Drei Liebesgrüße für Marcel
In einer WDR-Talkshow verteidigte ich den öffentlich Angeklagten aus dreierlei Gründen: Die allgemein einsetzende Hatz auf Verdächtige mochte ich nicht mitmachen. Über Reichs Verhalten zu urteilen stand unbetroffenen Wessis nicht zu. Endlich der dritte Grund: Mir war bekannt geworden, dass Marcel Reich {noch ohne Ranicki) den Warschauer Aufstand 1944 in einem Kellerversteck überlebte, und diese Information traf mich ganz und gar persönlich, war ich doch in den ersten Augusttagen 1944 einer Kampfgruppe zugeordnet worden, die nach Stuka-Bombenangriffen Straßenzüge und Häuserkomplexe einzunehmen hatte, was mich endgültig bewog, am 18. August von der Fahne zu gehen. Der Gedanke, in den Warschauer Trümmern auf den damaligen Marcel Reich zu treffen, machte mich von jetzt an unfähig zur Polemik gegen ihn. Selbst als ich in meiner Staatssicherheitsakte einen kuriosen mit M. R. unterzeichneten Spitzelbericht fand, der auch in Inhalt und Form auf Reich hindeutete, machte ich keinen Gebrauch davon. Ich erwähne das Papier hier und heute zum ersten Mal, weil inzwischen andere davon wissen. Rückgriffe auf solche Vergangenheiten halte ich für illegitim, es sei denn, es geschieht in Romanen, doch vor dieser schweren, nein schwersten Kunstform scheuen die Vergangenheitsbewältiger zurück wie Pferde vor unerwartet hohen Hindernissen.
Leo Tolstois Krieg und Frieden entstand ein Halbjahrhundert nach Napoleons Russlandkrieg, ein Halbjahrhundert nach Hitlers Russlandkrieg ist die Literatur postmodern, infantil und feige. Marcel Reich-Ranickis Fernsehstunde über Bücher ist mitsamt aller Faxen die legitime Rache eines Verfolgten, der, einst außer Landes getrieben, der Meute nun nach Herzenslust Saures gibt oder Zuckerwerk. .
Eines aber verüble ich dem tv-Charmeur bis ins übernächste Jahrtausend – in einem Gespräch zur Sache äußerte er 1971, Schriftsteller seien vor Geheimdiensten sicher, denn „was kann ein Schriftsteller schon Wichtiges wissen.“
Bei dieser Antwort blickte der Literaturherr so treuherzig drein, dass ihm geglaubt wurde und alle Leute mein Lachen als so unpassend empfanden, wie es nun wirklich nicht war.
Dieses Kurz-Porträt steht so in Krieg im Glashaus oder Der Bundestag als Windmühle – Autobiographische Aufzeichnungen vom Abgang der Bonner Republik, im Jahr 2000 erschienen in edition ost, Berlin und ist keines Zusatzes bedürftig.
Die Redseligsprechung begründet der FAZ-
Tucholsky als politisch sich fortwährend irrender, kranker Mann also, krank, als er Büchners und Kafkas Werke lobte, den faschistoiden Arnolt Bronnen verriss? Diese Folgerungen verwundern nicht, engt man, wie Reich-Ranicki es tut, Tucholskys Produktivität allein auf die „Angst“ ein. Was kann man von einem derart ängstlichen Schriftsteller schon erwarten. Mitschuld am Untergang der Weimarer Republik zum Beispiel: „Gerade diese extreme Figur macht das Exemplarische augenscheinlich.“ Tucholsky demnach ein Extremist – im Zeitalter des Extremistenerlasses wahrlich eine äußerst geschmackvolle Formulierung. Doch M-R-R lastet dem KT noch mehr an: er habe „die politische Publizistik auf fatale Weise feuilletonisiert“. Wie soll man dann bloß nennen, was Reich-Ranicki treibt?
Von den sachlichen Fehlern in diesem unsachlichen Text gar nicht zu reden, oder doch, wenigstens in ein paar Exempeln: Da heißt es, Tucholsky habe den Goethe-Spruch auf seiner Grabplatte selbst ausgewählt. Was nicht zutrifft. Da erfährt der Leser, Tucho habe sich von Mary getrennt. Es war umgekehrt. Da wird „eine Hinwendung zum Katholizismus“ als dem „zentralen geistigen Ereignis seiner letzten Jahre“ konstatiert, belegt mit ein paar Zitaten, zu denen sich mindestens ebenso viele Gegenzitate anführen ließen.
Von den Fehlern zu den Fehlinterpretationen: Da wird Lisa Matthias an Giftigkeit noch übertroffen mit Behauptungen dieser Qualität: „Im Grunde waren ihm die ›Geschundenen‹, jene also, in deren Namen und in deren Sache er zu schreiben vorgab, fremd.“ Was eine elende Ehrabschneidung gerade bei diesem Autor ist. Beziehungsvoll setzt Reich-Ranicki die Geschundenen in Anführungsstriche. Konsequenterweise zitiert er aus einer 1941 (!) veröffentlichten Literaturgeschichte von Josef Nadler: „Kein Volk dieser Erde ist jemals in seiner eigenen Sprache so geschmäht worden wie das deutsche Volk durch Tucholsky.“
Das stimmt zwar nicht, doch sollte M-R-R, von dem man weiß, dass er viel und gern liest, mal wieder bei Goethe nachblättern, der sagte: „Ich habe oft einen bitteren Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen ist. Eine Vergleichung des deutschen Volkes mit anderen Völkern erregt uns peinliche Gefühle, über welche ich auf jegliche Weise hinwegzukommen suche …“
Klassiker, was nun? Runter vom Olymp? Auf die Goethe-Doppelseite in der FAZ darf man gespannt sein. Der Essenz nach hat Tucholsky nie Kritischeres geschrieben über sein Vaterland … Ähnlich undifferenziert wie Tucholskys „Anti-Deutschtum“ wird auch wiedermal sein „Antisemitismus“ denunziert. Reich-Ranicki stützt sich dabei auf ein „Ver-Urteil“ von Gershom Scholem, der Tucholsky „einen der begabtesten und widerwärtigsten Antisemiten“ nannte, welche Einschätzung durch die ständige Wiederholung nicht zutreffender wird. Um Scholem einmal anders als immer nur in diesem Anti-Tucholsky-Zitat zu präsentieren, sei hier ein Kurz-Porträt wiedergegeben, das sich bei Robert Neumann in seinem Tagebuch Vielleicht das Heitere findet. Neumann sollte als Jude einigermaßen gefeit sein gegen antisemitische Vorwürfe. Er schreibt: „Man könnte sich hier sehr verbreiten, wollte man antiisraelisch sein. Man will es nicht. Man widersteht der Lockung. Erinnere dich an diesen in all seiner brillanten Gescheitheit ein wenig größenwahnsinnig wirkenden Eranos-Mystiker Gershom Scholem und seine sympathische, lebendige, leider judäofaschistische Frau, die für Augenblicke den Ehrgeiz zu haben schien, sich über sich selber lustig rnachend ein Jerusalemer Pendant der Nazisse Scholz-Klinck zu sein – unsere Tischrunde attackierend: ›Warum kritisiert ihr lsrael, statt hinzugehn und es besser zu machen? Warum kommen Sie nicht, Professor Goldstein?‹ Darauf dieser reizende Fünfundachtzigjährige aus New York, ein weiser Mann: ›Warum ich nicht komme? Es ist mir bei euch nicht jüdisch genug.‹“
Soviel zum Tucholsky-Kritiker Scholem und seiner Frau. Da wir nun einmal bei den jüdischen Autoren Tucholsky und Scholem, Reich-Ranicki und Robert Neumann sind, sei hier der Vollständigkeit halber noch zitiert, was Neumann über Reich-Ranicki sagt: „Ich muss mich von meiner Antipathie gegenüber diesem Mann freimachen und das dämpfen … Dieser Ranicki hat über Bücher von mir selten Gutes gesagt und oft Schlechtes; zu Unrecht Schlechtes, doch glaubt man das immer. Derlei ärgert einen, wenn es erscheint … am übernächsten Tag fragt man sich: vielleicht hat der Mann recht …. Diese sympathische Überlegenheit gegenüber Kritikern bringt man nur auf … wenn man einen Kritiker für einen ohnedies von niemandem ernst genommenen Dummkopf hält.
Damit bin ich, diesen Ranicki betreffend, der Wahrheit schon um einen Schritt näher. Ich halte die von ihm verrissenen Arbeiten für gut; er und ich ziehen politisch (bis auf Einzelheiten, Kleinigkeiten) am seIben Strick; also wäre sein Verriss nur zu pardonieren, wenn ich ihn für einen Dummkopf hielte. Ich halte ihn aber für alles andere als einen Dummkopf… vielleicht entdecke ich doch noch und trotz allem, dass er ein Dummkopf ist? … Derart überprüft, erweist sich dieser Ranicki als ein Mann von flinker Intelligenz und als höchst beredt, aber wie soll man es sagen? Er wird jedem literarischen Thema auf eine zeigefingerwackelnde Manier sehr gerecht, ganz ohne Humor, aber doch so, dass man sich sagt: stimmt, stimmt, nur: wo lässt das aus, warum ist dieser Mann so ahnungslos bezüglich des Wirklichen, der oberen Hälfte, auf die es ankommt, wenn das von ihm bezüglich der unteren Hälfte Gesagte auf eine beredte Weise (gut, zugegeben, eine ledern beredte Weise) so überaus richtig ist? Ich ertappe mich bei dem Gedanken: vielleicht hat dieser Mann mit dem flinken Hirn einfach auf eine subtile Art seinen Beruf verfehlt? Wenn er nun nicht Litterateur geworden wäre – ja: was, am ehesten? Ein höchst tüchtiger, ja geradezu brillanter Floor Walker oder Abteilungsleiter in einem Warenhaus? Nicht die Textur von ›Texten‹ befingernd, sondern die Textur von Textilien? … Das hier geht über das Maß der für mich durch die Sache gegebenen Aggression hinaus. Warum? Vielleicht weil dieser Ranicki gleich mir ein Jude ist? ›Jüdischer Judenhass‹ – das will zu Ende gedacht sein.“
Wollte ich Reich-Ranicki für einen Roman-Entwurf so sehen, wie Simone de Beauvoir in ihrem fabulösen Buch einst Arthur Koestler schilderte – Marcel also als einen Mandarin nicht von Paris, sondern von FAZ-Frankfurt, setzte ich an den Anfang diese liebenswürdigen Zeilen aus Sklavensprache und Revolte, wo es im Kapitel Hassproduktionen heißt: Den Literaturpapst ernennt die Frankfurt-Mainer Oberbürgermeisterin dafür im Handumdrehen zu Goethe II. Gerührt kopiert Marcel den Olympier im TV-Licht zum Steinherzerweichen. Sein ganzes zweites Leben lang hatte M.R.R. die Böll, Grass, Walser kleingehackt und Tucholsky in der FAZ seitenlang beschimpft, all seine Liebe auf Wolfgang Koeppen richtend, der mit seinem Treibhaus längst den Tod in Rom gefunden und sich bis aufs letzte Komma leergeschrieben hatte. Unser Kritiker bejubelte seinen Mann, von dem nicht wie bei Walser-Böll-Grass neue Werke drohten, die er dann hätte niedermachen müssen, sich selbst auf die ersehnte Geistesheroenhöhe zu katapultieren.
Der Vorgang ist nichts Besonderes, sondern normal in vornehmen Kreisen vom Medien- bis zum Bestattungswesen, wo überall exklusiver Konkurrenzdruck herrscht. Wer Boss sein will, muss sich Platz schaffen. Reich-Ranickis Buch Mein Leben krönte dann auch 1999 bei seinem Erscheinen die literarische Ernte des Jahrgangs und schaffte es 2009 in Teilen verfilmt bis ins Fernsehen. In den Warschau-Kapiteln enthält das Buch sogar einen Hauch von Primo Levis Wann, wenn nicht jetzt? Hier nun noch eine kleine Kritik, die ich mir als alter Reich-Ranicki-Kenner erlauben darf. Er hätte sein Buch wie Levi Roman nennen sollen, es wäre ein Zeichen höchster Ehrlichkeit gewesen. Doch welcher Autobiograph will sich dazu schon durchringen.
Soeben meldet unser PEN-Zentrum, das vom 14. bis 17. Mai in Görlitz seine Jahrestagung abhalten will, schon vorher und in aller Eile solle dort am 22. April ein PEN-Vorkongress zum Thema „Flucht und Vertreibung - Das Gedächtnis der Literatur“ stattfinden, dabei gehe es „um die Rolle von Erika Steinbach.“ Gut so, denke ich. Dort könnte Marcel Reich-Ranicki über seine Vertreibungen und den jüdischen Aufstand 1943 in Warschau sprechen. Ich könnte mich über den nationalpolnischen Aufstand 1944 äußern und wie ich mit polnischer Hilfe von der Wehrmacht zur Roten Armee flüchtete. Grass erzählt vom verlorenen Danzig und warum er als Soldat der Waffen-SS mitten im Wald Hänschen klein sang. Hermann Kant berichtet, wie er in Warschau jahrelang aufbauen durfte, was deutsche Kameraden zerstört hatten, weshalb er nach seinem Aufenthalt im Gefangenenlager Genosse wurde und Romane schrieb. Erika Steinbach aber laden wir ein, uns zu erklären, warum ihr Papa, der Besatzungssoldat mit Familie das Land verlassen musste, das er im Krieg erobert hatte. Soweit meine Vorschläge. Der PEN jedoch will, so lese ich, einige junge Wissenschaftler der 2. oder 3. Flüchtlings- und Opfergeneration aufbieten, die uns das Thema „Flucht und Vertreibung“ erläutern sollen.
Anschließend wird der PEN geschlossen der SPD beitreten, wie Grass aus vormals Danzig predigt, und die Partei entschließt sich aus lauter Dankbarkeit, Erika Steinbach als deutsche Botschafterin nach Warschau zu entsenden.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 27.04.2009.
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Gerhard Zwerenz
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