Die Leipziger Denkschule
Zurückgekehrt aus Leipzig, der Stadt im Weihnachtsmarktvorbereitungstrubel, kaum waren wir vom Hotel zur Mädler-Passage durchgekommen, sind's am Fuße des Feldberg trotz 700 m Höhe 14 Grad Wärme, und das am 22. November. Seit Merkel die Erderwärmung ansagte, wurde es kälter. Jetzt signalisieren Meteorologen eine abkühlende Pause bei den steigenden Temperaturen, und schon wird's trotzdem warm. Angela setzt sich auch an der (Un-)Wetterfront durch. Das hatte sie einst im Blauhemd an den Ufern der Pleiße gelernt.
Die Folge 96 begann mit „FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller“. Inzwischen wurde der Roman, dieses Fragment aus dem Leipziger Untergrund, weitergeschrieben:
Da sitzen wir nun mit unserem großen Wissen in Europa herum. Der Sack voller Erkenntnisse ist im Keller abgestellt. Die Welt hält sich nicht an die Fahrpläne. Manchmal, hols der Teufel, vermisse ich die DDR gerade, weil sie mich aussperrte. Im Westen lernte ich das Land, dem ich einst nur knapp entkam, zu schätzen. SU und DDR irgendwo im Rücken – damit ließ sich leben. Die Herren des Kapitals und ihre Wächter waren immer etwas ängstlich, das brachte sie zur Vernunft. Gehängt zu werden fürchteten sie wie ihre Vorgänger von Nürnberg. Die Sieger von 1945 sahen bald ein, die Chose geht nicht ohne deutsche Kameraden. Jahrzehnte lang durfte ich nicht über die volkseigene Grenze. Dafür gab's Gründe. Ich setzte den Herren Genossen zu. Dachte, so eine einzelne Schreibmaschine kratzt die nicht. Als Mama schwer erkrankte und als sie es wenig später satt hatte und starb, waren wir zweimal drei Tage lang drüben bei den östlichen Disneys. Immer bestens von Geheimen bewacht, dass uns ja nichts zustieße. Sie führten Protokolle, verfertigten einen Fotoroman, da können wir heute, darin blätternd, Reiseerinnerungen auffrischen. Die Lektüre bestärkt das Gefühl der Exotik und des Verlustes. Tatsache, die DDR fehlt mir, und je länger sie zurückliegt, desto mehr. Ich würde sie gern wiederhaben. Und die Grenze zu. Nur alle zwei Jahrzehnte mal für drei Tage nach drüben und dann wieder raus aus dem Pferch und in die andere Vergangenheit. Denn die schönen siebziger Jahre im Westen fehlen mir auch. Die würde ich genauso gerne zurückholen. Mit dem Schiss des Kapitals vor dem roten Osten. Mit der aufmüpfigen Kultur, den Hoffnungen auf Emanzipation, mit den Frauen der Studentenrevolten und sexuellen Libertinagen, mit Dutschkes Predigten und Cohn-Bendits Frechheiten, mit Joschka als Streetfighter statt als Ministerfreak, der beim Talk Vergangenheit abhustet als wär's ne Grippe. Man hätte die munteren Revoluzzer bei Zeiten klonen sollen und den irrwitzigen F.J. Strauß dazu, einen Sack mit ner Milliarde drin nach Ostberlin schleppend zu Schalksnarr Golodkowski (oder so ähnlich) als Türöffner. Und keinem kam es in den Sinn, unsere tapferen Spezialeinheitskrisensoldaten nach Afghanistan zu schicken, wo damals noch die Sowjets die Birne hinhielten, bis unsere Fallschirmjäger dort heute endlich den Verkehr regeln dürfen. Ich bin ein egoistischer Scheißnostalgiker und fühle mich auch noch wohl dabei. Mindestens deshalb, weil ich wenig Lust verspüre, wegen des Aberwitzes der Politiker Trauer zu tragen. Vergessen wir doch nicht: Die Politiker kommen und gehen und wir sind, egal wo, das dumme Volk, das bleibt.
Rückblende:
Vor Kafkas Tür steht der Wartende. Wolfgang Borchert steht draußen vor der Tür. Der eine will rein und darf nicht, der andere will raus und traut sich nicht. Die Tür. Die offene Tür. Die verschlossene Tür. Vor und hinter verschlossenen Türen. Da werden Türen zu Mauern. Die Trompeten von Jericho lassen Mauern einstürzen wie Günter Schabowski, der Engel aus Jericho mit dem Lesefehler. Türen sind zum Öffnen da. Grüß Gott, tritt ein, bring Freiheit rein, grüß Gott, tritt raus, das Spiel ist aus. Vor der Tür warten. Hinter der Tür warten. Rein oder raus. Türöffner, Türrahmen, Türschloss. Wer eine Tür hat, hat auch ein Schloss. Das Schloss kommt vom Schlosser. Wer eine Tür hat, ist Schlossbesitzer. Die Frau ist das Schlossfräulein. Die Tür zum Schloss heißt Tor. Das Tor hat Torwächter. Tor zu, Affe tot? Das Tor. Der Tor. Der Tor ist töricht. Das Tor steht offen, töricht, am törichsten. Die enteigneten Schlossbesitzer verlangen vor dem Tor: Macht das Tor auf. Der Torwächter mutiert zum Torhüter. Am Brunnen vor dem Tore. Aus der Toreinfahrt reitet der Torero bis Torgau. Mach die Tür zu, es zieht. Vom Sicherheitsschloss zum Türstopper. Das Wasserschloss, Luftschloss, Schlösser die im Monde liegen, Hohenzollernschloss mit Tür- und Torschlusspanik. Das Tor hält die Tür für seine kleine Schwester. Offene Türen. Zugeschlagene Türen. Aus den Angeln gehobene Türen. Haben Türken Türen oder nur einen Buchstaben zuviel? Sarrazin fragen. Haben Türken Teppiche statt Türen? Haben Flügeltüren Flügel? Hat Sarrazin Flügel? Wie schafft er's hoch aufs Dach der Bundesbank? Tür- und Toröffner schauen dich an. Du kriegst die Tür ins Kreuz geschlagen. Ist das Kafkas Tür? Durch die Tür in den Keller. Wer hat die schönsten Leichen hinter der Tür im Keller?
Kafka vor der Tür zu Auerbachs Keller: Gehst du durch die Tür, wirst du die Schrift an der Wand finden. Was sagt die Schrift? Tat twam asi. Sagt einem Ungebildeten, was heißt das? Das bist du. Das sind Lektionen einer Leipziger Denkschule, die an der Pleiße vergessen gemacht wurde und weiter vergessen bleiben soll.
Nationales Kinderlied
Bei Köhlers war neulich Tanz Mit Ordensschmuck und Glanz, machs Fenster zu es zieht, der Krawczyk singt das Deutschlandlied. Die Hymne hat 3 Strophen, die erste für die Doofen. Herr Köhler sagte bitte, sing du mir nur die dritte. Erst kommt die 1. Strophe Dann kommt die 2. Strophe Dann kommt die 3. Strophe Die 4. Strophe ist die Katastrophe:
Deutsche Teilung – Lyrik – Lesebuch aus Ost und West, so lautete der Titel eines Buches, 1966 im Limes Verlag herausgegeben von Kurt Morawietz, Nachwort Reimar Lenz. Darin aus meiner Leipziger Phase ein Auszug aus Unablässig und einsam, hier die letzten 12 Zeilen.
Du willst nach Eger? Nimm den Weg über Lidice. Du willst nach Karlsbad? Fahr über Theresienstadt. Du suchst das verlorene Breslau? Fahr nach Auschwitz. Die Straße nach Stettin führt durchs Warschauer Getto. Am Tag, da du ankommen wirst deine Trauer darf sagen: Dies hier Dies hier war Deutschland.
Die zwölf Zeilen wurden nachgedruckt von regionalen Zeitungen wie Nürnberger Nachrichten bis zur damaligen radikaloppositionellen Anderen Zeitung, die von einem „Poem“ und „… erschütterndsten und wahrhaftigsten Gedicht“ sprach. Warum? Die 3 Strophen sind seither vergessen gemacht worden. Was ist mit einer Lyrik, die vom Herzschmerz kommend auch noch den Umweg über den nicht schmerzlosen Verstand nimmt? Das kleine Poem widme ich ganz unvergessen Erika Steinbach, die mit ihrem Vater, dem Besatzungssoldaten aus Polen vertrieben wurde. Nehmen Sie's als Trost, Frau Vertriebenen-
Aus der Leipziger Zeit stammt auch das Gedicht Die Mutter der Freiheit heißt Revolution, erschienen am 1. Juli 1956 in der Zeitung Sonntag. Ich schrieb nicht friedliche Revolution, erhoffte sie aber. Was folgt auf die Revolution? Der Anschluss. Der Anschlussverkauf. Was ist ein Gedicht? Ein vorrevolutionärer Zustand? Was ist ein Gedicht? Der Daumenabdruck einer fragilen Befindlichkeit. Dechiffriert es deine tragische Konfliktsituation oder deine lachhaften egozentrischen Eitelkeiten. Hinter die Tür geblickt. Am Türsteher vorbei. Oder davor gehorsam verreckt wie der Mann vom Lande in Kafkas Tür-Parabel. Die zwölf Zeilen tragen ihre letzte Zeile als Titel wie eine Fahne voran. DIES HIER WAR DEUTSCHLAND. Was ist ein Gedicht? Den drei Strophen fehlt das lyrische Ich. Sie sind ein Tatbestand. Lakonie als Bekenntnis. Kein Wort zu wenig und keins zuviel. Den Schmerz der Vertriebenen nutzte die Bonner Republik zur Forderung nach Grenzkorrekturen. Gegen Willy Brandts Unterzeichnung der Ostverträge liefen sie Sturm. Die Präsidentin der Vertriebenen scheut den Blick darauf. Deutschland dreigeteilt niemals? DIES HIER WAR DEUTSCHLAND: 65 Jahre nach 1945 ist jedes einzelne Wort, das über die 48 Worte in 12 Zeilen hinausgeht, ein Wort zuviel und eine ehrenhafte Selbsterkenntnis zuwenig. Der Deutschen Teilung ist überwunden? Der Rest wird auch noch gesunden? An jedem Montagmorgen setz' ich der Frau Janus eine Laus in den Pelz. Sie kratzt sich am Anus und mir gefällts. Das ist ein sanfter Witz. Kein Witz ist, was ich in der Debatte zur Sache am 29. Mai 1998 im Bonner Bundestag sagte:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den toleranten, verständnisvollen Worten von FDP-Seite fällt es nicht besonders schwer, die Linie der Toleranz und Liberalität fortzusetzen. Betrachten wir rückwirkend die Debatte über die Situation und Stellung der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland, so darf und kann ich mir nicht ersparen, mit einer Kritik an der Linken zu beginnen. Aufgeschreckt durch die Tatsache, dass vielerlei Vertriebenenverbände sehr oft revanchistische Gebietsforderungen aufstellten, ist es insgesamt gesehen der Linken nur unzulänglich gelungen, zwischen der Kritik an diesen chauvinistischen Forderungen und dem schweren tragischen Schicksal der Vertriebenen insgesamt zu unterscheiden.
(Beifall bei der PDS und dem Bündnis 90/Die Grünen sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die Antwort von Frau Steinbach lautete:
Herr Zwerenz, was die DDR und die Leistungen für Vertriebene anbelangt: Es hat in der DDR keine Leistungen für Vertriebene gegeben. Die Vertriebenen durften sich nicht einmal zusammenschließen, ihr Schicksal miteinander bereden. Sie wurden schlicht und einfach als nicht existent betrachtet. Aber heute wollen Sie uns hier vorschreiben, wie wir mit dem Thema umzugehen haben. Sie haben überhaupt kein Anrecht darauf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP. – Joseph Fischer (Frankfurt) Bündnis 90/Die Grünen: Ei der Daus!)
Meine Erwiderung darauf ist abgedruckt in Ossietzky vom 13. Juni 1998. Elf Jahre später beschirmen CDU/CSU samt FAZ noch immer ihre stellvertretende Ostvertriebene Erika:„Vertriebene sprechen Polen EU-Reife ab … Polens Parlament kritisiert Entschließung des Bundestages … Union erhöht den Druck auf FDP …“ dröhnte es gestern und dröhnt es heute aus der kohlschwarzen Frankfurter Lokalredaktion. Nietzsche: „Die Menschen erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung.„
Mit einem schrägen Blick auf das supermoderne Frankreich Sarkozys, wo Konflikte antitotalitär, kohabitär, koalitionär, familiär, außerfamiliär oder in neuen Liebesunordnungen bereinigt werden, was allen zum Glück im romanhaft verklärten Unglück gereicht, schlagen wir vor, Steinbach heiratet den Westerwelle. Oder umgekehrt. Wer danach auf Scheidung plädiert, wird ehrenhalber zum lebenslangen Flüchtling erklärt und zum Präsidenten der vereinigten deutsch-polnischen Feuerwehren ernannt.
Richtungsänderung
Im Fragebogen stand geschrieben: Was würden Sie tun, wären Sie Der Oberste des Staates? Antwort des Befragten: Ich ordnete an, ein Gewehr zu erfinden, das nach hinten schießt Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 7.12.2009, geplant.
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Gerhard Zwerenz
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