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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 14. Nachwort

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  14. Nachwort

Kampf der Deserteure

  Heinz Keßler:
Deserteur, General,
Minister, Häftling, Rentner
Vor einigen Monaten wurde hier General Heinz Kessler erwähnt, letzter Vertei­digungs­minister der DDR, der als junger Wehr­machts­soldat schon im Juli 1941 zur Roten Armee desertierte, was ich als eine tapfre und höchst ehrenwerte Tat respektiere. Dass der gealterte, inzwischen 90jährige Kessler im Rückb­lick heute den Moskauer Parteitag von 1956 als Unter­gangs-Beginn einschätzt, zeigt, wie tief der kommunis­tische Urglaube in Kopf und Herz verankert sein kann. Allerdings kam dem Kreml-Marxismus unter Stalin die Zeit-Achse abhanden. Die Widerstandsleistung gegen Hitler und seine Hunnen führte zur Erschöp­fung, bis der letzte rote Zar Gorbi zu den Sozis überlief, obwohl deren Zeit gerade abzulaufen begann. Die Verzweiflung Kesslers ist nach­voll­ziehbar. Doch gehen wir der Reihe nach. Hier die DDR-Generals-Passage aus dem 8. Nachwort: Der letzte DDR-Ver­tei­di­gungs­minister und General Heinz Kessler hält den 20. Moskauer Parteitag von 1956 mit Chruscht­schows Rede gegen Stalin für einen revi­sionis­tischen Anfang der Nieder­lage. Kessler war im Juli 1941 von der Wehrmacht zur Roten Armee desertiert. Leider folgten ihm die deut­schen Soldaten nicht. Wenn die Deutschen einig sind, ziehen sie keck in den Krieg. So brachten sie bis 1945 fünfund­zwanzig Millionen Russen den Tod. Kesslers Einschätzung Chruschtschows ist verständlich, aber verkehrt. 1993 verurteilte ihn das Berliner Landgericht, bestätigt vom BGH, zu sieben­einhalb Jahren Haft wegen seiner „unmittel­baren Täter­schaft“ als DDR-General. Warum erhielten die Wehrmachtsgeneräle für ihren Angriff von 1941 keine Strafe wegen „unmittel­barer Täter­schaft“? Die Geschichte ist unge­recht. Die Herren siegten 1941, wurden 1945 besiegt und siegten 1993 mit Urteilen wie dem gegen Kessler, der sich 1941 als Wehr­machts­soldat gut und tapfer entschieden hatte. Als DDR-Minister und General handelte er auf sowje­tische Weisungen hin richtig, im Weltmaßstab jedoch falsch. In seiner Ein­schät­zung erkennt er die strategischen Fehler von KPdSU und SED auch heute noch nicht. Moralisch-ethisch aber steht er haushoch über den befehls­habenden Generälen, die 1939 und 1941 in den Ver­nich­tungs­krieg ostwärts zogen.
Außer diesem Text zu Kessler gibt es noch einen zweiten, der etwas weiter zurückliegt und am 12. Juli 1989 als taz-Leitartikel erschien:

Um die Fakten zu verdeutlichen wurde hier der gesamte taz-Text zitiert, obwohl sich nur wenige Zeilen auf Heinz Kessler beziehen. Im Ganzen aber steht nichts Geringeres als das Menschenrecht Totalverweigerung zur Debatte. Es geht um den Pazifismus, dem die medial soufflierte und auf­gehetzte Volks­stimme so borniert wie bar jeder Zivil­courage nur das Prädikat naiv zuzubilligen versteht. Es geht um die Wurst, wie wir den Kopf mal nennen wollen.
Zwischen Kesslers und meinem Leben gibt es gewisse Parallelen. Er deser­tierte als 21jähriger nach drei Wochen Ostfront am 15. Juli 1941 von der Wehrmacht zur Roten Armee. „Überlaufen“ nennt das die FAZ am 26.1.2010 in der Personalie zu Kesslers 90. Geburtstag. Die Herr­schafts­sprache verrät des Ungeistes Kind. Kessler deser­tierte als Kommunist und kehrte insofern heim. Ich war 19 Jahre alt, als ich im August 1944 zur Roten Armee, wie die FAZ das nennt, „überlief“. Die Ostfront hielt ich wie Kessler nur ganze drei Wochen aus. An der italienischen Front war mir die Desertion missglückt: „Ich schaute zurück zu den Kameraden mit dem Maschinen­gewehr. Da gab es eine Bewegung, und als ich wieder zu Eberhard hinsah, stand er da, hatte seine Knarre weggeworfen, hielt die Hände hoch, und vor ihm stand ein riesenhafter Kerl. Er meinte es also doch ehrlich, dachte ich verwundert. Er hatte sich vorgenommen, sich zu ergeben, jetzt ergab er sich tatsächlich. Das ist eine gute Gelegenheit, dachte ich und wollte meine Knarre auch wegwerfen. Da erhob der riesenhafte Kerl dort vor Eberhard seine Waffe, stieß sie vor und rammte Eberhard das Bajonett in den Hals. Ich hörte einen krächzenden Laut, etwas Rosarotes sprang aus Eberhards Hals. Fast hätte man denken können, es sei Leucht­spur­munition. Aber das war es nicht. Es war Eberhards helles Blut. Und Eberhard fiel nicht zu Boden, aus irgend­welchen Gründen blieb er stehen, während der Amerikaner sich bemühte, sein Bajonett wieder aus Eberhards Hals heraus­zuziehen, wobei er Eberhard nun mit Tritten traktierte. Ja, dachte ich, man rennt eben seinem Feind das Bajonett in den Bauch oder zwischen die Rippen, aber nicht in den Hals. Und für diesen sträf­lichen Leicht­sinn wirst du nun zahlen. Der Ameri­kaner versuchte noch immer, sein Bajonett heraus­zubringen; es knarrte und krächzte. Vielleicht hatte sich das Bajonett in der Wirbel­säule verfangen. Immerhin sank der Tote nun zu Boden. Jetzt trat der Amerikaner seinem Feind, ganz wie er es gelernt hatte, auf die Brust und wuchtete sein Bajonett heraus. Das hatte zu lange gedauert. Mir war klar geworden, was einem blüht, der sich diesem Gemüts­menschen ergibt. Ich legte an, sah seinen massiven Schädel in der Verlängerung von Kimme und Korn und drückte ab. Wo dem Amerikaner ein Stück Ohr unterm modisch­schräg aufgesetzten Helm hervorlugte, klaffte ein Loch, aus dem eine Blutfontaine heraus­spritzte, wie vorher aus Eberhards Hals. Er sank in die Knie, legte seine Knarre vor sich auf die Erde, verbeugte sich in Richtung Osten, so halb kniend hielt er sich. Ich ging hin, hielt ihm den Karabiner an den Hinter­kopf und drückte ein zweites Mal ab. Es gab einen dumpfen Knall. Mir sprangen Schädelknochen, Gehirn­masse und Fleisch­fetzen ins Gesicht, ich konnte nichts mehr sehen, warf mich auf den Boden, griff nach Gräsern, wischte mir das Zeug aus den Augen. Endlich brach ich Eberhards Erken­nungs­marke ab, steckte sie ein, stapfte zurück.“

(Vergiss die Träume deiner Jugend nicht, Rasch und Röhring Verlag, Hamburg 1989)

Zurück zu unserem braven Genossen Ex-General Kessler, der ergrimmt ist über die sieg­reichen West-Generäle, die erst Hitlers- und dann Adenauers Gehilfen waren und deren Nachfolger Kessler ver­urteilten und einsperrten. Sauer ist er auch auf seine Sowjet­kame­raden­genossen. Von Gorbatschow z.B. ergin­gen bis zuletzt Militär- und Grenz­schutz­befehle, die der General und Minister in der DDR gehorsamst befolgte, während Gorbi die DDR bereits an Helmut Kohl verhö­kerte. Seither gilt das ehemalige Ober­haupt der Sowjet­union weltweit als Friedens­held und Kessler als kriminell. Dabei war Michail Sergeje­witsch G. inzwischen schlank­weg Sozialdemokrat geworden und Kessler der getreue Stalingenosse von einst geblieben. Nein, ich nehme alle Ironie zurück. Der Fall ist kein Einzelfall, sondern tragisch. An diesem Punkt endet die Parallele zwischen Kesslers und meinem Leben.

Ekkehart Rudolph
Aussage zur Person
Erdmann Verlag

 
Aussagen zur Person – Zwölf deutsche Schriftsteller im Gespräch mit Ekkehart Rudolph – Horst Erdmann Verlag Tübingen und Basel 1977:
„Nach viereinhalb Jahren, als ich gerade einen Anfall von Lungen-Tbc hatte und Blut spuckte, kam eine Kommis­sion in unser Lager. Es wurde eine Reihe von Leuten auf­gerufen und ich war dabei. Das waren Gefangene, die aus dem Prole­tariat stammten und in der Wehr­macht keinen höheren mili­tärischen Rang inne­gehabt hatten. Bei mir kam noch dazu, dass ich Deser­teur war.
Rudolph: Was war das für eine Kommis­sion – eine deutsche?
Zwerenz: Nein, eine hohe Offi­ziers­kommis­sion der Roten Armee, die aus Generälen und Obersten bestand. Die hat sich deutsche Kriegs­gefan­gene vorführen lassen, die ent­sprechend aus­gewählt waren. Man wusste nicht, wofür man ausgewählt wurde, aber die Fragen, die gestellt wurden, haben mir gezeigt, dass es offenbar um einen Rück­transport nach Deutschland ging. Und da habe im mich ent­sprechend verhalten. Im habe verschwiegen, dass ich Blut spuckte. Und so sind wir nach einigen Tagen abge­sondert worden, in ein anderes Lager transportiert. Dort wurde uns eröffnet, dass wir der Kern der künftigen Volks­armee sein würden; wir würden zur Volks­polizei in die DDR kommen, würden aber dort nicht normalen Polizei­dienst tun, sondern eine neue Armee gründen: die prole­tarische Armee der DDR.
Rudolph: Wie hat das denn auf Sie gewirkt, nachdem Sie doch durch die Erfah­rung des Krieges jede Art von Wehrdienst satt haben mussten?
Zwerenz: Das war ein Schock. Das war ein schwerer Schock, mit dem ich eigentlich nie richtig fertig geworden bin.
Rudolph: Aber Sie wollten gesund werden und sahen da eine Möglich­keit?
Zwerenz: Ich wollte überleben. Wenn man viereinhalb Jahre in Gefangen­schaft lebt – bei mir war es vom 19. bis zum 23. Lebensjahr –, dann ergreift man jede Möglich­keit, die einem geboten wird, um wieder frei zu sein.
Rudolph: Wie lange waren Sie bei der Volksarmee?
Zwerenz: Ich selbst bin bei dieser Kerntruppe, aus der dann die Volks­armee später hervor­gegangen ist, nur wenige Monate gewesen. Ich habe sofort versucht, von dort wieder wegzukommen. Etwa ein halbes Jahr war ich in der Kaserne in Zwickau, einer ehe­maligen Ingenieur­schule. Dann erreichte ich, dass ich zur normalen Volks­polizei versetzt wurde.“
Das Verhalten der Sowjetführer bis zum Verrat fand im SED-Politbüro seine Mitläufer. Harry Nick am 20.1.2010 in Neues Deutschland auf das Ende der DDR zurückblickend: „Die DDR-Führung tauchte einfach ab, ließ ihre eigenen Leute vor Ort … einfach im Stich … Woher rührten Abneigung und Unfähigkeit zu wirklichem Dialog mit dem Volk? Ihre Ursachen waren systemischer Na­tur …“
Nur einen Tag später, am 21.1. lautete eine ND-Schlagzeile: „Absturz der Götter – Vor 20 Jahren wurden Mitglieder und Kandidaten des einstigen Politbüros aus der Partei ausgeschlossen …“ Der Bericht ist so distanziert wie niederschmetternd. Eine Zwischenüberschrift konstatiert: „Mitglieder waren politisch entmündigt“ – das ist nur die halbe Wahrheit. Um die andere Hälfte drücken wir uns gern herum. Sie lautet: Die Mitglieder ließen sich nur zu gern entmündigen. Und das nicht etwa, weil sie rotlackierte Faschisten waren, wie der schwarzlackierte SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher einst mit dem Geist Noskes im Bunde schimpfte.

Stefan Wachtel
Delikt 220
Bestimmungsort Schwedt
Greifenverlag 1991

 
Seit einiger Zeit wird in den Medien um Pla­giats­vorwürfe gegen Uwe Tell­kamps Roman Der Turm ge­strit­ten. In diesem Zu­sammen­hang werde ich ange­sprochen auf Stefan Wachtels Gefängnis­tage­buch – Titel Delikt 220 – Bestim­mungsort Schwedt, eine vergrif­fene Schrift, die Tellkamp nicht ganz unbe­kannt geblieben sein dürfte.
Wachtels Auf­zeichnungen wurden 1991 als Original-TB publiziert und ich äußerte mich darüber: „Stefan Wachtels schmaler Erst­ling Delikt 220, im Greifen­verlag zu Rudol­stadt erschienen, berichtet auto­bio­graphisch vom existen­tiellen Wider­stand des jungen Gefan­genen. Sätze, genau und kühl. Erfin­dungen so wenig wie im Lenz, die Poesie wie mit dem Skal­pell aus dem Inneren des Äußeren hervor­geholt. Ich tausche gern 100 mode­deutsche Weiner­lich­keiten gegen diesen einen glasklaren gescheiten Exis­tenz­befund. Das wurzelt im selben Boden wie der junge Büchner.“
(Rede zum Alternativen Büchnerpreis, Darmstadt 1991)
Das nur im Format schmale Buch enthält weder Ideo­logie noch Politik noch wütende oder larmoyante Beschwer­den. Es konzentriert sich ganz auf die Sprache als Signal einer au­then­tischen, fatalen Erleb­nis­welt. Jedes Wort weiß, was es sagt. Lakonie als Kunst­form verhindert das mas­sen­haft Abge­brauchte im Zeitalter welt­weiter Abstra­fungen. Nichts davon in diesem kleinen insurgenten Tagebuch. In einer kurzen Nach­bemerkung versuchte ich meine Lese­freude auszudrücken:
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Buch-Rückseite
Nachbemerkung von GZ

 
„Ein Wort danach

Hier spricht einer ohne zu erfinden reine Poesie der Wirklichkeit, die sich immer erneut selbst erfindet. Er steht ihr fremd gegenüber und ist doch gezwungen, sie stets beim rechten, genauen Namen zu nennen. Begonnen hat diese Krankheit in der Uniform des Unter­offiziers­schülers, in der sie drinnen steckte wie eine Kleiderlaus. Der künftige Obersoldat sagte Selbst­ver­ständ­liches, das ihm die Anklage des Unge­heuer­li­chen vor dem Militärrichter einbrachte. Man schneidet den Mann, den seine Sprache übermannte, aus Uniform und Hoheitszeichen heraus und verur­teilt ihn zum Studium der Haftzelle. Doch die Kleider­laus spricht weiter aus dem Menschen­körper, obwohl dem ganz und gar nicht geheuer ist: „EHRE UND VATERLAND. Ich habe kein Herzklopfen. Es kommt mir einfach nur merkwürdig vor ... Die Wachsam­keit mußte ver­kommen zur Denun­ziation. Warum soll sie ein anderes Schicksal haben als die Revo­lution selbst? ... Wer hat die Wirklich­keit auf dem Gewissen?“ So kann nur eine wider­spenstige Kleiderlaus höhnen. Sie muß geknackt werden. Der GEFANGENE bekommt den Titel HÄFTLING verpaßt. Er war immer Mit-Glied, auch hier in der Zelle: „Ich mach mit.“ Was sonst? Etwa über die Ostsee schwimmen? Aber nein: INHAF­TIERTER WACHTEL. ICH TRAGE EINEN TITEL.“ Noch in der Niederschrift spricht die Laus widerspenstig aus ihm heraus. In der Kurz­bio­grafie des Inhaftierten a. D. lese ich, er sei Diplom-Sprech­wissen­schaft­ler. Das mit dem Diplom gibt mir zu denken: Wie viele Profes­soren, Doktoren, Diplome, Diploma­ten produzierte das System. Lauter abgelegte Prüflinge. Alle haben bestanden. Mindestens als staatlich geprüfte und aner­kannte lnsassen. Erhält einer sein Diplom nach dem Studium des fünf­monatigen Straf­arrests? Ich erkenne den Titel nach verglei­chenden Studien an, denn die Straflager in Ost und überfüllten Gefäng­nis­uni­versi­täten in West und Süd machen im großen Kollektiv das Ver­gessen zur Pflicht: War da etwas? Ist da etwas? Aber nein. Nichts ist gewesen, nichts ist. Nichts soll sein und gewesen sein. Die sprach­losen Gefan­genen, in GEGEN­ÜBER­STEL­LUNG mit der Wahrheit, werden zur Lüge verurteilt und nicht anerkannt. Die Täter von gestern treten umgeschminkt als Opfer an. Die Opfer von gestern werden der Lüge von heute geopfert. Wende ist. Nun wendet euch.
Stefan Wachtel, der Sprech­wis­sen­schaft­ler, fragt naiv: Wer hat die Wirk­lich­keit auf dem Gewissen? Niemand meldet sich. Also spricht die Sprache aus unver­stellter Erfahrung heraus, was Sache ist, Seele, Schmerz, Unge­heuer­lich­keit Die Sprache spricht ganz ohne Sprech­erlaubnis. Bei Dostojewski hieß das Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. Bei Gott, König, Vaterland, Politbüro und deutscher Zwei­einigkeit, hier kann wieder einer die Sprache nicht halten. Was soll bloß aus so einem werden, der weder verstummen noch in Sklaven­sprache flüchten kann. Die Leute werden sagen: Selber schuld. Und sich selber gar nicht meinen.“
Mit dem Leidens­genos­sen Stefan Wachtel kommt mein Deser­teurs­kamerad Heinz Kessler, der spätere General und Minis­ter wieder ins strate­gische Spiel. Wachtel brummte ein paar Monate in jenem Militärknast ab, dem der General Kessler ganz oben vorstand. Ich will nicht Kesslers und meine Fahnenflucht und die anschlie­ßenden Jahre in sowjetischer Gefan­gen­schaft gegen Wachtels zum Glück kurze Zeit in Schwedt aufwiegen. Fest­zustellen ist, die DDR-Volksarmee führte keine Kriege. Ihre Waffen wurden nach Auflösung des Staates in alle Welt verkauft und verschoben. Dort helfen sie Krieg führen. Meine eigene teure pazifistische Schlussfolgerung gilt im vereinten Deutsch­land noch nicht wieder wie früher als Straf­tat­bestand, sondern als Naivität. Und so schießen und strafen sie weiter. Vielleicht sollten der Ex-General Kessler und der Ex-Obergefreite Zwerenz sich mal darüber unterhalten, was sie, also wir falsch gemacht haben. Schließlich wurden wir beide aus der Partei raus­geschmissen, ich etwas früher – 1957 – und Kessler später – 1990. So waren wir alten Fahnen­flüch­tigen wieder fahnenlos vereint. Vielleicht könnten wir auch Stefan Wachtel dazu einladen, der ja seit dem Erscheinen seines Tage­buches zwei Jahrzehnte älter geworden ist. Wir wären dann ein 90jähriger, ein 85jähriger und ein 50jähriger, die ganze Junge Garde von Deserteuren – nun ja, Stefan desertierte in die Freiheit des Wortes, Kessler in die hohe Generalität und ich in den naiven Pazifismus. Und ein jeder hat einiges zu vergessen:
Ohne Abschied (1957)

Ich habe keinen Titel am Namen
und keinen Orden auf dem Gewissen,
mein Vater war nicht Graf noch General,
und Freitag abend badeten wir in der Holzwanne.

Als Soldat war ich zufällig einmal tapfer
und meist verlaust.
Ich wurde verwundet, am Arm, am Bein und am
Vaterland

Als der Krieg aus war, glaubte ich, er sei aus.
Später sah ich meinen Irrtum ein und studierte ihn,
das heißt Philosophie.
So hungerte ich mich durch die Jahre.

Als ich zu schreiben begann, trug die Welt es mit Anstand.
Als einige Apparatschiks sich drüber ärgerten,
wurde ich bekannt.
Man schickte mir Freunde ins Haus, die helfen sollten.
Zufällig waren sie eingeschriebene Mitglieder
beim Staatssicherheitsdienst.
Bei einer Pause, als sie die Geschichte der KPdSU
studierten, fühlte ich den unwiderstehlichen Drang,
spazierenzugehen.

Seither weiß ich, wie rührend es ist,
irgendwo in der Welt Menschen zu wissen,
die auf einen warten.
Inzwischen dreht die Welt weiter in neue Kriege, von denen die asym­metrische West-Intelli­gentsia behauptet, sie seien notwendig. Fast bedaure ich, dass die alten Freunde im Osten nicht mehr warten können. So vergessen wir die Kriege von gestern. Was Heinz Kessler zu vergessen hätte, soll er selber sagen. Stefan Wachtel hat wohl nichts zu vergessen, zumal Uwe Tellkamp ihn anonym im Turm auferstehen lässt. Wie weit ist es von Dresden nach Schwedt? Vielleicht sollten wir mal alle miteinander zu Fuß hinpilgern.

Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 15.02.2010, geplant.

Fotos zur Lesung mit Gerhard Zwerenz aus der Sächsischen Autobiographie am 19.11.2009 im Haus des Buches, Leipzig   externer Link

Lesungs-Bericht bei Schattenblick  externer Link

Interview mit Ingrid und Gerhard Zwerenz bei Schattenblick  externer Link

Gerhard Zwerenz   08.02.2010   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz