Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
Februar 2008: Ins Potsdamer Alte Rathaus hatte die rührige Rosa-
Die Vorzimmer der Mächtigen sind umkämpfte Machtzentralen und deshalb bei Aufsteigern, Konkurrenten und Geheimdiensten besonders beliebt. Oft sind es auch Startblöcke eigener Karrieren. Vor Jahrzehnten, wir wohnten in Köln, besuchte uns Fritz Schenk, der aus dem Vorzimmer des Politbüromitglieds Bruno Leuschner kam und aus der DDR geflüchtet war. Er schrieb ein Buch darüber und landete im Vorzimmer des kaltkriegerischen ZdF-
Auf der Potsdamer Tagung moderierte Ingrid Zwerenz nachmittags die Zeitzeugendebatte mit Prof. Dr. Hermann von Berg, Dr. Cay Hehner, Prof. Dr. Horst Schützler und Prof. Dr. Wolfgang Seiffert zum Thema „Die DDR im Jahr 1978 zwischen Spiegel-Manifest und erstem Deutschen im All.“ Das ist nachzulesen in Der versäumte Paradigmenwechsel, herausgegeben von Prof. Dr. Siegfried Prokop, Schkeuditzer Buchverlag, 2008. Soviel zu den Fakten. Da aber im Vorfeld der Tagung schon über die Aussage Marx und Murx geblödelt worden war, ist es mir ein unausweichliches Vergnügen, hier einige Sätze der mir nicht ganz unbekannten IZ zu zitieren, die sich wohl der Technik des diplomatischen Dampfablassens verdanken: „Vorhin ist im Zusammenhang mit Hermann von Berg bereits die Verballhornung von Marx zu Murx genannt worden. Dazu gehen wir mal an die Quelle. Kurt Tucholsky schreibt 1932: ›Das Blatt der Niedersachsen, Nat.-Soz. Tageblatt für den Gau Hannover Ost bringt in seiner Nummer vom 24. Februar 1932 einen Beitrag: ‚Kurzer Abriss der National Ökonomie von Karl Murx, staatlich prämierter Nationalkomiker'.‹ Der Beitrag ist gestohlen, kommentiert Tucho. ›Er hat hier unter derselben Überschrift am 15.9.1931 gestanden und war damals von Kaspar Hauser gezeichnet. Stehlen – sich die deutsche Nationalität ermogeln – lügen – stehlen: es sind arme Luder.‹ resümiert Tucholsky.
Dies zur historischen Einordnung dieses Begriffs, wobei ich einräume, es ist ein bisschen Holzhammer statt Florett, wie man es sonst bei Tucholsky gewohnt ist. Doch zum Trost für alle, die jetzt darüber enttäuscht sind, was Deutschlands berühmter Satiriker hier geschrieben hat, ebenfalls aus dem Band von 1932 noch ein kurzes Tucholsky-Zitat: ›Ich bin kein Kommunist, aber man könnte einer werden, wenn man den geistigen Zustand der europäischen Bourgeoisie betrachtet.‹ Zitatende, passt heute genauso.
Nun also Hermann von Berg. Er ist geboren in Mupperg, Kreis Sonneberg in Thüringen. Im Internet ist eine Menge über Sie zu lesen, wie sich das gehört. Am schönsten finde ich die Bezeichnung DDR-Geheimdiplomat, so werden Sie annonciert. In diesem Beruf soll es ohnehin keine Plaudertaschen geben, dort ist man aufs Verbergen eingeschworen. Sie haben sich auch relativ lange daran gehalten. Ab 1978 dann nicht mehr. Es ist heute vormittag schon von dem berühmten Spiegel-Manifest mehrfach die Rede gewesen. Doch es ist hochinteressant, dass wir jetzt sozusagen den Hauptschuldigen selbst dazu hören können, bitte Herr von Berg.
Von Bergs Rede rief mir die zwanzig Jahre zurückliegende Kölner Rundfunksendung ins Gedächtnis, als wir nebeneinander vorm Mikrophon saßen. Der Herr Ex-Genosse ist ein hochengagierter Marxtöter, dem es ernst ist. Im Stockwerk unter unserem Konferenzsaal fand eine schräge Theaterprobe statt: Marx als ein Karl von heute. Ich bin auf der Treppe unterwegs, da kommt mir ein smartmoderner Schauspieler entgegen, schnellt in den Saal und beginnt zu schimpfen wie ein Rohrspatz. Ich höre angenehm gekitzelt zu. Später besorge ich mir den Text. Von Marx erschien demnach kürzlich eine knappe Analyse, verfasst beim letzten Erden-Urlaub, und das sieht so aus: Ansprache im Altersheim: Eh Euch der Krebs auffrisst, tut schnell noch was für diese schöne Welt. Bald wirds zu spät sein, durchs Leichentuch dringt keine scharfe Tat. Und Eure Koffer bleiben hier.
Den Kopf gesenkt, die Hände tief im Safe, die Ganglien wohlverschnürt, das Kirchensiegel überm Herzen, den Arsch voll Hämorrhoiden, das ist, mein ich, kein Leben, das sich sehen lässt.
Eh Euch der Krebs wegleckt, tut schnell noch was für diese Welt und die noch allen Jammer vor sich haben. Ein Schuft, wer sich beiseite stiehlt. Im Sarg da ist kein frohes Wohnen. Man sollte hier die Luft mit viel Genuss und keinmal ohne Folgen schlucken.
Nehmt Zyankali doch, wenn Ihrs nicht schafft beizeiten abzutreten Geköhlert & verschrödert undsoweiter.
Ansprache im Säuglingsheim: Dies ist ein Ort des Anfangs, Mensch, so nutzt doch die Gelegenheit, die Windeln ziehen an im Preis und was den Kinderfräuleins rinnen tut, das ist der Schweiß. Die früher vor Euch hier zur Erde fuhren, waren arm im Blut, mit Mägen groß wie Häuser und voll fauler Köpfe. Man rochs, das Euch vorangegangne Volk saß übel hier auf vollgeschissnen Töpfen. Setzt Brillen auf, besorgt sie zeitig Euch und Rohre gut zu hören, so lang es mit Rezepten geht. Die vor Euch kamen waren schwach an Ohr und Aug und ausgestattet auch mit vielverbotnen Schläuchen. Und ihr Gehirn verdauten sie in zentnerschweren Bäuchen. Dies ist ein Ort des Anfangs hier, so fangt nur an, nutzt hurtig die Gelegenheit, bevors zu spät ist, morgen, wenn ihr geköhlert & verschrödert undsoweiter.
Ansprache im Standesamt: Ihr habt Lizenz, Ihr könnt nun bocken, und dass Ihr hier seid, sagt, Ihr habt Lizenzen nötig. Auf dass der Gott, auf den man Euch vereidigt, die Welt auch gegen Euch verteidigt: Das wird von jetzt an nötig sein: Der Staat steht vor der Tür Spalier: Den Spermatozoen wird Salut geschossen: Auch dampft ein Ei schon vor Befruchtungseifer, die sind ganz hin- und hergerissen von nichts als Pflichtgefühl und selbst den Genen glänzt das rechte Aug, dieweil das linke wässrig rinnt. Das macht der Appetit, der kommt Euch hoffentlich nicht bloß beim Fressen. So geht denn heimwärts jetzt und sorgt für Nachwuchs, bevor der Speichel Euch gerinnt. Da nehmt noch wahr die liebe Lust, bevor sie auf Pantoffeln naht und wieder geht und ihr nichts merkt. Wer ist das bloß gewesen? Nun ist er fort! Ihr Braven! Das Kino zeigt, was Liebe ist: Aus Langeweile miteinander schlafen. Geköhlert & verschrödert, vermerkelt und auf Ewigkeit vergöttert wie im Rinderstall der Mist anfällt.
Genug jetzt mit der schrägen Schülersprache, dem leisen Kauderwelsch der Kids, das bis in hohe Sphären dringt, weil das Panoptikum ein Loch hat für den Abfluss der Gemeinheit von Natur.
Mehr Licht. Das stammt von Goethe. Damit verstarb er.
Die Theaterprobe mit der Rede des fiktiven Marx wurde mir ebenso zu einem Potsdamer Fixpunkt wie unser Kolloquium im oberen Stockwerk über Marx und Murx. Einigermaßen amüsiert las ich kürzlich den Dokumentenband. Schließlich gehört der Marxfresser von Berg zu einer Episode meiner Kölner Vergangenheit, die jetzt Jahrzehnte zurücklag. Der Versuch des jungen Schauspielers, old Marx in moderne Wütigkeiten zu überführen klingt mir wie ein Kontertext in die Reden der versammelten Intellektuellen hinein. Wenn der Buchtitel Spiegel-Manifest und Erster Deutscher im All – die DDR im Jahr 1978 lautet, ist damit die BRD ausgelassen, obwohl sie ja mitbetroffen und behandelt wird. Doch der inzwischen von der Bonner Teilrepublik zum vereinten Berliner Deutschland eskalierte Staat nimmt seine östliche Teilgeschichte sowieso nur zu politpolemischen Zwecken zur Kenntnis. Nun ja, Marx überlebte alle seine Feinde. Sie enden meist selbstverantwortet. Der Marx-Monolog des Mimen aber war der Versuch, heutige Konflikte provokativ zu verbalisiern. Die Marx-Feinde herrschen ringsum in allen Medien und haben den Karl zum Fressen gern – Kannibalen mit staatlicher Lizenz.
Im Osten fand das Kolloquium mehr Resonanz. Neues Deutschland hatte schon eine Hermann-von-Berg-Aktivität aus dem Jahre 1997 vermerkt: „Die gewendete Wende – Kohl hat die Einheit verspielt. Jetzt hieß es: Nix mit Paradigmenwechsel. Dazu Otto Köhler: Mein Berg – kein Spleen. Die junge Welt raubte Brandenburg gar einen Buchstaben: Sprengstoff in Bandenburg. Objektiver der Rundfunk: Störmanöver Deutsche Einheit – die Spiegel-Affäre Ost.
Das war's. War's das? Das war es nicht. Siegfried Prokop auf dem Kolloquium direkt zur Sache: „Erich Honecker hat nach der Wende bedauert, dass die DDR sich nicht nach chinesischem Vorbild gerichtet hat. Ein Paradigmenwechsel der Politik in der DDR hätte es einfacher gehabt. Es hätte an die erfolgreiche Wirtschaftsreform des NÖS und im Felde der Politik an die Reformkonzepte von 1956 (Janka, Just und Harich) bis 1977/78 (Bahro, von Berg und Behrens) angeknüpft werden können. Wirtschaftlichen Rückhalt hätte die DDR auch von der Regierung Helmut Schmidt bekommen, dem vorschwebte, dass DDR und Bundesrepublik in Milliarden-Größenordnung auch auf Drittmärkten kooperieren. Man sage nicht, das sei angesichts der Einbindung der DDR in den RGW und die Warschauer Vertragsorganisation (WVO) nicht möglich gewesen. Gomulka, Mitte der fünfziger Jahre, und Walter Ulbricht in den sechziger Jahren hatten schon ihren Eigensinn gegenüber sowjetischen Vorschriften demonstriert und teilweise auch durchgesetzt.“
Der ND-Bericht vom 19.2.08 über das Potsdamer Kolloquium endete mit einer witzigen Anekdote über Die emsigen Ärzte, hier ist sie: „Last not least wagten sich die Konferenzteilnehmer auch an eine Diagnose des gegenwärtigen Kapitalismus. Von Agonie und Koma war die Rede, von Zuständen, die nach Revolution schreien Den Einwand, dass eine solche kaum denkbar sei In Deutschland, wo es doch nach wie vor eine Sozialdemokratie gebe, die Arzt am Krankenbett des Kapitalismus spiele, ergänzte der als Zeuge für die Beachtung bzw. Nichtbeachtung des Spiegel-Manifests in der westdeutschen Linken geladene Schriftsteller Gerhard Zwerenz. ›Ja, und solange es auch eine Linke gibt, die sich als Arzt am Krankenbett der Sozialdemokratie versteht.‹“
Mein Thema in Potsdam hieß: Ex-Genosse – DDR-Renegat und trotzdem links? Ich sagte: Das Fragezeichen ist von mir und dennoch fehl am Platz. Ex-Genosse und Ex-Kommunist ja, DDR-Renegat nein. Der Renegat ist ein Glaubensabtrünniger. Mein Glaube war vorher und nachher identisch. Ich flüchtete aus der DDR, um Verhaftung und Gefängnis zu entgehen. Die DDR wollte ich erhalten, fürchtete aber, ohne Reformation und Paradigmenwechsel werde sie untergehen Trotzdem links ist insofern ungenau, weil ich in der Bonner Republik zwar Ex-Kommunist, aber kein Ex-Linker war. Für mich war Stalin der Revisionist und Renegat. Dafür hatte es objektive Gründe gegeben.
Mit Lenin starb sein Projekt der Weltrevolution samt Wartezeit auf die Revolution in Deutschland. Indem sie ausblieb, war Trotzkis permanente Revolution gegenstandslos geworden und er selbst ohne Chance. Also stieg Stalin auf und mit ihm sein Sozialismus in einem Land, der 1945 zum Sieg über Hitler und 1990/91 zum Übergang in den asiatischen Kapitalismus führte.
Am 15.12.1935 schrieb Tucholsky an Arnold Zweig: „Man muss von vorn anfangen – nicht auf diesen lächerlichen Stalin hören, der seine Leute verrät so schön, wie es sonst nur der Papst vermag – nichts davon wird die Freiheit bringen. Von vorn, ganz von vorn.“
Über Tucholsky merkte ich 1978 an: Von den revolutionären Linken, den Kommunisten, trennte ihn der Unglaube an die Diktatur des Proletariats. Er sah in Stalin das Gegengewicht zu Hitler. Doch nicht die Inkarnation des Sozialismus.“
Soviel zum Renegatentum und dem Trotzdem links .
Brecht hatte schon 1934 von „Murxisten“ gesprochen. Es war die Zeit der Moskauer Schau(-er)prozesse, die von den Genossen noch 1956 nicht zur Kenntnis genommen wurden, so wie unsere Sozialdemokraten heute noch nicht Noskes Bluthund-Funktion und ihr eigenes Elend zur Kenntnis nehmen wollen.
Der jugendliche Marx-Darsteller von den Theaterproben im unteren Geschoss ließ sich auf dem Platz neben mir nieder. Thema des Kolloquiums ist Marx oder Murx, erläutere ich – falls Sie was lernen wollen. Und er: Was heißt hier lernen? Ich bin der Marx! Tatsächlich? Ich schaue genauer hin. Unverkennbar, es ist der Marx-Nischel, direkt aus Chemnitz angereist, wo sie seinen Kopf gerade mit Planen verhängen wegen irgendwelcher modernen technischen Installationen. Er steige gern vom Sockel, erzählt mein Nachbar, treffe sich zur Mitternacht mit Leo Bauer, Walter Janka, Stefan Heym, Hermlin und anderen linken Chemnitzer Juden, verfolgt, geflüchtet, ausgewiesen. Man streite tüchtig, doch das wäre ihm ja nichts Neues. Klären möchte er hier nun seine Identität – sei er nun Marx oder Murx oder beides? Genosse Karl, staune ich, Sie bewerkstelligen, obwohl aus Trier, Köln und London, ein waschechtes Sächsisch? Und er: Stehen Sie mal jahrzehntelang in Chemnitz auf der Straße, inmitten der Eingeborenen, da wandle sich die Dialektik unweigerlich zum Dialekt. Und Sächsisch ist eine Art von Jiddisch, das ja ausstirbt. Wie er das in seiner fröhlichen linksrheinischen Lebensart, wenn auch sächsisch angehaucht, so von sich gibt, begreife ich, weshalb die Sachsen immer weniger werden – keine Perspektive, Geburtenverweigerung, Ausreise, um der Verfolgung wegen unpassender DDR-Vergangenheiten oder früherem Widerstand im Dritten Reich zu entgehen – welches Volk entflieht da nicht in die Diaspora. Ich will das dem Nischel gerade verklickern, da fällt mir ein, eben wurde per Umfrage sächsisch als unbeliebtester deutscher Dialekt herausgefunden. Und die Nähe zum Jiddischen? Wenn das dem Henryk Broder zu Ohren kommt, macht er sofort Antisemitismus draus. Genosse Marx, sage ich, freuen Sie sich, neuerdings gibt's in Deutschland eine Linkspartei mit 10–12 % Wählerstimmen. Das ist schon eine schöne Differenz zum Reichstag im Dritten Reich und zum Bundestag in Adenauers Zeiten. Ich wollte noch mehr sagen. Doch der Sitznachbar war von hinnen. In Chemnitz wird er schließlich gebraucht. Dort kriegt er die meisten Stimmen.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 12. Januar 2009.
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Gerhard Zwerenz
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