Kampf der Deserteure
Vor einigen Monaten wurde hier General Heinz Kessler erwähnt, letzter Verteidigungsminister der DDR, der als junger Wehrmachtssoldat schon im Juli 1941 zur Roten Armee desertierte, was ich als eine tapfre und höchst ehrenwerte Tat respektiere. Dass der gealterte, inzwischen 90jährige Kessler im Rückblick heute den Moskauer Parteitag von 1956 als Untergangs-
Außer diesem Text zu Kessler gibt es noch einen zweiten, der etwas weiter zurückliegt und am 12. Juli 1989 als taz-Leitartikel erschien:
Um die Fakten zu verdeutlichen wurde hier der gesamte taz-Text zitiert, obwohl sich nur wenige Zeilen auf Heinz Kessler beziehen. Im Ganzen aber steht nichts Geringeres als das Menschenrecht Totalverweigerung zur Debatte. Es geht um den Pazifismus, dem die medial soufflierte und aufgehetzte Volksstimme so borniert wie bar jeder Zivilcourage nur das Prädikat naiv zuzubilligen versteht. Es geht um die Wurst, wie wir den Kopf mal nennen wollen.Zwischen Kesslers und meinem Leben gibt es gewisse Parallelen. Er desertierte als 21jähriger nach drei Wochen Ostfront am 15. Juli 1941 von der Wehrmacht zur Roten Armee. „Überlaufen“ nennt das die FAZ am 26.1.2010 in der Personalie zu Kesslers 90. Geburtstag. Die Herrschaftssprache verrät des Ungeistes Kind. Kessler desertierte als Kommunist und kehrte insofern heim. Ich war 19 Jahre alt, als ich im August 1944 zur Roten Armee, wie die FAZ das nennt, „überlief“. Die Ostfront hielt ich wie Kessler nur ganze drei Wochen aus. An der italienischen Front war mir die Desertion missglückt: „Ich schaute zurück zu den Kameraden mit dem Maschinengewehr. Da gab es eine Bewegung, und als ich wieder zu Eberhard hinsah, stand er da, hatte seine Knarre weggeworfen, hielt die Hände hoch, und vor ihm stand ein riesenhafter Kerl. Er meinte es also doch ehrlich, dachte ich verwundert. Er hatte sich vorgenommen, sich zu ergeben, jetzt ergab er sich tatsächlich. Das ist eine gute Gelegenheit, dachte ich und wollte meine Knarre auch wegwerfen. Da erhob der riesenhafte Kerl dort vor Eberhard seine Waffe, stieß sie vor und rammte Eberhard das Bajonett in den Hals. Ich hörte einen krächzenden Laut, etwas Rosarotes sprang aus Eberhards Hals. Fast hätte man denken können, es sei Leuchtspurmunition. Aber das war es nicht. Es war Eberhards helles Blut. Und Eberhard fiel nicht zu Boden, aus irgendwelchen Gründen blieb er stehen, während der Amerikaner sich bemühte, sein Bajonett wieder aus Eberhards Hals herauszuziehen, wobei er Eberhard nun mit Tritten traktierte. Ja, dachte ich, man rennt eben seinem Feind das Bajonett in den Bauch oder zwischen die Rippen, aber nicht in den Hals. Und für diesen sträflichen Leichtsinn wirst du nun zahlen. Der Amerikaner versuchte noch immer, sein Bajonett herauszubringen; es knarrte und krächzte. Vielleicht hatte sich das Bajonett in der Wirbelsäule verfangen. Immerhin sank der Tote nun zu Boden. Jetzt trat der Amerikaner seinem Feind, ganz wie er es gelernt hatte, auf die Brust und wuchtete sein Bajonett heraus. Das hatte zu lange gedauert. Mir war klar geworden, was einem blüht, der sich diesem Gemütsmenschen ergibt. Ich legte an, sah seinen massiven Schädel in der Verlängerung von Kimme und Korn und drückte ab. Wo dem Amerikaner ein Stück Ohr unterm modischschräg aufgesetzten Helm hervorlugte, klaffte ein Loch, aus dem eine Blutfontaine herausspritzte, wie vorher aus Eberhards Hals. Er sank in die Knie, legte seine Knarre vor sich auf die Erde, verbeugte sich in Richtung Osten, so halb kniend hielt er sich. Ich ging hin, hielt ihm den Karabiner an den Hinterkopf und drückte ein zweites Mal ab. Es gab einen dumpfen Knall. Mir sprangen Schädelknochen, Gehirnmasse und Fleischfetzen ins Gesicht, ich konnte nichts mehr sehen, warf mich auf den Boden, griff nach Gräsern, wischte mir das Zeug aus den Augen. Endlich brach ich Eberhards Erkennungsmarke ab, steckte sie ein, stapfte zurück.“
(Vergiss die Träume deiner Jugend nicht, Rasch und Röhring Verlag, Hamburg 1989) Zurück zu unserem braven Genossen Ex-General Kessler, der ergrimmt ist über die siegreichen West-Generäle, die erst Hitlers- und dann Adenauers Gehilfen waren und deren Nachfolger Kessler verurteilten und einsperrten. Sauer ist er auch auf seine Sowjetkameradengenossen. Von Gorbatschow z.B. ergingen bis zuletzt Militär- und Grenzschutzbefehle, die der General und Minister in der DDR gehorsamst befolgte, während Gorbi die DDR bereits an Helmut Kohl verhökerte. Seither gilt das ehemalige Oberhaupt der Sowjetunion weltweit als Friedensheld und Kessler als kriminell. Dabei war Michail Sergejewitsch G. inzwischen schlankweg Sozialdemokrat geworden und Kessler der getreue Stalingenosse von einst geblieben. Nein, ich nehme alle Ironie zurück. Der Fall ist kein Einzelfall, sondern tragisch. An diesem Punkt endet die Parallele zwischen Kesslers und meinem Leben.
„Nach viereinhalb Jahren, als ich gerade einen Anfall von Lungen-Tbc hatte und Blut spuckte, kam eine Kommission in unser Lager. Es wurde eine Reihe von Leuten aufgerufen und ich war dabei. Das waren Gefangene, die aus dem Proletariat stammten und in der Wehrmacht keinen höheren militärischen Rang innegehabt hatten. Bei mir kam noch dazu, dass ich Deserteur war. Rudolph: Was war das für eine Kommission – eine deutsche? Zwerenz: Nein, eine hohe Offizierskommission der Roten Armee, die aus Generälen und Obersten bestand. Die hat sich deutsche Kriegsgefangene vorführen lassen, die entsprechend ausgewählt waren. Man wusste nicht, wofür man ausgewählt wurde, aber die Fragen, die gestellt wurden, haben mir gezeigt, dass es offenbar um einen Rücktransport nach Deutschland ging. Und da habe im mich entsprechend verhalten. Im habe verschwiegen, dass ich Blut spuckte. Und so sind wir nach einigen Tagen abgesondert worden, in ein anderes Lager transportiert. Dort wurde uns eröffnet, dass wir der Kern der künftigen Volksarmee sein würden; wir würden zur Volkspolizei in die DDR kommen, würden aber dort nicht normalen Polizeidienst tun, sondern eine neue Armee gründen: die proletarische Armee der DDR. Rudolph: Wie hat das denn auf Sie gewirkt, nachdem Sie doch durch die Erfahrung des Krieges jede Art von Wehrdienst satt haben mussten? Zwerenz: Das war ein Schock. Das war ein schwerer Schock, mit dem ich eigentlich nie richtig fertig geworden bin. Rudolph: Aber Sie wollten gesund werden und sahen da eine Möglichkeit? Zwerenz: Ich wollte überleben. Wenn man viereinhalb Jahre in Gefangenschaft lebt – bei mir war es vom 19. bis zum 23. Lebensjahr –, dann ergreift man jede Möglichkeit, die einem geboten wird, um wieder frei zu sein. Rudolph: Wie lange waren Sie bei der Volksarmee? Zwerenz: Ich selbst bin bei dieser Kerntruppe, aus der dann die Volksarmee später hervorgegangen ist, nur wenige Monate gewesen. Ich habe sofort versucht, von dort wieder wegzukommen. Etwa ein halbes Jahr war ich in der Kaserne in Zwickau, einer ehemaligen Ingenieurschule. Dann erreichte ich, dass ich zur normalen Volkspolizei versetzt wurde.“ Das Verhalten der Sowjetführer bis zum Verrat fand im SED-Politbüro seine Mitläufer. Harry Nick am 20.1.2010 in Neues Deutschland auf das Ende der DDR zurückblickend: „Die DDR-Führung tauchte einfach ab, ließ ihre eigenen Leute vor Ort … einfach im Stich … Woher rührten Abneigung und Unfähigkeit zu wirklichem Dialog mit dem Volk? Ihre Ursachen waren systemischer Natur …“
Nur einen Tag später, am 21.1. lautete eine ND-Schlagzeile: „Absturz der Götter – Vor 20 Jahren wurden Mitglieder und Kandidaten des einstigen Politbüros aus der Partei ausgeschlossen …“ Der Bericht ist so distanziert wie niederschmetternd. Eine Zwischenüberschrift konstatiert: „Mitglieder waren politisch entmündigt“ – das ist nur die halbe Wahrheit. Um die andere Hälfte drücken wir uns gern herum. Sie lautet: Die Mitglieder ließen sich nur zu gern entmündigen. Und das nicht etwa, weil sie rotlackierte Faschisten waren, wie der schwarzlackierte SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher einst mit dem Geist Noskes im Bunde schimpfte.
Wachtels Aufzeichnungen wurden 1991 als Original-TB publiziert und ich äußerte mich darüber: „Stefan Wachtels schmaler Erstling Delikt 220, im Greifenverlag zu Rudolstadt erschienen, berichtet autobiographisch vom existentiellen Widerstand des jungen Gefangenen. Sätze, genau und kühl. Erfindungen so wenig wie im Lenz, die Poesie wie mit dem Skalpell aus dem Inneren des Äußeren hervorgeholt. Ich tausche gern 100 modedeutsche Weinerlichkeiten gegen diesen einen glasklaren gescheiten Existenzbefund. Das wurzelt im selben Boden wie der junge Büchner.“
(Rede zum Alternativen Büchnerpreis, Darmstadt 1991) Das nur im Format schmale Buch enthält weder Ideologie noch Politik noch wütende oder larmoyante Beschwerden. Es konzentriert sich ganz auf die Sprache als Signal einer authentischen, fatalen Erlebniswelt. Jedes Wort weiß, was es sagt. Lakonie als Kunstform verhindert das massenhaft Abgebrauchte im Zeitalter weltweiter Abstrafungen. Nichts davon in diesem kleinen insurgenten Tagebuch. In einer kurzen Nachbemerkung versuchte ich meine Lesefreude auszudrücken:
Hier spricht einer ohne zu erfinden reine Poesie der Wirklichkeit, die sich immer erneut selbst erfindet. Er steht ihr fremd gegenüber und ist doch gezwungen, sie stets beim rechten, genauen Namen zu nennen. Begonnen hat diese Krankheit in der Uniform des Unteroffiziersschülers, in der sie drinnen steckte wie eine Kleiderlaus. Der künftige Obersoldat sagte Selbstverständliches, das ihm die Anklage des Ungeheuerlichen vor dem Militärrichter einbrachte. Man schneidet den Mann, den seine Sprache übermannte, aus Uniform und Hoheitszeichen heraus und verurteilt ihn zum Studium der Haftzelle. Doch die Kleiderlaus spricht weiter aus dem Menschenkörper, obwohl dem ganz und gar nicht geheuer ist: „EHRE UND VATERLAND. Ich habe kein Herzklopfen. Es kommt mir einfach nur merkwürdig vor ... Die Wachsamkeit mußte verkommen zur Denunziation. Warum soll sie ein anderes Schicksal haben als die Revolution selbst? ... Wer hat die Wirklichkeit auf dem Gewissen?“ So kann nur eine widerspenstige Kleiderlaus höhnen. Sie muß geknackt werden. Der GEFANGENE bekommt den Titel HÄFTLING verpaßt. Er war immer Mit-Glied, auch hier in der Zelle: „Ich mach mit.“ Was sonst? Etwa über die Ostsee schwimmen? Aber nein: INHAFTIERTER WACHTEL. ICH TRAGE EINEN TITEL.“ Noch in der Niederschrift spricht die Laus widerspenstig aus ihm heraus. In der Kurzbiografie des Inhaftierten a. D. lese ich, er sei Diplom-Sprechwissenschaftler. Das mit dem Diplom gibt mir zu denken: Wie viele Professoren, Doktoren, Diplome, Diplomaten produzierte das System. Lauter abgelegte Prüflinge. Alle haben bestanden. Mindestens als staatlich geprüfte und anerkannte lnsassen. Erhält einer sein Diplom nach dem Studium des fünfmonatigen Strafarrests? Ich erkenne den Titel nach vergleichenden Studien an, denn die Straflager in Ost und überfüllten Gefängnisuniversitäten in West und Süd machen im großen Kollektiv das Vergessen zur Pflicht: War da etwas? Ist da etwas? Aber nein. Nichts ist gewesen, nichts ist. Nichts soll sein und gewesen sein. Die sprachlosen Gefangenen, in GEGENÜBERSTELLUNG mit der Wahrheit, werden zur Lüge verurteilt und nicht anerkannt. Die Täter von gestern treten umgeschminkt als Opfer an. Die Opfer von gestern werden der Lüge von heute geopfert. Wende ist. Nun wendet euch. Stefan Wachtel, der Sprechwissenschaftler, fragt naiv: Wer hat die Wirklichkeit auf dem Gewissen? Niemand meldet sich. Also spricht die Sprache aus unverstellter Erfahrung heraus, was Sache ist, Seele, Schmerz, Ungeheuerlichkeit Die Sprache spricht ganz ohne Sprecherlaubnis. Bei Dostojewski hieß das Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. Bei Gott, König, Vaterland, Politbüro und deutscher Zweieinigkeit, hier kann wieder einer die Sprache nicht halten. Was soll bloß aus so einem werden, der weder verstummen noch in Sklavensprache flüchten kann. Die Leute werden sagen: Selber schuld. Und sich selber gar nicht meinen.“
Mit dem Leidensgenossen Stefan Wachtel kommt mein Deserteurskamerad Heinz Kessler, der spätere General und Minister wieder ins strategische Spiel. Wachtel brummte ein paar Monate in jenem Militärknast ab, dem der General Kessler ganz oben vorstand. Ich will nicht Kesslers und meine Fahnenflucht und die anschließenden Jahre in sowjetischer Gefangenschaft gegen Wachtels zum Glück kurze Zeit in Schwedt aufwiegen. Festzustellen ist, die DDR-Volksarmee führte keine Kriege. Ihre Waffen wurden nach Auflösung des Staates in alle Welt verkauft und verschoben. Dort helfen sie Krieg führen. Meine eigene teure pazifistische Schlussfolgerung gilt im vereinten Deutschland noch nicht wieder wie früher als Straftatbestand, sondern als Naivität. Und so schießen und strafen sie weiter. Vielleicht sollten der Ex-General Kessler und der Ex-Obergefreite Zwerenz sich mal darüber unterhalten, was sie, also wir falsch gemacht haben. Schließlich wurden wir beide aus der Partei rausgeschmissen, ich etwas früher – 1957 – und Kessler später – 1990. So waren wir alten Fahnenflüchtigen wieder fahnenlos vereint. Vielleicht könnten wir auch Stefan Wachtel dazu einladen, der ja seit dem Erscheinen seines Tagebuches zwei Jahrzehnte älter geworden ist. Wir wären dann ein 90jähriger, ein 85jähriger und ein 50jähriger, die ganze Junge Garde von Deserteuren – nun ja, Stefan desertierte in die Freiheit des Wortes, Kessler in die hohe Generalität und ich in den naiven Pazifismus. Und ein jeder hat einiges zu vergessen:
Ohne Abschied (1957)
Ich habe keinen Titel am Namen und keinen Orden auf dem Gewissen, mein Vater war nicht Graf noch General, und Freitag abend badeten wir in der Holzwanne. Als Soldat war ich zufällig einmal tapfer und meist verlaust. Ich wurde verwundet, am Arm, am Bein und am Vaterland Als der Krieg aus war, glaubte ich, er sei aus. Später sah ich meinen Irrtum ein und studierte ihn, das heißt Philosophie. So hungerte ich mich durch die Jahre. Als ich zu schreiben begann, trug die Welt es mit Anstand. Als einige Apparatschiks sich drüber ärgerten, wurde ich bekannt. Man schickte mir Freunde ins Haus, die helfen sollten. Zufällig waren sie eingeschriebene Mitglieder beim Staatssicherheitsdienst. Bei einer Pause, als sie die Geschichte der KPdSU studierten, fühlte ich den unwiderstehlichen Drang, spazierenzugehen. Seither weiß ich, wie rührend es ist, irgendwo in der Welt Menschen zu wissen, die auf einen warten. Inzwischen dreht die Welt weiter in neue Kriege, von denen die asymmetrische West-
Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 15.02.2010, geplant.
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Gerhard Zwerenz
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