Brief an Ernst Bloch im Himmel
Herrn Prof. Dr. Ernst Bloch Im Himmel der Philosophen Ernst-Bloch-Straße 13.8.1984 Lieber Ernst, dieser Tage erinnerte ich mich aus gegebenem Anlass daran, dass ich von Dir mehrfach und über viele lange Jahre hinweg immer wieder den freundlichen Rat erhielt, mich des Phänomens der Sklavensprache anzunehmen, wobei mich Deine Beharrlichkeit ebenso verwunderte wie die Tatsache, dass Du ein Dich derart bewegendes Thema nicht selbst angingst, sondern es einem Jüngeren antrugst, ganz als sei der über fast dreißig Jahre hinweg der frühere Student geblieben. Nun mag daran ja durchaus etwas sein, und neben mehreren Schrecknissen birgt der Gedanke einer lebenslangen Studentenschaft auch die Freundlichkeit des Unernstes, der dem Studenten zusteht, wovon jeder gewiss gern noch am Tage seines Todes Gebrauch machen wollte. Allerdings ergriff mich, wenn mir das Thema empfohlen wurde, ein Verlegenheit auslösendes Unbehagen, das weniger dem Komplex selbst entstammte als der fatalen Tatsache, dass ich tatsächlich als Student im zweiten Semester eine Aufgabe von Dir aufgetragen bekam.
Vorangegangen war Dein Hinweis auf einen Deiner Jugendfreunde mit Namen Walter Benjamin, der auf der Flucht vor den Nazis Selbstmord begangen habe und von dem es in der Deutschen Bücherei immerhin das Buch Vom Ursprung des deutschen Trauerspiels gebe. Ich las das Werk dann, welches in die Hände zu bekommen eines besonderen Ausweises bedurfte. Damit begannen jene endlosen ästhetischen Studien, die mein Unglück begründeten. Ich schrieb viele hundert Seiten, stets auf den Spuren des von Dir gewiesenen Fragezeichens, ob es anginge, die alte Katharsislehre des Aristoteles zu revolutionieren.
Laut Aristoteles und dem ihm nachfolgenden Lessing wirkt das Drama, indem es den Zuschauer zugleich fürchten und mitleiden lässt. Die Furcht, mit der er an den Vorgängen auf der Bühne teilhat, macht ihn klein, das Mitleiden macht ihn offen und menschlich.
Dir jedoch, lieber Ernst, gefielen Furcht und Mitleid in ihrer reinigenden Funktion wenig, denn es handelt sich um recht passive Emotionen und Affekte, und so brachtest Du die aktiven Affekte Trotz und Hoffnung ins Spiel. Demnach sollte das Drama im Publikum statt der Furcht die Hoffnung und anstelle des Mitleids den Trotz hervorrufen und bestärken, so dass der Zuschauer nicht entnervt, verkleinert und gebeugt das Theater verlasse, sondern mehr aufrecht gehend, bestärkt und guter Dinge.
Nun, damals, 1956, erschienen von meinem ästhetischen Wälzer über die Fragen der Katharsis nur gut hundert Seiten. Immerhin wurde es mein erstes Buch und der Umstand seiner Verstümmelung versetzte mich in einen anhaltenden Zustand von Unruhe.
Ein Thema hatte seinen Autor ergriffen, und je mehr Behinderungen er erfuhr, desto trotziger widmete er sich ihm. Du weißt, lieber Lehrer und Freund, meine Manie des Schreibens geht mit der zweiten Manie parallel, den Leser meiner Bücher nicht in Furcht und Fürchterlichem erstarren, wo nicht ersticken zu lassen, sondern ihn zu trotzigem Leben und lebendigem Trotz zu geleiten, damit aus menschlicher Vegetation Gestalt werde.
Meine lange Weigerung, in die Erörterung der Sklavensprache einzusteigen, entsprang der Erfahrung, die ich mit "Furcht und Mitleid oder Trotz und Hoffnung" hatte machen müssen. Nicht ein zweites Mal wollte ich mich von meinem früheren Professor auf Lebenslang festlegen lassen und fürchtete den Fangarm. Ich sagte mir: Einmal gingst du dem Alten ins Garn. Einmal stellte er dir eine, vordergründig betrachtet, kleine Seminaraufgabe, und daraus wurde die Zwangsauflage einer das ganze Leben umfassenden Parole. Soll ich mich als gebranntes Kind wiederum in Gefahr begeben?
Wie denn, wenn, was zu befürchten steht, das Thema der Sklavensprache die gleiche Weitläufigkeit entwickelte? Dieselbe Dauerhaftigkeit? Dringlichkeit? (Zu-Dringlichkeit)
Es war also eine Angst, von Dir festgelegt und gebannt zu werden, die mich abhielt. Es war aber auch meine eigene vorlaute Festlegung, hatte ich doch in Kopf und Bauch verlautbart: „Untersuchen müsste man, inwieweit die herkömmliche Belletristik Sklavensprache, deren Theorie und Rezensionswesen dazugehörige Ideologie ist ... Vielleicht ist die bürgerliche Belletristik in der Wolle gefärbte Verkleidung, sind die gesellschaftlichen Zwänge primär bestimmend auch darin, dass der Roman als Fictions-Genre entstand, mit all seinen Personen- und Darstellungstechniken? Die wahre Literaturgeschichte bestünde dann in der Durchbrechung dieser Konvention, im Ablegen der Maskeraden und im Durchstoßen der Masken. Unter den Verhüllungen wird erst die nackte Wirklichkeit sichtbar ... Indem alle Belletristik, ihre apologetische Ästhetik einbeschlossen, als Technik von Sklavensprachen dechiffriert wird, gewinnt Literatur eine neue Dimension. Die Masken sind ab, nun gehören die stinkenden Lumpen der alten Verhüllungen verbrannt, der Leib leuchtet auf in all seinen Scheußlichkeiten, Schönheiten und beider Steigerungen, von denen die bürgerliche Idylle nichts ahnte. “
Mir scheint jetzt, lieber Ernst, da wurde trotz aller Abwehr im Kopf ganz aus dem Bauch heraus doch der Sklavensprache nachgeforscht – ich hatte abgelehnt und bin dennoch aufgestiegen, um abzufahren. Als ich so schrieb, befand ich mich im jugendlichen Alter von sage und schreibe fünfundvierzig Jahren, da pubertiert ein Schriftsteller bekanntlich noch, genau wie der Philosoph, denn beide entwickeln sich nur zäh voran Richtung Norm-Natur und Resignation. Im jugendlichen Überschwange also überantwortete ich die gesamte Belletristik der Abteilung Sklavensprache, fügte jedoch das brandmarkende Adjektiv „bürgerlich“ hinzu, ganz als ob die sozialistische Belletristik qualitativ anders wäre. Wir wissen leider nur zu gut, sie ist es nicht geworden.
Vergessen wir den Unterschied, der es kaum ist. Das Verdikt, wonach Belletristik insgesamt Sklavensprache sei, also Ausweichmanöver, Ablenkung, Drumherumreden, Verniedlichen, Ästhetisierung, sollte wohl bedacht werden, auch wenn es in seiner Allgemeinheit übers Ziel hinausschießt.
Wahrscheinlich, nein sicherlich ließ ich mich bei der Niederschrift der Sätze vom Zustand der umgebenden westdeutschen Literatur zur Übertreibung verleiten, gerade weil in der Bundesrepublik die Wichtigkeit der Literatur stets behauptet, kaum aber bewiesen wurde, weder von ihren Freunden noch von ihren Feinden, weder von den Autoren noch den Kritikern.
Bleibt nachzutragen: Der Zustand der DDR-Belletristik konnte das Negativ-Urteil nicht korrigieren. Zwar gab es in der DDR mannigfache Konflikte zwischen Staat – Partei einerseits und Schriftstellern andererseits, aber in 99 Prozent der Fälle war der Konflikt nicht durch ein Werk verursacht, sondern Folge jenes nervösen Zitterns, an dem die Inhaber illegitimer Macht naturgemäß leiden. Kurzum, die Literatur wirkte nicht deshalb, weil sie die verordnete Einkleidung und Verhüllung von Wahrheit schuldig blieb, sondern lediglich, weil die Obrigkeit vermutete, dass es so sei. Dies nämlich scheint die sicherste Folge der von oben gebotenen Sprachversklavung zu sein – die Schriftsteller mögen noch so sklavisch schreiben, sie können den Anforderungen doch nie ganz und gar gerecht werden. Die Sklavensprachaufseher vermuten gerade hinter dem unschuldigsten Wort die Geste der Widersetzlichkeit und verdächtigen den schönsten inhaltsleeren Satz der Konterbande, am liebsten folterten sie einen ganzen Text, dem sein Autor die lieblichste Unschuld vollkommener Inhaltsleere mitgegeben hat, um ihm unter Schmerzen das Geständnis abzunötigen, dass seine Sätze doch die verbotene Freiheit einverlangten.
Ja, der Sklavensprachaufseher vermutet kraft seines Amtes den Verbalwiderstand noch dort, wo ihn der Sklavensprachdichter schon längst nicht mehr zu leisten imstande ist, sei es, weil die lange verordnete Angst ihn bis in die Tiefen des Charakters hinein zerstört hat, sei es, weil Herren und Sklaven in ihren Innenausstattungen einander gleichen, wie es etwa in der portugiesischen Literatur der Fall war als Folge zu langer Unterdrückung und Unterwerfung, sei es wie in der Literatur des deutschen Faschismus, wo die Sklaverei die Frucht der kurzen Radikalität war. Auf beiden Wegen, dem kurzen wie langen, scheiden sich die gern Mitmachenden von den ungern Mitmachenden. Die Parteigänger bedürfen keiner Sklavensprache als List, denn sie reden als die Sklaven, die sie sind, frei von der geschwollenen Sklavenleber weg. Die andern wiederum brauchen keine Sklavensprache, weil sie nichts Widersetzliches besitzen, das auszudrücken wäre, wenn auch verdeckt und getarnt. Sie haben sich in der Unterwerfung wohnlich eingerichtet und sondern naturgemäß inhaltslose Belanglosigkeiten ab. Erst später hinzueilende dienstbare Geister sprechen dann von höheren Dingen wie der „Inneren Emigration“, indem sie in die Belanglosigkeiten jenes Widersetzliche hineindeuten, das darin nicht enthalten ist. Womit dann auch jene paar Einzelgeister, die tatsächlich in kunstvollen Andeutungen Opposition anklingen ließen, um die Anerkennung gebracht werden.
Soweit also meine Überlegungen zum Seminar-Thema. Gegeben vor drei Jahrzehnten. Bis heute nicht abgeliefert, woran auch dieser Brief an den Philosophen im Himmel der Philosophen nichts ändert. Übrigens fällt mir, indem ich dies erwähne, ein, dass Brecht oft mit sarkastischer Lust „Filosofen“ schrieb statt "Philosophen", und wir nahmen es als Signal.
Denn wenn etwas üblich ist, kann das Unübliche zum Stein des Anstoßes werden. Wir, die wir solange Brechts Schreibweise folgten, fühlen uns schon fast wieder subversiv, wählen wir die vorangegangene, ehrwürdig-traditionelle Form. Vielleicht kommt es immer mehr auf die Entgegensetzung an als aufs Entgegengesetzte?
Wie denn, wenn furchtbare Kriegszeiten, Epochen der Gewalt und der Drohung der alten Furcht und Mitleid-Katharsis bedürfen, während friedliche Zeiten oder solche, die wir dafür halten, die subversive Trotz-und-Hoffnung-Ästhetik brauchen?
Mir scheint, die Sprache der Sklaven muss keine Sklavensprache sein. Das Idiom dient der Verbindung untereinander und der Abschottung nach oben ebenso wie zu den Knechten der Oberen. Mir scheint auch, dass Spartacus, besiegt, ans Kreuz geschlagen, keinen Grund mehr fand zur Sklavensprache. Seine Schmerzklagen waren so direkt, wahr und unverstellt wie seine vorangegangenen Taten.
Wir erkennen, es werden mehrere Sklavensprachen gesprochen: Die Sprache der Unterwürfigkeit ist die erste. Sie macht ihren Sprecher zum lebenslangen Opfer.
Die Sprache der heimlichen Empörer ist die zweite. Sie solidarisiert. Wird der Aufstand niedergeschlagen, erübrigt sich das Sprechen mit verstellter Stimme. Die Klagen der Opfer, die in allen Sprachen ertönen, werden in allen Sprachen verstanden.
Bleibt noch die dritte Sklavensprache zu erwähnen: Die Sprache derer, die siegten. Nach ihrem Sieg zwingen sie anderen die Notwendigkeit auf, sich ihre eigene Sklavensprache zu erfinden.
Dieses blutige Dilemma, Meister, bleibt bestehen, eine schwarze Realität.
Was die Gesellschaft anbetrifft, den Fortschritt, Sozialismus, die Humanität: Da weiß ich keinen Rat. Auch nach dreißig Jahren nicht. Nur was den einzelnen angeht, kommt es, fürchte ich, ganz drauf an, was und wie er spricht: sklavisch verdeckt ohne Not oder um sich aus gutem Grunde nicht zur Vorzeit zu verraten. Da werden leider viele nun nach guten Gründen suchen und keine finden.
Und viele werden gar nicht danach suchen und einfach weiter als die Sklaven leben, die sie sind, wovon sie keine Kenntnis nehmen.
Lieber Ernst, es war, erinnere ich mich recht, ein polnischer Meister des Aphorismus, der lakonisch vermerkte: Dann bist du endlich mit dem Kopf durch die Wand, und was fängst du nun an in der Nachbarzelle?
Ihr solltet, Philosophen, dort oben in eurem Himmel darüber nachdenken, wie wir dem Dualismus entkommen, der uns umfangen hält, wonach der Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben sei. Mir scheint, die beiden ergänzen einander besser als dass sie sich ausschlössen. Denn das konservative Abendland bildete und kultivierte seine Bürger durch zwei Jahrtausende hindurch derart, dass nun einer wie Kain mit jener einfachen Bewegung, die Abel das Leben kostete, die Menschheit ausrotten kann. Und das revolutionäre Morgenland zieht mit aller Macht, in aller Hast die industriellen Siebenmeilenstiefel an, den Kontrahenten einzuholen und zu überholen.
Das eine wie das andre Denken schafft nichts als Schützengräben, Frontverläufe, Ausgangspositionen: Ich rüste, also bin ich. Es wird Zeit, alter Freund, fürs dritte Denken, für die dritte Position: Ich widerstehe, also kann aus uns noch etwas werden.
Salut, Freunde!
Auf Wiedersehen, Ernst. Droben oder drunten.
Dein Gerhard Zwerenz
Dieser Brief wurde am 13. August 1984 geschrieben und erschien 1987 zum 10. Todestag Blochs gekürzt in einigen Zeitungen. Der vollständige Abdruck ist in Sklavensprache und Revolte enthalten. Bei erneuter Lektüre zeigt sich, die Seiten verloren nichts von ihrer Aktualität. Die ungelösten Konflikte verabschieden sich artig mit „Auf Wiedersehen“ und halten Wort, indem sie prompt zurückkehren. Das Kapital beharrt auf seinem 1. Weg der totalen Globalisierung. Die Sowjetunion scheiterte mit ihrem revolutionären 2. Weg. Was kümmert das einen kleinen Sachsen vom Pleißenstrand? Einen feuchten Kehricht, Genossen und Kameraden. Ich nutzte die Freiräume, sandte mein Halbdutzend Pseudonyme aus und ging selbst an Ort und Stelle. War ich mit dem 3. Weg in der DDR nicht vorangekommen, setzte ich ihn in der BRD fort.
Als der Frankfurter Club Voltaire anfragte, ob ich zu John Heartfield etwas sagen würde, freute ich mich, den alten Bekannten aus Leipziger Zeiten am Main wiederzusehen, auch wenn's der DDR-Presse nicht behagte.
Im November 1966 ging's mit dem DGB-Bundesvorstand nach Papenburg / Ems, wo Ossietzky im KZ gefangen gehalten worden war:
Im Dezember galt es gleich in Köln gegen den Krieg in Vietnam anzutreten. Wer dagegen aufmuckte, befand sich in bester Gesellschaft.
Ach ja, und dann gab es noch im späten September 1989 Spuren der Einzeltäterschaft:
Heartfield im Frankfurter Club Voltaire, Ossietzky im KZ Papenburg, Kölner Aufruf gegen den Vietnamkrieg, Konfrontation mit „nationalen Autoren“ sind einige Beispiele für den Versuch, einen 3. Weg in jene Zivilgesellschaft zu finden, von der heute oft gesprochen wird, obwohl sie seit 1989/90 schwächelt, wo nicht verschwindet. Aus Nachkrieg wurde Vorkrieg. Nun wird gerätselt, ob schon Krieg herrscht oder erst dessen Beginn. Ohne zu zweifeln gehen die Heldenanwärter in den „Kampfeinsatz“, auch gern „Kriegseinsatz“ genannt. Ohne „Einsatz“ kein Leben. Und kein Tod. Und keine Gefallenen. Wann bietet das Fernsehen Friedrich Schorlemmer wie einst zu DDR-Zeiten den Platz, Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden? Und marschieren die vormaligen DDR-Friedensfreunde samt NVA-Bauarbeiterbataillonen jetzt so entschlossen an die Front wie sie den Krieg vor 1989/90 ablehnten? Wir sind wieder im Krieg. Wohin haben sich all die christlichen und atheistischen Pazifisten verabschiedet? Auf dem Berliner Kriegerdenkmal, das zur Erinnerung an die Gefallenen der neuen Kriege errichtet wird, sollte an erster Stelle stehen: Hier ruht das Grundgesetz. Es starb am Ekel über seine Entwertung.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 14.09.2009.
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Gerhard Zwerenz
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