen gebeten, dem Wunsch ihres Mannes nicht zu entsprechen, denn neuerliche Aufregung, hervorgerufen durch eine Veröffentlichung im Westen und die darauf wieder einsetzende Repression durch SED und DDR könnten das Leben von Fritz gefährden, der sich eben erst von seinem zweiten Herzinfarkt erholte.
Wir sehen in Menschen wie Behrens mit ihrer nicht zu unterdrückenden Wahrheitsliebe und dem unkorrumpierbaren Scharfblick die wahren Zeitzeugen. Statt es sich opportunistisch, mit verlegener List, in der Sonne der Macht wohl sein zu lassen, gehen sie, ohne Trauer, jedoch mit dem Zorn der Gerechten, den schweren Gang in die Anonymität. Wenn es denn Helden gibt, hier sind sie, wenn auch von keinem Nietzsche zum Übermenschen geadelt.“
So steht's in unserem Bloch-Buch. Wer sich mit der unterdrückten ökonomischen Theorie von Behrens befassen will, findet von Hans-Georg Draheim einen umfassenden Text in Utopiekreativ Nr.144. Unter dem Titel: Fritz Behrens und Arne Benary als kritische Vordenker einer sozialistischen Wirtschaftstheorie wird die Grundfrage, ob Sozialismus ökonomisch überhaupt existenzfähig sei, abgehandelt, was zugleich bedeutet, er ist ohne eigene Ökonomie nicht möglich, auch wenn die Staatsmacht sich in Händen der Partei befindet, wie es in Moskau und Ostberlin der Fall gewesen ist. Das zwingt zum grundsätzlichen Umdenken der ökonomischen und philosophischen Theorien des Marxismus unter modernen Aspekten. Oder man springt mit den bürgerlichen Parteien von Krise und Krieg zu Krise und Krieg wie Tarzan von Ast zu Ast.
Wie eng das Verhältnis zwischen dem Wirtschaftswissenschaftler und dem Philosophen war, zeigt der Vergleich von Blochs Rede auf der Berliner Freiheitskonferenz im März 1956 mit dem Behrens-Referat beim Kolloquium in Frankfurt am Main im September 1967, wo Behrens, sich auf Marx und Blochs Tübinger Einleitung in die Philosophie berufend, seine eigenen Vorstellungen einer sozialistischen Ökonomie entwickelte und dabei die Chance wahrnahm, unverblümt seine Meinung zu sagen und auf Sklavensprache zu verzichten. Ähnlich hatte Bloch elf Jahre zuvor bei der Freiheitskonferenz die Möglichkeit genutzt, doch beiden schlug der beherzte Vorstoß ins Land eines reformatorischen Marxismus nicht zum Wohle aus. Für den einen wie den anderen endete es mit der Vertreibung aus dem Paradies der Universitäten und ihrer Privilegien. Bloch führte 1956 die relevanten Fakten exakt auf: „Der Sozialismus hat zwar eine Reihe von Gesetzen der kapitalistischen Ökonomie durch neu geschaffene Produktions- und Distributionsbedingungen aufgehoben (so das Gesetz des Mehrwerts, der absoluten und relativen Verelendung, der Durchschnittsprofitrate, der Konkurrenz, der Krisen). Nicht aufgehoben, sondern in ihrer Gültigkeit nur eingeschränkt sind dagegen andere Gesetze der Warenwirtschaft, die gerade dem Übergang vom Kapitalismus über den Sozialismus zum Kommunismus notwendig eigen sind (so vor allem das Wertgesetz, das Gesetz der Waren- und Geldzirkulation, kurz der allgemeine Bedingungszusammenhang der Warenzirkulation statt des erst kommunistisch möglichen Produktionsaustauschs).“
Zu subsumieren sind Blochs Sätze unter dem Begriff des vernachlässigten subjektiven Faktors, wobei seine ökonomischen Einsichten Resultat früherer Leipziger Begegnungen sind, wie mir Behrens bestätigte, als ich ihn 1967 in der Kölner Wohnung von Walter Fabian traf. Der Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte und Behrens kannten sich seit den dreißiger Jahren aus gemeinsamen antifaschistischen Aktionen. Die alten solidarischen Bande verhalfen Behrens Mitte der siebziger Jahre zum Aufenthalt in einer Reha-Klink in Bad Orb. Als er anrief und ein Treffen anregte, antwortete ich verblüfft, er wisse doch, dass ich die DDR nicht betreten dürfe. Erst als klar wurde, er telefonierte aus dem Kurort im nahen Spessart, fuhren Ingrid und ich hin. Wir fanden ihn zusammen mit seiner besorgten Ehefrau, die ihren euphorisch gestimmten Mann etwas zu dämpfen versuchte, weil sie einen dritten Herzinfarkt bei ihm fürchtete, waren doch die Folgen des zweiten nicht auskuriert. Behrens erhoffte sich noch einiges von der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung. Blochs Jugoslawien-Bild glich dem seines Freundes Fritz und war bestimmt durch die jährlichen Treffen auf der Insel Korcula. Meine eigenen Jugoslawien-Sympathien erwiesen sich nach einer längeren Reise durch das Land hingegen als schwer erschüttert. Ich fürchtete schon damals ein Scheitern des Modells, was ich Behrens gegenüber nicht verschwieg,
An dieser Stelle muss über Rugard Otto Gropp gesprochen werden, den Philosophen des marxistischen Fundamentalismus und seine verhängnisvolle weit- und tiefreichende Wirkung. Verschiedentlich äußerte ich mich trotz aller Gegnerschaft, nein Feindschaft zurückhaltend über ihn. Wir Tbc-Kranken nannten uns untereinander „Mottenbruder“. Stiegen Gropp und ich nach Luft ringend die Stufen im Leipziger Philosophischen Institut hoch, herrschte Mottenbruderschaft. Der tiefere Grund seiner Stalin-Orthodoxie erschloss sich mir erst viel später anhand der Biographie Alfred Neumanns. In Sklavensprache und Revolte heißt es dazu: „Oder wie kam Alfred Neumann zur SS: Widerstand, Flucht, Sowjetunion, Ausweisung, Spanien-Krieg, verwundet, durch das Frankreich Petains an die Gestapo ausgeliefert, 8 Jahre Zuchthaus, 1945 zu Dirlewanger gepresst, Desertion, bis 1947 im Gefangenenlager, dann DDR-Minister, ab 1990 Rentner, angeklagt wegen „Totschlag und Körperverletzung an der innerdeutschen Grenze“.
Wer sitzt im Glashaus und wirft den ersten Stein? Wollen wir die von Deutschen erschossenen Kommunisten aufzählen? Die von den Sowjets ermordeten deutschen Genossen dazu?
Wer kann von denen, die der Hitlerschen Verfolgungsorgie entgingen und dabei in die Fänge Stalinscher Verfolgung gerieten, erwarten oder gar verlangen, sie sollten sich nach 1945 einem Adenauerschen Staatsapparat anvertrauen, in dem statt einer von der Sowjetunion angebotenen Neutralität neue Aufrüstung inklusive Atomwaffen zum Programm gehörten? In den kurzlebigen Frankfurter Oder Editionen erschien 1996 das Buch Poltergeist im Politbüro – Siegfried Prokop im Gespräch mit Alfred Neumann, das ich mir antiquarisch beschaffte. Neumanns Gepolter bezog seinen geduldig nachfragenden Interviewpartner Prokop ein, so entstand im Dialog das Selbstporträt eines Kommunisten, wie es ihn in seiner Abenteuerlichkeit und kämpferischen Respektabilität gar nicht gegeben haben darf, geht es nach den zahlreichen heute medienbeherrschenden Post-Nazis samt Mitläufern. Wollte Georg Lukács einst Stalin halb recht geben und die andere Hälfte überwinden, sehe ich in Alfred Neumann einen solchen Teilstalinisten, dessen Biographie seinen Werdegang legitimiert. Ähnlich bei Gropp, dessen anfänglicher Teilstalinismus wie bei Neumann aus der Todesangsterfahrung ewig Verfolgter resultiert. Als der Moskauer 20. Parteitag mit Chruschtschows Antistalinrede Gropps Position am Philosophischen Institut schwächte und erschütterte, reagierte er wie vordem in der Strafeinheit Dirlewanger und wie danach im Sanatorium, als ihm ein Lungenflügel entfernt worden war: Nun erst recht! Vom Herbst 1956 an war Gropp der Stalin der DDR-Philosophie. Die Schwächung durchs Moskauer Tauwetter verwandelte sich in eine Stärkung mit verheerenden Folgen.
Von einer Webseite der Berliner Hegel-Gesellschaft ist eine detailreiche Studie über DDR-Philosophie abzurufen, deren Verfasser nicht angegeben ist. Es heißt darin: „Gropps Eifer, unter seinen Kollegen reaktionäre Versöhnler namhaft zu machen, richtete sich besonders gegen August Cornu, Georg Lukács, Ernst Bloch und Fritz Behrens. Während Lukács möglichst viel Marx in Hegel hineinzulesen bemüht sei, versuche Bloch möglichst viel Hegel in den Marxismus hinüberzunehmen.“
Das ist richtig gesehen, engt aber den Kampfplatz ein. Blieb Neumann durch seine politische Praxis lebensnah, verrannte Gropp sich in ein Wagenburgdenken, das bei Philosophen nur tolerabel ist, steckt die Welt ringsum voller Feinde. Mit Gropps Sieg an der Phil-Front 1957 waren die Würfel gefallen. Im Fanatismus umgab ihn ein Hauch von Münsteraner Wiedertäufertum, doch in Münster hatten sich Abtrünnige und Ketzer organisiert, Gropp jedoch, Savonarola lässt grüßen, verfolgte eben die Ketzer und Renegaten, die nun Revisionisten hießen, und wer es nicht sein wollte, wurde dazu gemacht.
Im Sammelband Ernst Blochs Revision des Marxismus, dem von Prof. Gropp mit Ulbrichts Unterstützung betriebenen „Anti-Bloch“, 1957 in VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften – Berlin erschienen, legen sich gemeinsam mit Gropp alle 13 Beiträger auf die vorgegebene Parteilinie fest. Von 8 Autoren weiß ich, sie sind im Frühjahr 1956 noch nicht die Bloch-Feinde gewesen, als die sie sich nun darstellten. Wer ihre wahre Meinung erfahren will, die sie aus Parteidisziplin, also Angst, unterdrückten, zumindest tarnten, darf das Gegenteil dessen annehmen, was sie schrieben. Nur fünf der im Buch gegen Bloch antretenden Beiträger waren tatsächlich Gegner des Philosophen, drei aus Überzeugung, zwei wussten es nicht anders. So schwor die Parteiführung von der Spitze her ihre Mitglieder gegen Chruschtschow und erneut für Stalin ein. Die Philosophie reduzierte sich wieder scharfrichternd. Der Genosse gehorchte oder wurde repressiert. Mit den Jahren vergaß die Mehrheit ihre lockeren Befreiungsgefühle von 1956. Nach 1957 lief der Laden wie vordem, d. h. es ging ein wenig auf und ab, aufs Ganze gesehen jedoch 32 Jahre hindurch in den Abgrund von 1989/90, als der Großteil des DDR-Volkes sich per Abstimmung mit den Füßen der westlichen Wertegemeinschaft von Lemmingen anschloss. Das alles war mit dem Blochkonflikt vorentschieden worden. Die Niederlage der Revisionisten und der Sieg der Orthodoxen führten in der Konsequenz zum DDR-Ende. So wurde das rote Sachsen schwarz statt chinesisch revolutionär. Der Untergang des Abendlandes funktioniert.
Wir begannen mit der Skizze eines Sechspersonenstücks anno 1957 im Hörsaal 40 der Leipziger Universität, die den Namen von Karl Marx trug. Inzwischen ist sie so verschwunden und legendär wie der einst berühmte Hörsaal 40 selbst. Zu den genannten Personen kommen noch der Revisionist Fritz Behrens, der Stalinist Rugard Otto Gropp und eine Anzahl weiterer Akteure der Zeitgeschichte hinzu. Ist das nur Leipziger Lokalgeschichte? So hätten es die heutigen Uni-Verwalter und -Archivare gern. So verhielt sich auch die damalige DDR-Bürokratie. Ich hoffe, die Berliner Tagung am 26.9.09 zu Ehren des verfolgten Fritz Behrens bringt die Courage auf, sich zu früheren Erkenntnissen zu bekennen. In Leipzig fanden zwei Vorläufer-Veranstaltungen statt. Die zweite im Jahr 2005 unter dem Titel Alternative Ökonomie in der Traditionslinie von Fritz Behrens. Mein kleiner Beitrag dazu trug den zugegeben recht umfänglichen Titel: Bloch, Behrens und der Chinesische Drache - Anmerkungen zum Verschwinden der Sowjetunion und zur praktizierten Reformation des Marxismus in Asien und anderswo. Wer mehr über Fritz Behrens wissen möchte, kann es aus dem Diskurs Heft 18 der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2005 erfahren.
Diese Doppel-Folge 94 und 95 erscheint am Montag vor der Bundestagswahl zum 27. September 2009. Bei der medial verbreiteten Begriffsstutzigkeit unserer völkischvereinten Herrschaftsdienerschaft wird die Wahl ausgehen als hätte eine Alternative, die sich oppositionell in der DDR herausbildete, nie bestanden. Aus Sachsen und Ostberlin gab es Angebote, doch die feindlichen Widersacher erwiesen sich in Ost wie West als stärker. Der rechtschaffene Deutsche kommt ohne Freund-Feind-Denken nicht aus. Man braucht immer eine Linke zum Abschaffen wie 1933 oder als Kaste der Unberührbaren wie unter Adenauer und heute. Man benötigt weder eine Behrenssche Ökonomie noch eine Blochsche Philosophie des 3. Weges und verspürt, bis es zu spät ist, nicht den geringsten Impuls zur aufklärenden Kenntnisnahme. So wird die weltoffene sächsische Kollektion der Karl-Marx-Universität dem Prinzip Borniertheit per Gedächtnisverlust übereignet und der Weltbürgerkrieg wächst beschleunigt in Form von Religionskriegen weiter. Berlin ist nicht Weimar? Ab 1933 ging es ganz ohne Linke zielstrebig voran beim Zug der Lemminge, die nun gar keinen Führer mehr brauchen, weil einer dem anderen freiwillig folgt. Der Sprung der Lemminge in den Abgrund ist die romantische Fassung vom Untergang des Abendlandes
Spätestens wenn Walter Fabian im Zusammenhang mit Fritz Behrens genannt wird, dürfte bei Fachleuten Trotzkismusverdacht aufkommen. Bloch musste einen so gearteten Verdacht weit von sich weisen, um seine Wegmarken setzen zu können. Der Hoffnungsdenker als heimlicher Trotzkist, der implantiert zu werden begehrte? Seine Freunde wirkten gleichsam als Freimaurer-Genossen in den Kollektiven. Der Kampf, Leo und Ernst, geht weiter mit Dekonstruktion und Liebe zum Gelingen. Trotzki: „Wir haben den Kapitalismus überall da besiegt, wo es ihn noch gar nicht gab.“ Mephisto Faust 1.Teil: „Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“ Brander in Auerbachs Keller: „Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied …“ Faust 2. Teil: Schatzmeister: „Auch auf Parteien, wie sie heißen, Ist heutzutage kein Verlass; Sie mögen schelten oder preisen, Gleichgültig wurden Lieb und Hass.“
Im Kampf gegen trotzkistische Revolteure sind sie alle vereint, die stalinistischen Derwische, die braunblütigen Antimarxisten und ihre ewig ums Goldene Kalb tanzenden heiligen Sülzköpfe der Firma Bank&Bankrott. Inzwischen ging der ewige Trommelbube Günter Grass stolz mit einem SPD-Omnibus auf Wahlpropagandareise. Laut Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung haut er dabei auf Westerwelle als „großmäuligen Schaumschläger“ ein, nun ja, geschenkt - dann nimmt er Lafontaine dran, „den großen Verräter, diesen Lumpen von der Saar.“
Zwei Argumente hat Grass, wie die FAS vermerkt, auch noch zu bieten. Er „erwähnt den BVG-Streik von 1932 (Ulbricht und Goebbels saßen da an einem Tisch und agierten gemeinsam gegen die Sozialdemokratie).“ Zweitens: „Die Linkspartei sollte gefälligst erst mal den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan aufarbeiten, bevor sie sich aus dem Fenster lehnt.“ Zum BVG-Streik sind Zitate und Foto in meinem Buch über Walter Ulbricht (Archiv der Zeitgeschichte, Scherz Verlag 1966) zu finden. Was immer für oder gegen Ulbricht spricht - ein Waffen-SSler, der das erst lebenslang verschweigt und hernach schleimspurig lyrisiert, verspielt das Recht zur Kritik. Maßlos war GG schon, als er Bertolt Brecht per Bühnenstück von der Seite her anspuckte. Bleibt die Linkspartei und ihre Aufgabe, den sowjetischen Afghanistan-Einmarsch aufzuarbeiten. Der Nobelpreisträger ist heute für den NATO-Einmarsch samt Bundeswehr in Afghanistan. Zweierlei Maß also? Die SU holte die NVA 1978 nicht mit an den Hindukusch. Zbigniew Brzezinski, Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, brüstet sich damit, dass er die Sowjets in die „Afghanistan-Falle“ gelockt hat, in der sie sich dann auch verfingen. Was kümmert den Wahlkampfheros die Wahrheit mit ihren Subtilitäten, wenn er für die Kriegspartei SPD im Lande herumknattert und von Lafontaine als dem „Lumpen von der Saar“ redet? Welch eine Polemik aus dem Plumpsklo.
Die Linke könnte sich als Friedenspartei mal was Neues einfallen lassen. Statt das Berliner Hohenzollernschloss durch Neubau zu persiflieren, wollen wir Erichs Lampenladen detailgetreu wieder aufgebaut sehen, ohne Asbest, mit dem Sitz einer Akademie des 3. Weges gegen Krisen und Kriege. Das wäre tatsächlich ein Freiheitsdenkmal. Und wenn die Leipziger auch eins haben wollen, sollen sie, wir regten das schon mal an, ihr Völkerschlachtdenkmal zum Friedenspalast umfunktionieren. Am besten passte dazu die in Hamburg gebunkerte Wehrmachtausstellung.
Alle reden von China. Wir auch, denn das Land entwickelte seine Alternative des 3. Weges und gewann damit Zukunft. Die DDR mit ihrer ideologischen Kreml-Fessel im Kopf musste untergehen, als Gorbatschow sich entschied, die sowjetische Armee zu neutralisieren. Derart hatte das SED-Politbüro seine Revisionisten solange besiegt, bis es von den Moskauer Vorgesetzten im Stich gelassen wurde, weil der Kommunist Gorbi sich als Sozi fühlte und der Kommunist Jelzin sein Parteibuch in Wodka ersäufte.Genau dorthin hatten Tunnelblick, Wagenburgdenken und systemische Idelogieproduktion geführt.
Vom eigenen Siegeslauf überrascht, ergriffen hochdotierte westliche Denkfabrikanten den Stab zum Endlauf. Wer nach Hitler auch die Bolschewiken besiegt hat, kann jeden Religionskrieg gewinnen, triumphierten sie. Im Gegensatz zur Marxschen Erkenntnis, Geschichte geschehe erst als Tragödie, dann als Farce, kam die Farce zuerst, gefolgt von unseren tragischen Heldendarstellern. Sah Georg Büchner im Verhältnis zwischen Armen und Reichen „das einzige revolutionäre Element in der Welt“, ersticken die Reichen von heute mit medialen Mythologien, Folter, Massakern und Bomben die weltweiten Pluralismen und Aufstände, weil die Mehrheit nicht der strategischen Totalität des Kapitals dienlich sein will. So spielt sich die Tragödie als Westernkrimi ab. Notfalls, so vernehmen wir es heute von Merkel im Fernsehen bis hin zur jungen Welt, helfe eben der 3. Weg weiter. Da nistet ein Irrtum im Gehäuse. Warum gelang der 3. Weg in China, misslang jedoch in der DDR? Es kommt darauf an, was die Elite denkt und das Volk will. Der 3. Weg ist der 2. Akt einer vorausgegangenen Revolution. Ohne sie ist er zu 99 % Illusion, eine Sackgasse eben. Siehe Karl Marx, Georg Büchner und Fritz Behrens, allesamt zu früh gekommene Revolutionäre. Die Berliner Republik hat keine Zukunft, ohne sich ihrer Vergangenheit zu stellen, inklusive der Legitimität der DDR.
Lars von Trier gab anlässlich der Premiere seines Films Antichrist der Menschheit noch eine Überlebensfrist von drei Generationen. Woher nimmt der Apokalyptiker bloß diesen Optimismus. Wir aber leben im Takt Kannitverstan – Afghanistan. In meinem Casanova-Roman singt die SS-Strafkompanie des irren Dirlewanger ein schönes deutsches Soldatenvolkslied, das geht so:
Was ist des Soldaten Lohn?
Sitzt auf des Teufels Thron Tausend Jahr im Feuer schon Knuspriger Gottessohn ... Ein Huhn im Topf Was ist des Soldaten Weib? Ist ihm der Erde Leib Tausend Jahr ein Zeitvertreib Nimm die Hand und reib ... Kein ander Leib kein Bett Was ist des Soldaten Ehr? Ist ihm sein Schießgewehr Ist seiner Feigheit Galgen schwer Ist ihm das eigene Heer ... Ein Helm überm Kopf
SPD-Grass will seinen Oskar Matzerath in Afghanistan trommeln lassen. Denn den 1. Weltkrieg gewannen wir. Den 2. Weltkrieg gewannen wir. Den Kalten Krieg gewannen wir. Den Krieg in Afghanistan werden wir auch noch gewinnen: Tapfer kämpft das Bundesvaterland am Hindukuscher Bergesrand.
Es steht ein Soldat am Kundusstrand, ist um die halbe Welt gerannt. Ende mit Lili Marleen.
PS: Am Montag nach der Bundestagswahl, wenn die Kriegsparteien ihre Erfolge feiern, schlafen wir in die Ruhe vor dem Sturm hinein, ohne den die Helden nicht auskommen.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 5.10.2009.
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Gerhard Zwerenz
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