Der 3. Weg eines Auslandssachsen
Unter dem anspielungsprallen Titel Galgenlieder vom Heute ging ein „Wahlaufruf an unsere Massen“ über die Grenze an meine Hörer- und Lesermassen:
Es ist gekommen
Der superbe Wahlappell erscheint mir heute, ein Halbjahrhundert später, ungemein aktuell. Um nicht den Verlockungen lyrischen Überschwangs anheim zu fallen, fügte ich kleine vier Sätze Pessimismus hinzu: Ich mache Gedichte, antwortete er/ und sie sahen ihn ungläubig an/ dann lachte einer/ und er ging fort. / Er macht Gedichte hörte er hinter sich/ sagen. Es klang aber wie die Diagnose:/ Dementia senilis.
So geschah es, dass ich zwischen alle vorstellbaren Fronten geriet. Dem stern für die Ulbricht-Serie verpflichtet, von Henri Nannen wie Spiegel-Augstein mit Angeboten bedacht, von Herbert Wehner mit internen Materialien versorgt und über seinen wie unseren Freund Leo Bauer betreut, vom SPD-Ostbüro gepflegt, vom Verfassungsschutz misstrauisch beäugt, mit allerlei Agenten bestückt, von Entführung bedroht, lebten wir dahin nicht wie Gott in Frankreich, doch wie ein freier Schriftsteller mit Frau und Kind im katholischen dörflichen Rheinland und endlich mitten in Köln am Barbarossaplatz, wo sich neugierige Besucher selbst dann Zugang verschafften, wenn wir gar nicht daheim weilten. Das Leben ein Krimi? Dies hier ist ein Roman vom Überleben. Die Namensliste unserer Freunde, Feinde und sonstigen zeitgenössischen Würdenträger findet sich in Kopf und Bauch:
Augstein, .Ehmke, Gehlen, Nannen, Harald Jung, Klaus Antes, Galland, Coco, Flick. Finck, mein Schonbezügeverkäufer, Springer, Schmeling, von Studnitz, Jens, Ulbricht, Wehner, Gabriele Henkell, Frau Martens, Martin Morlock, Otto Köhler, Höllerer, Schiller, Max von der Grün, Peter Grubbe, Wilhelm von Homburg, Leni Riefenstahl, Harry Jantze, Herrn Meister, Ingelore Kuhner, Hans Dieter Schmidt, Gerhard Schmid, Hans-Jürgen Schmitt, Gerhard Reitschert, Frau Schmidt, Antje Schmidt, Amendt, Ulrich Enzensberger, die Witwe Ohnesorgs, Arnfried Astel, Baranowsky, Giordano, HaIberstadt, Frau Herbener, Arnold, Suse, Gräfin, Kurt und Liesl, BaseIitz, ein Geheimagent, noch ein Geheimagent und noch ein Geheimagent, Herbert Schön, Henner Voss, Fried, Kalow, der Schornsteinfeger, Peter AIexander, Gonski, Männer (Grubenentleerung), Hundertwasser, Werner Schreib, Mückenberger, Abendroth, Heydorn, Niemöller, PIess, Lamprecht, Vukic, Hamm, Drogist Gutzeit, Schuller, Ruge, Scholz, Griesel, Rühle, Spittmann, Wiegenstein, Reinisch, Ahlsen, Metzger, Besser, Rau, Johnen, Hugo Ernst Käufer, Stefen, Tack, Kühn, Steffen, Hans Sadowsky, Loest, Becher, Bender, Dr. Nö, Hey, Degenhart, Süverkrüp, Neuss, Prof. Bonnatz, Voigt (mit Kamera), Brückner, Beitlich, v. Johnston, Else, Birgit, Höke, Chefportier Schmitz, Altena Mansch, Tsakiridis, Seifer, Casanova, Karl Stülpner, Rosa Luxemburg, Honecker & Stoph …
Hier brechen wir die Namensliste ab. Wer sie komplett nachlesen möchte, sei auf Kopf und Bauch verwiesen, Fischer Verlag 1971, Seite 263 - 65, Fischer TB, Seite 241 - 243 oder auf die Ausgabe MÄRZ im AREA Verlag 2005, Seite 318 - 321. Inzwischen sind die meisten Genannten verstorben oder vergessen oder so unvergessen wie sie hier stehen, oder zur Lektüre an anderem Platz angeboten werden. Namen sind nicht Schall und Rauch, sondern Nachweise generationsbestückter Zeitalter: Vergängnis, Verhängnis, Verdrängnis.
In Casanova oder der Kleine Herr in Krieg und Frieden (1966) verarbeitete ich ein Geschehnis vom Warschauer Aufstand im August 1944.
Hier ist die Geschichte:
Ein deutscher Panzerwagen stand, wie ausgekundschaftet worden war, nachts an einer bestimmten Stelle und sollte einfach weggenommen werden. Tatsächlich gelang der erste Teil des Unternehmens: Den drei Mann Besatzung gingen schon mehrere Nächte hintereinander drei Polinnen um den Bart. Die Schäkerei fand im Flur eines leerstehenden, nur wenig beschädigten Hauses statt. Da auf Befehl des polnischen Abschnittkommnandeurs an dieser Stelle wohlweislich kaum noch geschossen wurde, stellte sich ein vorübergehender Teilfriede ein. Unser Stoßtrupp fand deshalb so gut wie keinen Widerstand, als er sich des schmucken Panzerspähwagens bemächtigte. Die deutschen Posten in der Straße nahmen, als die ersten Schüsse peitschten, unverzüglich Deckung, die Wagenbesatzung lag in den Armen der Polinnen, und der mir zugeteilte Pole Adam schrie wie ein ganzes Bataillon angriffstrunkener Preußen immerzu hurra, während wir ins Innere des Wagens kletterten. Jetzt allerdings begannen die Schwierigkeiten. Erst bekam ich den Motor nicht an, dann fuhr ich den Wagen gegen die Hauswand, dass es nur so krachte. In der Straße entwickelte sich ein regelrechter Krieg, und die Geschosse knallten uns auf die Panzerung. Ich setzte zurück und kam endlich frei. Wir sausten mit Höchstgeschwindigkeit durch nachtdunkle Straßen – man glaubt ja nicht, wie schnell so ein Panzerwagen fahren kann –, verfingen uns im Ruinengewirr, wendeten, schmetterten Sperren beiseite und wussten bald nicht mehr, wo wir uns befanden. Überdies ergaben sich unvorhergesehene Komplikationen insofern, als wir einen Zweifrontenkrieg zu führen gezwungen wurden. Tauchten aus dem zähen Schlamm der Nacht die Idiotenhelme der Wehrmacht oder SS auf, schrie Adam, über mir im Turm stehend, wie verrückt hurra und ballerte mit dem Maschinengewehr los. Ich fuhr dann wie die Feuerwehr in eine andere Gegend, auf welche Weise wir die unübersichtliche Frontlinie im Stadtgebiet mehrmals gekreuzt haben müssen, denn einige Male landeten wir bei den Aufständischen, doch konnten wir uns ihnen nicht verständlich machen, weil sie unseren mit dem Kreuz geschmückten Wagen sofort unter Feuer nahmen, in der selbstverständlichen wenn auch diesmal irrigen Meinung, einen Feind vor sich zu haben. Diesem unaufhaltsamen Krieg gegen zwei Seiten waren wir auf die Dauer nicht gewachsen. Während die Polen uns mit dem Maschinengewehr bepflasterten, meldeten sich die Deutschen mit einem Pak-Geschütz, das unser schönes Fahrzeug aufschnitt wie eine Sardinenbüchse, freundlicherweise aber, ohne Adam und mir was zuleide zu tun. Immerhin vergaß Adam, hurra zu schreien, als er sich davonmachte. Und auch ich ging meiner Wege.
Ich hinterließ einen Panzerwagen, um den jetzt eine größere kriegerische Auseinandersetzung entbrannte, weil sich sowohl die Deutschen, denen er ja gehörte, als auch die Aufständischen, denen er eigentlich auch gehörte, nachdem er im Handstreich weggefahren worden war, um ihn bemühten, welchem Kampf ich nicht ohne seelische Anteilnahme folgte, weil, sagte ich mir, es ja hätte sein können, dass ich noch im Panzer drinnensäße, während die beiden miteinander im Streite liegenden Besitzer ihr Feuerwerk veranstalteten.
In der Tat, ich wäre beinahe nicht rausgekommen, der Beschuss hatte den Wagen zwar seitwärts geschlitzt, doch nicht so weit, dass man dort aussteigen konnte; die für den Ausstieg aber vorgesehenen Vorrichtungen klemmten und erinnerten verteufelt an einen festgeschraubten Sargdeckel, ein Eindruck, den ich auch dann, als ich mich ein ganzes Stück vom Schlachtfeld entfernt hatte, nicht zu überwinden vermochte, mich also dem anhaltenden Schrecken hingab und mir sagte: Mein lieber Freund, diesmal gelang dir deine Haut zu retten. Doch wie lange noch? Das Glück ist launisch und Warschau ein heißes Pflaster.
Ich war auf die Story ziemlich stolz, obwohl sie sich von der irren Realität zum irrwitzigsten schwärzesten Humor reichlich weit vorwagte. Wegen meiner Vorliebe zum vielgeschmähten 3. Weg interpretiere ich die Panzerwagenfahrt zwischen den Frontstellungen gern in diesem Sinne. Hatte Walter Ulbricht nicht angedroht, zwischen den Fronten könne man nur das Leben verlieren? (Folge 82) Wir überlebten, obwohl wir immer hin- und hersausten.
Einheiten kurioser Widersprüche müssen mit Fakten abgesichert sein. Victor Klemperer skizziert in Band 1 seiner Geschichte der französischen Literatur eine „impressionistische Stilkunst“ der autobiographischen Literatur ohne „romanhafte Verkleidung“, aber mit dem „Degen des Achilles“, wie er den „leidenschaftlichen Kampfwillen“ nennt, der in seiner „Einzigartigkeit“ zum „Vorspiel einer spezifisch sozialistischen Kunstsparte“ führe, „der Reportage und des operativen Genres.“ Derlei kann man heute in einigen modernen US-Reportagen und in den Folgen von Schröder erzählt (März Desktop-Verlag) finden. Jörg Schröder reagierte konsequent auf den gegenwärtigen Kulturzustand und beliefert als sein eigener Kleinverleger im Abonnement ein Publikum, das geneigt ist, auf gängigen modischen Schnickschnack der Unterhaltungsindustrie zu verzichten. Die antipodische Erzählhaltung bewog mich vor Jahren, erotische Satire und den spitzen Politporno aufzugeben, denn derlei wurde indessen gesellschaftsfähig und gar werbewirksam, also gewünscht. Wer heute dem teuren, kaputten Zeitgeist entgegnen will, betreibt besser Objekt-Reportage wie Schröder oder Subjekt-Reportage mit romanhaft-
Das bringt mich auf die Frage, ob die hier vorgelegten Kapitel zur Sparte Belletristik, Sachbuch oder den Abenteuergeschichten einer Mondfahrt zählen. Ich ziehe es vor, keiner Sparte zugerechnet zu werden. Genauer gesagt: Diese Autobiographie ist wie ein Gedicht gearbeitet. Und ein Gedicht ist so gut, wie es autark ist
Nach der Rückkehr aus Russland ging ich ungern zum Friseur, was ich vor mir selbst mit der jahrelang gewohnten Gefangenen-Glatze begründete. Als sich herausstellte, dass Alfred Eickworth, der uns Kindern regelmäßig die Haare geschnitten hatte, als Deserteur auf der Flucht vor den eigenen Kameraden tödlich verletzt worden war, dämmerte mir, was in Gefühlstiefen rebellierte. Sobald die Schere schnipselte, rückten mir Haareschneiden und erschossen werden alarmierend zusammen. Das mögen die Friseure dieser Welt verzeihen, gern wäre ich ihr Kunde geblieben. Schon unser Nachbar Grimmelshausen dichtete: „Ja der Soldaten böser Brauch / Dient gleichwohl dir zum besten auch.“ Zur nachgestellten Erläuterung: Der über dreihundertjährige Simplicius Simplicissimus aus dem katzensprungnahen Gelnhausen weilt mitunter in unserm Taunus auf Besuch zum Zwecke Meinungsaustausch zwischen Kriegskameraden.
1914 zogen die Sozialdemokraten wortbrüchig mit dem Kaiser Wilhelm Zwo in den Krieg. Von 1918 bis 1923 bekämpften sie mit des Kaisers obersten Militärs die Revolution, bis die Straßen frei wurden für die braunen Bataillone und die Generäle sich mit dem 2.Weltkrieg revanchieren durften. Das Volk, unzufrieden mit dem SPD-Reichspräsidenten Ebert und seinem Noske, wählte Hindenburg zum Nachfolger, dem Hitler nachfolgen durfte, und immer wiesen clevere Juristen die Legitimität und Legalität der Übergänge zur nächsten Stufe der Verbrechen nach.
Es ist alles eine Frage des Vertrauens. Paule Hindenburg bestand bis zu den Stiefelsporen aus Vaterland, Manneszucht und Gottesfurcht. Hitler trug weniger Bart, doch die Wehrmacht schlug sich für ihn bis fünf nach zwölf. Zuletzt waren die braven Hitlerjungen am Zuge. Befehligt von Generälen, die sich aufsparten, um später als Adenauers Generäle die NATO-Bundeswehr aufbauen zu können. Die Herren Hauptmänner und Leutnante waren immer tüchtig dabei. Auch die Sozis reiten so mit, wie Ebert die Partei gesattelt hatte. Es wiehert des Schinders Mähre bis an den Hindukusch.
Unsere Geheimdienstphobien entbehren nicht der guten, also schlechten Gründe, die wuchernden Krebskrankheiten eigen sind. Als ich Ende 1956 nach Harichs Verhaftung von seinen Verbindungen zum Westberliner SPD-
Sachsen ist voll zauberbunter Vögel. Man sollte sich ihrer freuen. Das Land mag heute schwarz glänzen. Einst war es eine erinnerungswerte Widerstandsprovinz, die Friedhöfe sind voll von den im Dritten Reich Verfolgten und Hingerichteten. Kein Grund, sie zu verleugnen, erst recht nicht, wenn rings in der Provinz Neonazis die Klappe aufreißen. Lautstark auch viele Kleingeister, die Stalins Opfer gegen Hitlers Opfer ausspielen. Was ist mit unseren Genossen Janka und Zöger, die unter Hitler und Stalin im Zuchthaus saßen? Als Heinz Zöger nach Jahren freigelassen wurde, ging er in den Westen und stand eines Tages vor unserer Tür. Wir wohnten damals am Rhein und wurden für so manchen politischen Ex-Häftling zur Auffangstation. Am Beginn aller dieser Tragödien steht der 1. Weltkrieg als Urkatastrophe mit dem 2. Weltkrieg als krimineller Wiederholung und Eskalation.
Nietzsche, unweit Leipzigs in Röcken geboren und dort bestattet, soll wie der ganze kleine Ort zu Braunkohle verarbeitet werden, was gerade mal wieder offiziell dementiert und heimlich doch weiter geplant wird. Man hüte sich davor, das Grab anzutasten, Philosophenknochen geben eher kaltes als warmes Feuer her. Nietzsche mahnte, das Kleine und Geringe nicht zu vergessen und, wenn schon ein Buch geschrieben werden müsse, es als „jasagendes Buch“ (Ecce homo) zu verfassen. Mir kommt da gleich Mama Pleiße in den Sinn – für stumpfsinnige Zeitgenossen ein schmutziger, übelriechender Fluss – für Karl May samt Mulde Ansporn, sich vom Kleinkriminellen zum Großschriftsteller emporzuschreiben. Mir ist die Pleiße das Taufbecken des gläubigen Atheismus. Meine Lobrede auf die kleine Pleiße folgt der geheimnisvollen Dramaturgie sächsischer Ekstase, auf dass wir nicht im Sachsensumpf versinken.
Im Moment wird Sächsisch gerade mal wieder als unbeliebtester Dialekt gehandelt. Der superbe sächsische Schauspieler und Kabarettist Uwe Steimle spricht ein sympathisches Sächsisch. So ähnlich dürfte die Meisner Variante geklungen haben, von der Goethe schwärmte, der allerdings durchs Frankfurter Babbelhessisch nicht gerade verwöhnt war. Kein Zweifel, es gibt ein Sächsisch, das wie geohrfeigt klingt. Wenn's aus Stuttgart tönt, man könne alles außer Hochdeutsch, darf der Sachse antworten: Ich kann auch hochdeutsches Sächsisch. Richard Wagner, Friedrich Nietzsche sächselten. Wagner flüchtete auf heroische Opernbühnen. May dichtete sich abenteuernd bis in den glasklaren Silbersee, wo der Schatz (Gral) zu finden ist. Nietzsche schrieb ein so kristallen hohes Deutsch, dass seine Jünger gar nicht gewahr wurden, wie viel kriegerischer Quark im schönsten Stil verborgen sein kann. Wie sagt doch unser Dresdner Steimle, der vom Bildschirm ferngehalten wird: „Dinge, die ungerecht sind, müssen auch so bezeichnet werden.“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.6.09)
„Über 300 Seiten lang hagelt es Schmähungen und Kritik: Walter Ulbricht ist ein ›missratener Sachse‹ und verkörpert ›negatives Proletariat‹; der Franco freundliche CSU-Politiker Richard Jaeger wird aufgefordert, sich ›von seiner Kirche exkommunizieren (zu) lassen‹; der Ostberliner Lyriker Stephan Hermlin ist ein ›literarisch lizenziertes Masttier‹; der Fall Globke signalisiert ›das wirkliche Halbstarkenproblem‹ der Bundesrepublik ... Autor dieser rüden Allround- Soweit der Spiegel 1961 noch vor dem Bau der Mauer. Vergeblich geschimpft und einen 3. Weg gefordert?
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 13.07.2009.
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Gerhard Zwerenz
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