Am Anfang war das Gedicht
Die vorige Folge endete mit dem weisen Ratschlag an unsere kriegstüchtigen Politiker, diese freiwilligen Hindukuscher, ein abkühlendes Bad in der radiumhaltigen Pleiße zu nehmen, und die Folge davor endete mit der Frage, ob unser Engagement für einen 3. Weg nutzlos und vergeblich gewesen sei. Derlei ließe sich relativ einfach beantworten mit der Auskunft: Bleibt die endbedrohte Tierart Mensch auf dem eingeschlagenen Holzweg, ist der Harmageddon sicher wie das Amen in der Kirche. Allerdings regte sich vor kurzem sogar im Vatikan die Liebe zum Überleben. Wer mit der jüngsten päpstlichen Sozialenzyklika nicht zufrieden sein sollte, muss doch anerkennen, dass hier ein ehemaliger Hitlerjunge sich bemüht, über seinen Schatten zu springen. Wir geben uns jedoch mit so simplen Antworten nicht zufrieden, denn der Mensch besitzt auch einen Kopf.
Als Lenin gestorben war, herrschte Winter in Moskau. Stalin hielt den weitab befindlichen Trotzki von der Trauerfeier fern. Im Kampf um Lenins Nachfolge unterlag Trotzki auch aus eigener Schwäche. An der Spitze von Staat und Partei dürfe kein Jude stehen, weil der im Lande wie weltweit herrschende Antisemitismus das nicht zulasse. So sein Bescheid an Genossen, die nach ihm riefen.
Die im Westen erstarkende Konterrevolution hätte statt Stalin als Widerpart Lenin und Trotzki benötigt, damit der kommende Weltkrieg gewonnen, die Weltrevolution nicht verloren werde. T 34 und Stalinorgel reichten, den 1941 eindringenden deutschen Feind zu schlagen, der mit Panther, Leopard, Tiger und Königstiger zum Ural durchzubrechen versuchte, aber zwischen Führerbunker und Berliner Reichstag endete. Inzwischen tritt eine neue Soldatengeneration mit gepanzerten Dingos, Mungos und Füchsen an, lauter Versuche aus dem Kleintierzoo der Kriegsphantasiewelt, was hilft es, als am Hindukusch die Luft eisenhaltig wurde, stürzte ein Füchslein in den nächsten Wassergraben. Drei ertrunkene Bundeswehr-Kameraden erwarben Namensanwartschaften auf das im Bau befindliche Kriegerdenkmal. Die Bundeswehr aber will's für drei Milliarden Euro eine Nummer größer haben und geht von Marder und Fuchs zum löwenhaften Puma-Schützenpanzer über. Der große Zoo also. Bald gibt's wieder Tiger, Panther und Königstiger. Die Ostfront ruft? Über den baltischen Ländern sichern bereits deutsche Tornados den Luftraum gegen die Russen. Wieviel Siege werden wir erst einheimsen, wenn wir Georgien und die Ukraine verteidigen dürfen.
Kommunisten wurden unter Hitler verfolgt und unter Adenauer verboten. In der DDR wurden sie als unter Hitler Verfolgte und unter Adenauer Verbotene solange geehrt oder zumindest gern gesehen, wie sie nicht abwichen. Verblieb allein der Trotzkist, der auf allen Seiten sorgsam das Schweigen üben musste. Es sei denn, er riskierte aktiven Entrismus als Verhaltensweise des bei den anderen Eingetretenen, wo nicht Eingedrungenen, der untergründig Einfluss zu nehmen sucht und verschiedene Sklavensprachen nutzt, um zu wirken ohne sich zu verraten und ans Messer zu liefern. Entree? fragen Franzosen – Darf ich eintreten? Bei den Russen heißt es: moschnea? Der Trotzkist fragt nicht. Er tut es. Als ungebetener heimlicher Teilnehmer tanzt er auf des Messers Schneide. Immer auf der Hut vor Hitlers Fallbeil, Stalins Eispickel und westlichen Dummheiten. Der Trotzkist fühlt sich unter Kommunisten und Sozis wie der Christ unter Kirchenfrommen.
Als ich, der DDR entkommen, ohne Geld ratlos im Westen hockte und die Anwerbungsversuche fremder Dienste abwehrte als wären Ost und West nicht nur graduell von Geheimen und Geheimnissen durchsetzt, verfiel ich auf die Idee, mein eigener Späher und Spion zu sein. Warum für fremde Dienste arbeiten. Entree? fragte ich bei mir an und antwortete: Entree! So wurde ich zum autarken Einpersonenkundschafter mit der eigenen werten Haut als Grenze, über die ich in allerhand Gestalten und Pseudonymen hin- und hersprang.
Da ich schon in der Weltbühne als Autor mit Pseudonym auftrat, teilte ich mich im goldenen Westen gleich in Dreierlei: Poet, Satiriker, Philosoph:
So klang der Poet:
Trotzige Bitte an Anagara
ich bitte dich um nachsicht brenn mit heißen eisen in meinen rücken dein zeichen schlag um meine hand deinen schatten meine augen will ich sterben lassen ein haus dir bauen unter hohlen lidern lass auch wenn die große langeweile kommt - und sie kommt - nicht los meine hand schick nicht fort meinen schritt verbrenn meinen zorn wie alte zeitungen Der Satiriker liebte die etwas härtere Gangart: Gesang zu Ehren des nicht vorhandenen Vaterlandes fragt die erde dich nach dem grünen proselytenpass lass gelbe sonnen singen sag ach habt mich gerne lass mit hellen silberstücken pflastern alle sterne sag mein pass ist ein weites fass mit zehnmeterlangen spanten zum ersäufen aller wirte hehler generale der minister und verwandten mein pass ist ein weites feld mit durchgang in die unterwelt für die krätze für die pest und was sich nicht lieben lässt mein pass ist ein schmales seil ein seil auf dem ich lauf das ist mein deutsches vaterland da balancier ich drauf
Am Anfang war das Gedicht als Kurzform der Prosa. Wie die Prosa Langgedicht ist. Oder: Am Anfang war das Gesicht. Ein Teil, das kenntlich macht. Gedicht. Gesicht. Maske. Dekonstruktion: Maske ab. Die individuell-autarke Lebensweise auf kurze oder lange Form gebracht. Lebensweise = Lebenserfahrung? Aber Erfahrung lässt sich nicht mitteilen. Nur die Information von Erfahrung. Weshalb keine Generation von den Erfahrungen der Vorfahren lernt. Informationen über die Erfahrungen von Vätern und Müttern bedürfen bei Nachkommenden einer konstitutionellen Sensibilität. Abgesehen vom Glück, falls die vorige Generation nicht nur ein bloßes Wortgeklingel von Plappermäulern als Erbe hinterließ.
Am Anfang war das Gedicht. Ich hatte Verfolgung abzuwehren. Es galt aber, eine pazifizierende Theorie in der Praxis zu verbreiten. Als 1974 im S. Fischer Verlag in Frankfurt/Main mein Buch Der Widerspruch erschien, hieß es auf dem Werbeplakat:
„Leben heißt kämpfen. Kämpfen heißt schreiben. Schreiben heißt: im Widerspruch leben.“
Um die Kultur verstehen zu können, blicke ich auf unsere krisengeschüttelte Wirtschaft. Um unsere Wirtschaft verstehen zu können, blicke ich auf unsere krisengeschüttelte Kultur. Weil ich ein moderner Mensch bin, der den Vorwurf der Unwissenheit und Unwissenschaftlichkeit scheut, reflektiere ich das ganze Jahr hindurch brav vor mich hin und begreife, Krisen hat es immer gegeben und was wir heute gemeinsam haben, ist keine Krise, sondern eine allumfassende Pleite. Ohne Unterschied der Systeme, für den sich doch gestern noch so viele gegenseitig umbrachten, bringen wir auch jetzt noch einander um oder treffen die Vorbereitungen dazu. Es wird einen Weltuntergang geben, sagen wir sorgenvoll und sorgen weiter dafür, dass es geschehe. Unendlich viele literarische Untergangsmodelle schaffen wir, und mit Lust.
Von den Steuern, die wir zahlen, zweigt unser Staat die Gelder ab, die wir benötigen, den Untergang immer vollziehbarer zu machen. Von jedem Honorar geht ein Teil Steuern ab für Waffen. Die gesellschaftlich aufgeklärten Köpfe wissen: Erst kommt die Waffenproduktion, dann die Moral. Wenn ein paar unzufriedene Christen auf einem Kirchentag die Bergpredigt neu entdecken, kommt gleich ein Verteidigungsminister und zeigt sich als der harte Marxist, der er sonst nicht ist. Mit der Bergpredigt, sagt er uns, lässt sich nicht regieren. Antimarxisten und Marxisten eint die Verachtung der Moral. Vielleicht sollten wir es in der Literatur mal wieder mit dem ganz einfachen Menschen versuchen? Mit seiner Angst, seiner Hoffnung, seiner Liebe, seinem Hass? Seiner Dummheit, seiner Klugheit? Wie spricht man mit dem unbekannten Wesen? Wie schreibt man ihm und für ihn, dieses fremde Irgendwie-Irgendwo-X? Verdammt will ich sein, sprach der Teufel; ganz so als wär er's nicht.
Das Literaturblatt der Frankfurter Zeitung druckte am 31.3.1929 Ernst Blochs Verteidigung unseres sächsischen Volksschriftstellers Karl May gegen seine Verächter. Am 12.5. reagierte ein Autor mit Namen Wilhelm Fronemann im Königsberger Tageblatt und anderswo mit Angriffen auf May. Nach Hitlers Machtübernahme schwärzte Fronemann Karl May als extremen Marxisten und Pazifisten an. Kaum war der Krieg vorbei, trat der Nazi als Antifaschist auf und versucht May bei der Sächsischen Landesverwaltung als Vorläufer der SS zu diffamieren. Eine gewisse Verkennung hatte sich allerdings schon Bloch mit seinem May-Plädoyer geleistet, als er schrieb: „Karl May ist einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der beste, wäre er kein armer, verwirrter Prolet gewesen.“ Das heißt nun den Anfang zwischen Pleiße und Mulde über das Ende an der Elbe stellen und den gebeutelten Kleinkriminellen über den Radebeuler Bestseller-Millionär. Karl May ist beides – ganz unten und ganz oben, wie Sachsen zugleich Arbeit und Kapital, Industrie und Königreich, Leipzig und Dresden gewesen ist, und dazwischen Erzgebirge und Vogtland, die Chemnitzer Fabriken, der Zwickauer Bergbau, die Autowerke und die westsächsische Textilproduktion. Bis anno 1990 die westliche Freiheitsglocke läutete und die sächsische wie die gesamte ostdeutsche Produktivität niedergemacht wurde, als hätte es dort überhaupt nur arme verwirrte Proleten und Poeten gegeben. Neueste Nachrichten besagen, die Elbe trockne zwischen den Hochwassern, die sie sich alle paar Jahre erlaubt, immer mehr aus, wie wir es auch über die Pleiße vernehmen. Vielleicht dürfen die Arbeitslosen bald im Ein-Euro-Job die Elbdampfer durchs sächsische Elbflorenz tragen. Wasser ist flüchtig wie das Kapital und eine Jugend, die das Land verlässt und auf der Suche nach Arbeitsplätzen sich in alle Welt zerstreut. Sind schon die Angelsachsen ausgereiste Sachsen? Über Sachsen heißt es, das Land habe vier Millionen Einwohner und 10 Millionen Auswohner, die in fremden Gegenden leben, wo sie ihres Geburtslandes Fleiß und Ruhm verbreiten. Es ist die Epoche der Konsequenzen gekommen. Orwell oder Bloch lautet die Alternative. Indem Hitler gegen Stalin antrat, brachte er Orwell und Nietzsche gegen Marx und Bloch in Stellung. Indem Bloch in den Westen gehen musste, verlor der Osten seinen Marx und Lenin samt Legitimation. Der Rest war Lethargie mit einem schandbaren Ende. In Deutschland führen die Regierenden stets Richtung Abgrund. Für jeden kommt der Zeitpunkt, an dem es gilt, entweder als Saulus andere zu verfolgen und zu bestrafen oder als Paulus dem urchristlichen Feindesverbot und Liebesgebot zu gehorchen. In der Sprache von Hegel und Marx heißt das, die Differenz zwischen Herr und Knecht abzuschaffen, und in der Sprache Blochs: „Kampf, nicht Krieg.“ Daraus folgt: Krieg ist kriminell. Die Produktion von Feindschaft, Waffen und Kriegern ist von Anbeginn verbrecherisch – tertium non datur – das eine oder das andere. Ein Drittes gibt es nicht. Dies ist die deutsche Lehre aus einem Jahrhundert Vergangenheit, und sie gilt unabhängig von Nation, Staat, Religion, Partei.
Dies schreibt ein Sachse, der statt am Fichtelberg des Erzgebirges am Feldberg des Taunus sitzt, wohin es ihn nach Berlin, Köln, Irland, München, Frankfurt und Offenbach verschlug – Wohnorte, über die er sich keineswegs beschwert.
In der Folge 83 Verweis auf Walter Kempowski. Inzwischen flaute die Aufregung über seine Kontakte zum US-Geheimdienst ab. Ingrid erinnert an eine Lesung am 3. Oktober 1989 in Oldenburg und unser gemeinsames Buch Reisen mit Lord Billy. Ich schlage nach und finde auf Seite 129 ihren Bericht über einen so seltsamen wie bezeichnenden Vorfall: Kempowski liest aus der Niederschrift von Gesprächen vor, die er mit verschiedenen Zeit-Zeugen über ihr Verhalten im Dritten Reich geführt hat. Was taten sie, als rings um sie her jüdische Familien verhaftet und abtransportiert wurden? Die meisten hielten Augen und Ohren verschlossen – plötzlich ruft eine weibliche Stimme: Aber das alles will ich überhaupt nicht mehr hören.
Kempowski bricht verblüfft mitten im Satz ab. Die Lautsprecher-Übertragung nach unten verrät nicht, ob es Reaktionen und Einwände aus dem übrigen Publikum gibt. Nach einer Pause hört man die anderen Autoren aus ihren Büchern vortragen.
In der anschließenden Diskussion zwischen Besuchern und Schriftstellern, die unten im Museumsgarten stattfindet, kommt der merkwürdige Zwischenfall zur Sprache, richtig geklärt wird die Sache nicht.
Folgt tatsächlich ein märchenhaftes, bebildertes Gespräch, in dem Helmut Kohl sich als höchst belesen darstellt, Eugen Kogons KZ-Klassiker Der SS-Staat „ein Literaturerlebnis“ nennt, Heinrich Mann über Bruder Thomas einordnet und sich gar als Tucholsky-Fan offenbart, ein Autor, „den ich mir immer einpacke, wenn ich mal wegfahre.“
Da staune ich nur und versuche, diesen Kultur-Kohl zu enträtseln. Sollte der tatsächlich mehr und klügere Bücher gelesen haben als Schmidt / Schröder / Merkel zusammengenommen?
Am Anfang ist das Gedicht. Als ich es 1955 in der Weltbühne (DDR) mit dem Pazifismus so hielt wie unsere großen Vorgänger in der Weimarer Weltbühne, griffen die Parteistaatsgötter ein und ich war draußen. Zu meinem freudigen Erstaunen tat sich stattdessen die Tür zum Sonntag, der Wochenzeitung des Kulturbundes auf. In der Zwischenzeit sammelte ich diverse Anschuldigungen, und in dieser Atmosphäre entstand
Es ist eine finstere Zeit
Es ist eine finstere Zeit Da die Dichter schweigen aus Angst Und die Kritiker reden auf Befehl Und es ist eine Literatur Der keiner glaubt. Aber es werden Honorare gezahlt. Es ist eine finstere Zeit Da Unbekannte hocken In möblierten Zimmern Und mit heißen Manuskripten Anfüllen die Schränke. Aber es wird Makulatur gedruckt. Es ist eine finstere Zeit Da die Dichter nicht dichten Und die Denker nicht denken Denn es darf nicht gedichtet Und nicht gedacht werden. Aber es werden Preise verteilt.
Friede 1990
Entlassene Volksarmisten werden Zu Bundeswehrsoldaten resozialisiert. Abgerüstete Panzer erhalten ihre abgeschnittenen Kanonenrohre zurück. Friedensforscher erläutern die Kriegsnotwendigkeiten. Linke Professoren wenden rechts. Rechte bleiben, was sie sind. Glücklich. Als Friedensdividende erhebt der Staat die Kriegssteuer. Fest in Der NATO verankert lernen wir bei Orwell: Friede ist Krieg. Habt ein wenig Geduld mit uns, Freunde und Bündnispartner. Sobald die Schamfrist vorbei ist, werden wir losschlagen.
Ist dem Gedicht zu trauen? Steht ein Leben im Wort? Atmen die Sätze? Will hier wer Blut saufen? Die Schamfrist ist in der Tat vorbei. Als ich den Ossietzky-Preis bekam, dachte ich auch an Ossietzkys Kampfgenossen Tucholsky, der nach dem Krieg öfter Ausgang vom Grab im schwedischen Mariefred erhielt. Liegt der letzte Krieg lange genug zurück und der nächste Krieg steht nahe genug bevor, wird Tucholsky wieder streng in sein Grab eingesperrt. Am 15. November 1995 saß ich im Bonner Bundestag und erfuhr aus der Frankfurter Rundschau, die Sächsische Landesregierung wolle Tucholsky abstrafen. Ins Juristische übersetzt: Der Freispruch des Bundesverfassungsgerichts für Tucholskys drei Warnworte Soldaten sind Mörder sei für Biedenkopf & Co nicht hinnehmbar. Da möchten welche sowohl den Weimarer wie den Bonner Freispruch rückgängig machen? Der Sachse in mir rebellierte: Es führt kein Weg zurück.
Am Anfang ist immer ein Gedicht: Gruß an unsere Soldaten in aller Welt Gehalten, mich vor so vielerlei Kriegstoten trauernd zu verneigen, spüre ich wie mein dauergekrümmter Rücken schmerzt. Eine vollkommen widernatürliche Stellung. Woher soll da noch der aufrechte Gang kommen? Und die Trauer für ermordete Freunde? Und der Gedanke an die Gerechtigkeit? Ach, immer nur Schmerzen im Kreuz. Mich aufrichtend verweigere ich die Demut, die elende Zeitungslektüre, die Wahl zwischen Westfront und Ostfront und gestern und vorgestern. Erstaunlicherweise lässt sich so leben. Schmerzfrei fast. Um mich herum sehe ich Helden, dem Schmutz der Vergangenheit entkommen, sich neu mit ihm bedeckend. Stolz. Unsere tapfre, schuldlose Wehrmacht, hör ich sie rufen. Ich sehe die Reihen der Gehenkten. Und deutsche Soldatengesichter. Lächelnd. Fotografiert für die Lieben daheim. Deutschland fiel vom Hölderlin Zurück auf seinen Mölderlin
Die Pleiße blickt mich forschend an: Dankbarkeit für den Fluss? Ja, sag ich, du bist mein Mississippi und ich bin dein Chronist. Die Fluss-Sätze fand ich in einem deiner Bücher, auf Seite 179, sagt die Pleiße, und 5 Seiten weiter steht, mein treuer Pleißen-Indianer, dein Testament. Die Pleiße nimmt das Buch, begibt sich auf die Terrasse und verkündet den lauschenden Fichten und Tannen mein Gedicht
Entwicklungen
Als ich sieben Jahre alt geworden war, sprach einer im Radio zum deutschen Volk. Das ist unser Führer, hörte ich sagen und lernte, ich sei mit angesprochen. In der Schule sagte ich jawohl. In der Hitlerjugend sagte ich jawohl. Als Soldat sagte ich zwei Jahre lang jawohl. Bis ich nein sagte und meiner Wege ging. Seither reagiere ich misstrauisch, spricht jemand im Namen des deutschen Volkes. Fürsorglich sage ich nein. Besorgt, dass es ein Volk von Ja-Sagern werde. In meinem Alter lerne ich erkennen, das Volk sagt weder ja noch nein. Seine Obrigkeiten sind es, die dem Volk sagen, dass es ja zu sagen habe. Dies ist mein Volk nicht. Seine Intellektuellen sind meine nicht. An ihren Irrtümern nehme ich nicht teil. Ich sage nein und gehe den 3. Weg. (aus Vergiss die Träume Deiner Jugend nicht, Hamburg 1989) Das nächste Kapitel erscheint nach kurzer Sommerpause am Montag,
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Gerhard Zwerenz
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