Wie also wäre es, wenn ich meinen geschätzten Kollegen Heym rächte, indem ich ihn zum hochbetagten Lebenden und mich für tot erklärte? Ernst Bloch hatte mehrmals gesagt, ich käme ihm immer vor wie ein Mann, der schon dreimal verbrannt worden sei – also konnte ich mich auch ein viertes Mal einäschern.
Die erste Phase meines Übergangs begann an jenem Montag, an dem ich mit dem falschen Fuß aufgestanden war. Pünktlich 6 Uhr wollte ich wie üblich die Zeitung aus dem Briefkasten nehmen, doch es war keine da, das irritierte mich, denn zum ordentlichen Rhythmus gehört die morgendliche Presselektüre. Bis Mittag schaute ich stündlich nach, vergebens. Am Dienstag fehlte die Zeitung wiederum. Pünktlich 9 Uhr zu Bürobeginn rief ich beim Abonnenten-
Am zweiten Montagmorgen der zeitungslosen Zeit kündigte ich das Abonnement und verlangte per Einschreiben Rückzahlung der abgebuchten Kosten. Ich erhielt weder Geld noch Erklärung oder Entschuldigung. Als ich am Dienstag nochmals anrief, teilte mir die sattsam bekannte weibliche Dienststimme mit, ich sei gar kein Kunde und ein Abo von mir habe nie bestanden. Punktum. Schluss. Aufgelegt. Abgehängt. Leitung tot. Gegen elf Uhr nach dem Einkauf irn Supermarkt an der Ecke blickte die Kassiererin durch mich hindurch. Am Ausgang hob ich einer älteren Frau Tüten auf, die ihr zu Boden gefallen waren. Die Frau sah sich erschreckt nach allen Seiten um als suche sie jemanden. Alzheimer, dachte ich, oder irgendsowas Neumodisches wie Creutzfeld-Jakob hinterließ seine Spuren in der Bevölkerung. Wer weiß, was den Menschen noch bevorsteht, grübelte ich mitfühlend. Ein Glücksgefühl verspürte ich, als ich mein Auto auf dem Parkplatz entdeckte. Auch der Schlüssel passte. Hinter mir verließen Frauen und Männer gruppenweise den Supermarkt. Zwei Rentner blieben, ins Gespräch versunken, nahebei stehen. Der eine sagte: »Sie erklären einfach ganze Ländereien für nicht existent.« Die Antwort des anderen verstand ich nicht. Beide entfernten sich. Ich dachte an den Spiegel, der diesen Montag mit lauter leeren Seiten erschienen war. Seit langem schrieb ich pro Jahr zwei Leserbriefe an die Redaktion. Dieses Jahr erhielt ich nicht mal eine Eingangsbestätigung.
Zwei Hilfspolizistinnen näherten sich. Ich ließ die Scheibe niederschnurren und fragte, was los sei. Die eine Polizistin sagte zur zweiten: »Die lassen ihre Karren einfach mitten im Halteverbot stehen!« Sie klemmte einen Strafzettel unter den linken Scheibenwischer und beide trotteten davon, ohne mich auch nur im geringsten zu beachten. Ich fuhr zur Polizeistation, mich zu beschweren. Vor mir standen welche und hinter mir sammelte sich eine lange Reihe Wartender. Endlich kam ich dran. Der Polizist fragte höflich: »Was kann ich für Sie tun?« und schaute dabei, als wäre ich gar nicht da. Ich wies erklärend den Strafzettel vor. Zu meiner Verwunderung brachte sich der hinter mir stehende Mann mit einer Vermisstenmeldung ins Gespräch. »Ihre Frau ist abgängig?« sagte der Polizist und: »Sowas kommt immer öfter vor!« Der Beamte beugte sich vornüber und flüsterte dem Manne, der seine Frau als vermisst meldete, zu: »Wir führen darüber eine besondere Akte, darauf steht: Die in den Himmel Entschwundenen!« Der Polizist blieb sehr ernst, der Mann bedankte sich. Ich fand mich ganz ohne Gewaltanwendung, ja ohne die geringste physische Berührung einfach beiseite geschoben. Es war wie ein Sog. Ich rief: »Aber ich bin doch ein Mensch! Ein autonomes Wesen, dessen Würde unantastbar ist!« Niemand hörte es. Keiner beachtete mich. Als ich in meinem Auto hinterm Steuer saß, war irres Lachen zu hören. In den kleinen Spiegel schauend, der auf der Sonnenblendenrückseite angebracht ist, erblickte ich mein Gesicht. Ich bin es jedenfalls nicht, der lacht! stellte ich fest. Plötzlich verzog sich das Antlitz im Spiegel und zeigte seine Züge verzerrt in einem irrwitzigen Gelächter. Prustend begriff ich, wohin ich fahren musste.
Beim Heimkommen fand ich mein Haus voller palavernder Leute. Keiner beachtete mich. Nicht ganz unbeeindruckt entwich ich ins Bad. Bevor ich mich einriegeln konnte, wurde die Tür aufgerissen, eine junge rothaarige Frau stürmte an mir vorbei und benutzte lautstark das WC. »Durchfall, wie?« erkundigte ich mich höflich und wurde weder eines Blickes noch Wortes gewürdigt. »Eigentlich wollte ich pissen«, wagte ich vorzubringen. Meine Worte vertropften als seien sie nicht gefallen. Die Dame verließ das fremdbestimmte Badezimmer.
Meine Witwe fand ich in der Bibliothek, wo sie Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust las. Ich sagte: Die Zeit ist mir inzwischen scheißegal, was einer nicht hat, das kann er nicht verlieren. Die Frau tat, als gäbe es mich gar nicht, und nun wurde mir bis ins tiefste Unbewusste hinein bewusst, dass ich tatsächlich. nicht mehr vorhanden sein konnte, denn ein verstorbener Schriftsteller ist nur noch virtuell existent, hat aber seinen festen Platz im Himmel droben. Schon Tucholsky schrieb sehr früh seine Nachher- Geschichten, in denen er das Leben aus der Perspektive des Verstorbenen betrachtete. Hier oben jedenfalls sitze ich seither als sächsischer Engel, blicke hinab ins Jammertal und aufs Land mit seinen Urstromtälern Pleiße, Mulde, Elbe, nehme die Oder samt Neiße noch hinzu, beschwöre die Namen Nietzsche, Wagner, May, nicht zu vergessen Lessing aus Kamenz und Goethe wegen der heftigen Leipziger Studienjahre. Ich denke an unsere Genossen, die in Kriegen, Zuchthäusern, Konzentrationslagern, an Grenzen und im Exil umkamen oder überlebten. Ich erinnere mich der vielen jungen Frauen und Männer, die nach Kriegsende hoffnungsfroh aufbrachen und etwas Neues suchten und versuchten. Müssen sie sich dafür entschuldigen oder schämen?
Soeben traf mit dem Himmelstransit der neue Spiegel ein. Heute ist schon wieder Montag. Ich schlage das Gestorben-Register auf. Meinen Tod melden sie keineswegs. Bin ich vielleicht genau deswegen erst wirklich tot? Lebe ich als Ungestorbener im Himmel trotzdem weiter? Ich werde mal den Leutnant Augstein fragen, der residiert nur eine Wolke weiter, wo er mit Oberleutnant Franz Josef Strauß Mensch ärgere dich nicht spielt. Machen die beiden einen Krach …
An einem schönen neuen Morgen schluckte ich den Kaffee überlebensglücklich wie Sokrates das Schierlingsgift aus dem Becher und fragte meine Frau, ob sie sich nicht wundere, ihren unlängst verstorbenen Mann am Frühstückstisch sitzen zu sehen.
So, sagte meine Frau, ich erinnere mich. Du warst schon mal tot und bist wieder da?
Frau, glaub mir, ich war im Himmel.
Im Himmel – du?
Ja, ausgerechnet ich!
Und seit wann warst du dort?
Weiß nicht – da oben gibt's keinen Kalender. Bei denen herrscht Zeitlosigkeit. Es muss aber passiert sein, als hier die Westdeutschen wegen der Staatspleite in den Osten flüchteten –
Die Wessis zu den Ossis?
Petrus zeigte es mir von dort oben. Und wie es dann weiterlief mit der Geschichte.
Und wie lief das weiter?
Na, mit dem innerdeutschen Frieden. Jedem Ostler wurde eine Million in die Hand gedrückt –
Und wer zahlte das?
Jeder Westler, als ausgleichende Gerechtigkeit für entgangenes Lebensglück.
Und was machten die Ost-Leute mit dem Handgeld?
Das weiß doch jedes Kind, entgegnete ich leicht gereizt. Damit kauften sie sich Arbeitsplätze und seitdem leben sie glücklich und zufrieden wie im Kommunismus.
Oder wie im Himmel, aus dem du gerade zurückgekehrt bist.
So ist es, meine Liebe, antwortete ich kurz und bündig.
Lebensfroh setzte ich mich im Arbeitszimmer an den fünf Quadratmeter großen Schreibtisch, um meine letzten Abenteuer zu notieren. Von Petrus hatte ich etwas über Einsteins fortgeführte und vollendete Relativitätstheorie erfahren, damit werden die klassischen 3 Dimensionen nicht nur durch die Zeit als 4. Dimension erweitert, sondern mit der 5. Dimension des menschlichen Lebens komplettiert. Der Sachse ist deshalb die archetypische Gestalt, in der Lyrik und Phantasie zusammenfließen – mit den Füßen in der Pleiße und dem Kopf über den Wolken, wohin die anderen Erdbewohner, vorab die Amerikaner, erst noch vorzustoßen bemüht sind. Wer Adam Riese, Herbert Wehner, Richard Wagner, Walter Ulbricht, Friedrich Nietzsche und Karl May samt August Bebel, Wilhelm und Karl Liebknecht, Ernst Bloch sowie den Marx-Kopf (Nischel) von Chemnitz zu seinen Vorfahren zählt, der startet kurzerhand durch in bisher unbekannte Welten. Ich darf es bezeugen. Schließlich bin ich seit ca. 2000 Jahren der erste, der zu Recherchezwecken in den Himmel aufstieg und zurückkehrte mit der frohen Botschaft: Leute, Freunde, das Leben geht weiter … sogar für Atheisten, Trotzkisten, Pazifisten und Genossen …
Bedenk ich's recht, muss ich mich um den Spiegel sorgen, fallen dem zur Horst-
Am Montag, den 8. September 2008, folgt das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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