Das Buch, der Tod und der Widerspruch Momentaufnahmen: Der Außenminister ein Dampfschwätzer. Der Finanzminister ein schwer angeschlagener Mann zwischen Schreibtisch, Rollstuhl und Krankenbett. Der Wirtschaftsminister ein ständiger Ausfall oder Reinfall. Im Bundeskanzlerinamt eine Eiserne Lady aus Blech wie bei Neues aus der Anstalt, wo Urban Priol sie so realistisch darstellt, dass Prof. Sauers Zurückhaltung rein politisch verständlich wird. Wer will schon tagtäglich mit dem Irrwisch Priol verheiratet sein. Das hält selbst Georg Schramm kaum aus und Schmickler wie Steimle nur ab und zu. Die vom Volk gewählte Regierung funktioniert. Unsere Freiheit in Afghanistan mit immer stärker eskalierenden Millionenkosten verteidigend, bietet sie zwischen Spree und Rhein den Euro zum Ausverkauf an. Mit Milliarden, die sie nicht hat, rettet sie Länder, die Milliarden brauchen, ihre Schuldenmilliarden zu vervielfachen. Das heißt: Es gibt keine Alternative, Unheil von einer Bevölkerung abzuhalten, die treu und brav ihre angeborenen Parteien wählt. Die CDU von wegen christlich, die SPD als Stellvertreterin, die FDP wegen der Knalleffekte im luftleeren Raum. Die Grünen, emanzipiert und separiert von einem vormaligen Joschka, der nach seinem langen Lauf zu sich selbst unauffindbar geworden ist. Gibt's noch die von allen gehasste Linke. Als sie 1933 endgültig abgeschafft werden konnte, marschierten die Deutschen siegreich bis Stalingrad voran. Davon können die Enkel und Enkelinnen heute nur noch träumen, weshalb der jüdisch-bolschewistische Riesenzwerg Gregor per Rakete demnächst auf den Mond geschossen wird, gemeinsam mit dem Sozi-Dauer-Rebellen Oskar: Gysi & Lafontaine, wer so heißt, kann nur Vaterlandsverräter sein. Inzwischen lernten auch die eingemeindeten Ostdeutschen demokratisch zu wählen. Sie dritteln zwischen Christsozialen, Sozis und roter Heimatpartei. Egal wer endsiegt, sie sind bei allen dabei. Und wenn NATO samt EURO krachend abstürzen bleibt immer noch die Wahl zwischen Ost- und Westmark. Notfalls Reichsmark. Mit der schafften es die Vorväter zur Verteidigung bis kurz vor Moskau. Man kann auch warten, bis die Chinesen da sind. Deutschland als verlängerte Werkbank der roten Gelben ist immer noch besser als am Hindukusch zu siegen und in Europa mit dem Stahlhelm in der Hand betteln zu gehen. Ich bin gegen alle diese Staatsakte. Wir lebten in kleinen Verhältnissen. Als ich gezeugt worden war, warteten meine Eltern auf die Zuteilung einer Wohnung. Stattdessen kam ich. Der Versuch, mich am Muttermund festzuhalten, um drin zu bleiben, misslang. Die Geburt fand in der Bodenkammer statt. Am Fußende des Bettes stand eine Lade, Schiffskoffer genannt, darauf ein ovaler Korb. Stand meine Mutter auf, legte sie mich in den Korb. In dem Schiffskoffer darunter warteten fast 300 Bücher auf mich. Vier Jahre lang lebte ich in der Zweizimmerwohnung der Großeltern, weil Papa und Mama in die Stadt arbeiten gingen. Ich schlief im Bett meiner Großmutter, hielt mich für ihren Mann und war's zufrieden. Nach meinem vierten Geburtstag siedelte mich die Großmutter, die ich Mutter nannte, in die Bodenkammer um. So schlief ich wieder im Geburtsbett. Am Morgen, so allein aufgewacht, öffnete ich den Schiffskoffer und entdeckte die gestapelten Bücher. Ich wusste nicht, was es damit auf sich hatte und lüge mir vor, eine Stimme sagte: Das ist dein Leben. Wer weiß denn, was Leben ist. Ich dachte, ich sei mit der Verbannung aus Mutter-Großmutters Bett gestorben. Und warum denn nicht. Das Bett, in dem ich geboren worden war, diente als Totenbett. Kinderlogik. So ist das Leben unter Erwachsenen. Mir wurde Sprache geschenkt. Im Alter von zwei Jahren nahm mich meine Großmutter-Mutter an die Hand und wir gingen ums Haus. Im Vorgarten des Nachbarn umringten Frauen einen an die Sonne geschobenen Kinderwagen mit einem Neugeborenen. Wir näherten uns. Als meine Mutter sich über das Baby beugte, verlor ich ihre Hand. Ein unbeschreiblicher Schmerz explodierte in mir. Allein, verlassen stand ich in der Welt, die Ahnung durchzuckte mich, dass es nie mehr anders werden würde. Eine Nachbarsfrau beugte sich über mich. Was ist? Was hast du? Sie lachte hell auf. Hast Angst? Du hast Angst, ja? Deine Mutter kann sich nicht mehr um dich kümmern, sie hat jetzt ein anderes kleines Kind. Siehst du? Ich sah die Gestalt meiner Mutter, vom kalten Licht umflossen, gebeugt über den Kinderwagen. Die Szene schrieb sich in mein Herz ein. Jedesmal in meinem Leben, wenn ein Verlust drohte, spürte ich den Schmerz an der gleichen Stelle. Bis es gelang, mir die dummen Worte der Nachbarin ins Gedächtnis zu rufen. Sie sprach genau aus, was Ich fühlte. Lieh mir Sprache, die ich selbst noch nicht besaß. So erinnere ich mich als Erwachsener an meinen ersten frühen Eifersuchtsschmerz. Seither quält Verlorenes mich nicht mehr. Für das, was man hinter sich hat, kann man nicht; man kann sich nur zu seinen Einsichten bekennen. Ich erwarte von niemandem etwas, was und wer er auch sei. Mit Revolutionären sympathisiere ich aus gewissermaßen natürlichen Gründen. Wahrscheinlich gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder Rebell oder Gottesknecht sein. Ganz ohne mein Zutun befand ich mich stets auf Seiten der Rebellen. Wenn die Rebellen aber gerade dabei sind, den Sieg zu erringen, beginne ich meine Koffer zu packen. Geht das nicht, richte ich mich auf schwerere Zeiten ein. Siegreiche Rebellen haben eine Anzahl unangenehmer Eigenschaften. Die unangenehmste ist ihre Verwandlung von Rebellen in Ordnungsfetischisten. Siegreiche Rebellen trennen sich wie die Schlange von ihrer alten Haut. Siegreiche Rebellen hassen nichts mehr als Rebellion. Ich habe das oft genug studieren können und weiß, es handelt sich um einen Vorgang von natürlichen, also zwangsläufigen Konsequenzen. Die erbittertsten Feinde der Rebellen sind die gewesenen Rebellen. Der beste Schutz vor der Verfolgung durch siegreiche Rebellen ist die Flucht in den Scheintod. Der lässt sich auf Teufel komm raus dementieren. Als ich bei einer der Nachtsitzungen im Hause Blochs zum ersten Mal die Geschichte vom Schüler Ernst hörte, der von Ludwigshafen aus in die Mannheimer Schlossbibliothek strebte, um in uralten Wälzern die noch älteren antiken Philosophen zu studieren, gab mir mein angeborener Pleißenrappel ein, so trocken wie widerspenstig anzumerken: Da hatt' ich's besser – geboren hautnah bei einer Bücherkiste in der Bodenkammer.
Das Buch. Das andere Buch. Es gibt zu viele Bücher, zu viele gemachte und kalkulierte Bücher. Sie halten vom Leben ab, verwässern und langweilen. Sie drücken nicht das Leben aus. Gerade in der inflatorischen Hochflut von Gedrucktem und Gebundenem wird das BUCH wieder wichtig, das geschrieben werden und gelesen werden muss und wie das Leben eines Menschen selbst ist – einmalig, unwiederbringlich, unwiederholbar, unüberschaubar, nicht restlos zu begreifen. So ein Buch ist die physische Existenz der Liebe selbst, eine Ejakulation, KOPF und BAUCH haben ejakuliert, sind aufgegeilt und ausgepresst worden. Das ist nicht Beschreibung, Schilderung, Denken, Fühlen, Angst, Glück, Tod, Leben, Vögeln, Impotenz, Blut, Krebs, Papier, das ist dies alles und noch viel mehr und wirklich der Versuch ALLES zu sein, zu werden, zu geben, das ist gänzliche Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber und gegenüber den Freunden, Feinden, Kritikern, Staaten, Ideologien, ästhetischen Wertungen, die völlige Aufhebung aller Traditionen, Formen, Verständigungskategorien, das Ende der Polemik, die Auslieferung des Ich, die gleichmütige, ungerührte Hinnahme von Missverständnissen, Strafexpeditionen, von Gewalt, Hohn und dem fantastischen Reichtum menschenfresserischer Exzesse. Das ist ein Buch, das sich und seinen Urheber ungeschützt in die Freiheit der Todeskultur, in die dampfenden Hallen der Schlachthöfe entlässt – die Stirn dem Bolzenschuss, die Kehle dem Messer geboten, dies ist mein Leib, den IHR fressen wollt, dies mein Kopf, den IHR gekocht und garniert in die Schaufenster stellt. So nehmt denn hin, Konsumenten. Ich werde zwischen EUREN Zähnen zermahlen, wandere in EURE Mägen, kreise durch EURE Adern, besetze EURE Nerven und Gehirnzellen von innen. Ich werde in EUER Sperma eingehen und EURE Nachkommen zeugen und sie aufrührerisch machen und gegen EUCH sich erheben lassen. So nehmt denn hin, Kannibalen. Die 99 Folgen und anschließenden Nachworte dieser Sachsen-Serie im poetenladen enthalten Kurzgeschichten, Essays, Vorlesungen, Gedichte, Artikel, Tagebuchnotizen, Briefe, Satiren, Polemiken, Zitate, eine Mischung, die ich in Kopf und Bauch 1971 erstmals riskiert hatte. Die Fragmente-Montage hatte schon Vorbilder. Mir ging es mehr um die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Die Brüche, die wir erlebten und durchlitten, soweit die Schmerzempfindlichkeit reichte, sollten nicht geleugnet werden. Das erforderte Versuche mit dem bisher Abgelehnten. Allen Gewohnheiten entgegen enthielt das damalige Cover außer dem Titel und Untertitel – Die Geschichte eines Arbeiters, der unter die Intellektuellen gefallen ist – weder ein Grafikkunstwerk noch ein exquisites Foto als Kaufanreiz, sondern eine melancholische Notiz vom 1.3.1971. Das schwierige Buch brachte es gleichwohl inklusive der TB-Ausgabe auf über hunderttausend Käufer. Heute fehlt es dazu an Leser-Energie, Empathie, Erfahrungsbereitschaft und existentieller Lernbegierde. Mich erstaunt heute, was ich dem Publikum damals zumutete. Selbstvergessen klopfe ich dem Autor auf die Schulter, die Berührung erst lässt erkennen, ich bin es selbst (gewesen). Zum Beispiel der Tanz mit den Dekonstrukten. Die guten Neuen Franzosen erklärten den Allgemeinheiten – Universalien – den Wortkrieg. Ich konnte 100.000 Leser ins Feld führen. Ein Kampf um Begriffe statt um Rom? Ein Kampf um Moskau, wo ein noch von Stalin traumatisiertes Politbüro sich anschickte, den Verrat an der Revolution zu vollenden. Vor der daraus folgenden Resignation sollte die Notiz auf dem Umschlag von Kopf und Bauch warnen: Am 25. und 26. Oktober 1991, kurz nach dem Ende der DDR veranstalteten Friedrich-Ebert-Stiftung, Schriftstellerverband und der Rat der Stadt Leipzig wohlgemut ihr Symposium Poetik des Widerstandes als Versuch einer Annäherung. Ich fiel drauf rein, versuchte die Annäherung, las am Abend aus Kopf und Bauch und blieb unverstanden wie am 30. Januar 1957, als ich den versammelten Genossen eines meiner Herzstücke als Gedicht servierte. Es ist in keiner Lyrik-Ver-Sammlung enthalten, kein Kunstwerk, sondern eine schlichte Botschaft, wie es hätte weitergehen können. 1957 gab es dafür verbale Prügel und Strafe, 1991 schieres Desinteresse. Am 1./2 Juli 2006 druckte Neues Deutschland das Freiheitsgedicht in ganzer Länge ab, das ja zuvor im DDR-Bereich lediglich am 1. Juli 1956 im exquisiten Sonntag erschienen war. Auf die ND-Veröffentlichung hin fand sich nicht mal ein einziger Leserbrief, so konsequent ist das kollektive Gedächtnis, das ich hiermit dementiere: Die Poetik verging. Mit ihr die Revolution. 34 Jahre später war die revolutionäre Lyrik längst vergessen, auch die Warnung von 1971 vor drohender Resignation fand nicht den erhofften Nachhall. Mein Schlusswort zur Poetik des Widerstandes (Wo blieb die tapfre Dame?) klang so: „Wir haben in unserer Tradition großartige Potentiale, die wir nicht genutzt haben. Das reicht im vorigen Jahrhundert von Georg Büchner über Schopenhauer bis Nietzsche und denen, die danach gekommen sind und davon gelebt haben. Und da soll man sich nicht ideologisch ein Brett vor den Kopf wieder nageln lassen und sagen, das sind doch Reaktionäre. Es geht nicht darum nachzuplappern, was die vorgeplappert haben, sondern es geht darum, bei diesen letzten Koryphäen unserer Geschichte, die noch nicht versaut sind, zu lernen, wie man scharf, individuell, rebellisch denken, sprechen und schreiben lernen kann. Und genau darum geht es. Dann werden wir auch wieder unbequemer in diesem Land, dann werden sie uns wieder als welche benennen, die verflucht und verdammt werden müssen, und genau das ist die Aufgabe des Schriftstellers. Es ist nicht die Aufgabe des Schriftstellers, gern gesehen zu sein, begrüßt zu sein, bei Hofe empfangen zu werden, ob der Hof nun hier in Leipzig oder in Ostberlin oder in Bonn steht, das ist völlig Wurscht. Sondern es ist die Aufgabe des Schriftstellers, diesen Herrschaften weh zu tun, damit sie aufschreien, damit sie sauer sind. Das ist unsere Aufgabe, und dahin müssen wir wieder kommen.“
Vorm Reichsgericht Dimitroff, dem man seinen Platz in Leipzig Im Nachwort 23 wurden Brechts Zeilen zitiert: Und ich dachte immer: die allereinfachsten Worte/ Müssen genügen. Wenn ich sage, was ist/ muss jedem das Herz zerfleischt sein. Um die allereinfachsten Worte nicht hören zu müssen, legen die Herzen Panzer an. Ist das beherzt? Oder Herzverfettung und Gehirnverkalkung? 1955 wurde mir die Weltbühne verschlossen. Sie erschien wöchentlich. 52 Jahre später, anno 2007 begann meine wöchentliche Kolumne im Leipziger poetenladen. Wenn das keine Kontinuität ist? Wieder schaue ich auf das Foto von 1903, auf dem die mit meiner Mutter schwangere Großmutter zu sehen ist – die Arbeiterbewegung war gerade beim Crimmitschauer Textilarbeiterstreik angekommen. Von 1903 bis 2010 sind es glatt 107 Jahre. Es ist der Zeitraum meiner fragmentarischen Berichterstattung über unser untergründiges Überleben im Bauch der Geschichte, dieser menschenfresserischen Zyklopin. Da Leipzig verlassen werden musste, galt es im neuen Umfeld bei Verlagen und Redaktionen die eigenen Worte und Sätze zum Tanzen zu bringen. Gelegenheit macht Liebe. Der Spiegel brauchte eine Rezension? Ich lieferte sie als Short Story über die Homburger Hochzeit von Ernst Herhaus oder über Hans Fricks Tagebuch einer Entziehung. Der stern wollte einen ausführlichen Text über Walter Ulbricht. Da schlug ich so heftig auf den Busch, dass der Luxemburg- Das Netz bewahrt auf und speichert. Ich denke mir eine verrückte Dokumentation aus: Eine Luxus-Ausgabe in Samt in je einem Exemplar für jeden genannten Ort im Lande, neben dem Goldenen Buch auf dem Rathaus zu präsentieren. Ich erwarte eine 20bändige preiswerte TB-Reihe für den Buchhandel und wegen der geforderten Schulbildung kostenlose Teilausgaben für den mutterländischen Unterricht. Man kann die integrierten Märchenstücke in Theatern aufführen und die Ernst Bloch zu verdankende Geheimlehre geflissentlich zur Weltverbesserung nutzen. Falls man das noch kann. Die Kulturoberlehrer sprachen von einer in West und Ost zweigeteilten Literatur. Ich lieferte die Literatur des 3. Weges, der kein Mittelweg, sondern die Suche nach einem Weg aus dem Gewirr der Holzwege ist. Der Sachse Herbert Wehner riet einst Willy Brand, er sollte regieren statt zu erigieren. Hier muss ich Herbert korrigieren. Wer nicht mit Kopf und Bauch so erigieren wie regieren kann, sollte zu Bette geh'n um in Ruhe auszuschlafen. Im übrigen kommt die Pleiße immer noch nach Leipzig. Noch ist Großsachsen nicht verloren. Als friedliche Traumlandschaft reicht es von der Wartburg bis ins Chinesische Meer. Der Westen kann sich ja gelegentlich anschließen, falls er seinen Pleiten und Kriegen zu entkommen vermag. Brecht: Die guten Leute erkennt man daran / Daß sie besser werden. Letzte Nachricht aus dem Verwunderland: Die Köche und Köhler verlassen die sinkende Merkel-Kombüse. Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 14.06.2010, geplant.
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Gerhard Zwerenz
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