Auf der Tagung der Gruppe 47 im Herbst 1959 in Elmau suchte ich Uwe Johnson von der Notwendigkeit zu überzeugen, Unterschriften zu einer Solidaritätserklärung für meine in der DDR verurteilten Freunde Harich, Janka, Just, Zöger, Loest zu sammeln. Bei Gesprächen mit einzelnen Mitgliedern der Gruppe hatte ich ein höfliches Desinteresse gefunden, und Johnson war der absolute Tiefpunkt. Als ich nachsetzte, begriff ich, er war so uninformiert wie egozentrisch, kannte nur den Harich-Fall und fürchtete, bei irgendwem in irgendwelchen Verdacht zu geraten, exponierte er sich für Wolfgang Harich.
Dabei hatte unsere Wiederbegegnung ihren Reiz. Johnson war in Leipzig gelegentlich zu Blochs Vorlesungen erschienen, als sie noch nicht im Hörsaal 40 der Alten Universität vor großem Publikum stattfanden, sondern im Philosophischen Institut am Peterssteinweg. Bei einer Vorlesung kam ich zu spät, der Raum war gedrängt voll, Johnson hockte gleich hinter der Tür, ich trat ihm auf den Fuß. Jetzt auf der 47er Tagung stieß ich ihm versehentlich eine Tür gegen das Knie. »Sie haben was gegen mein Bein!« knurrte er. »Wo ist der Schnaps?« fragte ich. Er hatte drei Jahre früher in Leipzig ein Fläschchen aus der Jacke gezogen und widerwillig einen Schluck abgegeben. Nie fand ich heraus, war er von Natur im Tran oder von König Alkohol gefangen. Wahrscheinlich beides. Sein Buch über den Radmeister Täve Schur las ich als sprachhumoristische Veräppelung. Sonst langweilte mich die prinzipiell ungenaue Umständlichkeit seines Schreibens, und seinen Stil hielt ich für aufgesetzt, was ich ihm so glattweg sagte, wie er es reaktionslos hinnahm. Johnson nahm nirgendwo wirklich teil, bezog aber alles auf sich. Am irrwitzigsten war sein Verfolgungswahn. Stets und überall argwöhnte er, von eigens auf ihn angesetzten Geheimagenten umgeben zu sein. Dabei war seine offizielle Ost-West-Übersiedlung der Beweis des Gegenteils. Während normale DDR-Bürger sich ihrem ungeliebten Staat durch Flucht entziehen konnten, erlangte Johnson per Fürsprache eine legale Übersiedlung und besaß die Unverfrorenheit, das überall stolz hervorzukehren. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen sei er eben nicht geflüchtet, vielmehr »übergesiedelt", habe seinen »Wohnsitz im Westen genommen« und wie die edlen Formulierungen noch lauteten, die er reichlich gebrauchte, um sich abzugrenzen von der dumpfen Volksmasse. Hatte ich Johnson vor dem 47er Treffen als skurriles Genie angesehen, vermutete ich später, er leide ebenso wie wir alle an Verfolgungswahn, nur bildete er es sich lediglich ein, während wir anderen ja wirklich ausgespäht und abgehört wurden. Uns verschwammen zwar mitunter die Grenzen, wo die reale Bedrohung in die eingebildete überging, Johnson erfand sich Gefährdungen, denen er gar nicht ausgesetzt war. Er zog, als wahrer Dichter, das Leid der Welt auf sich und begriff sich als Widerständler und Verfolgter, so dass er seinem ureigensten Selbstverständnis nach nichts als eine Figur seiner Dichtung war, noch bevor sie von ihm niedergeschrieben wurde. In irgendeiner meiner Geschichten oder Notizen schilderte ich eine spätere Berliner Begegnung mit Johnson, der, als ich noch an literarischen Treffen teilnahm, plötzlich neben mir auf einen Stuhl plumpste. In seiner schwerfällig stockenden Art begann er über mein Buch Ärgernisse zu reden, das er offenbar mit Verspätung von 1 bis 2 Jahrzehnten wahrgenommen hatte. Die gemeinsame Leipziger Vergangenheit nutzend, begann er unvermittelt von der Tagung der Gruppe 47 in Elmau zu sprechen. Wenn ich ihn recht verstand, suchte er sich für sein mürrisches Desinteresse gegenüber den DDR-Häftlingen zu entschuldigen. Wobei ich das Wort »entschuldigen« nur zögernd hinschreibe, es war mehr eine versuchte, gestammelte Erklärung, die die Sache eher verunklarte. Inzwischen wusste ich, Johnson war nicht verstehbar. Man musste ihn nehmen wie einen Mythos. Daran lässt sich lange herumrätseln, und jeder Rationalisierungsversuch kommt dem, der sich so intellektuell auf die Socken macht, zugute, hob er ihn doch im Imagewert bei seinesgleichen, wo das Rätseln dem Verrätseln dient, nicht dem Enträtseln. Johnson stand in der Gegend herum als eine Statue untergegangener Kulturen, wie jene Steingestalten auf den Osterinseln, von denen wir auch nicht wissen, was sie bedeuten. Er wurde für mich zur ehernen Randfigur unserer irren Welt, und als ich hörte, wie vereinsamt er sich zu Tode gesoffen hatte, nahm ich es als den Schlusspunkt einer Bewegung, deren Richtung von Anfang an dorthin zielte. Den Mann hatte ein Missverständnis auf unsere Erde verschlagen. Wo so einer auch anlandet, er ist und bleibt stets Robinson Crusoe, und sei er von Millionenmassen von Menschen dicht umgeben. Er ist allein. Uwe Johnsons Paranoia wurde ihm zum kreativen Prinzip. Er erfand und erdichtete sich seine eigene Verfolgung, um darauf mit Schmerzen reagieren zu können. Das ist wie bei Kafka, nur weniger plausibel. Bei unserer Berliner Begegnung zog ich Johnson seiner Sprach-Mollusken halber auf, denn in Leipzig war er noch des Lapidaren mächtig gewesen. Er mümmelte dafür an meinen erotischen Geschichten herum, die für mich als einem politischen Schriftsteller unwürdig seien, was ich mit Verweis auf Arthur Koestler konterte, der bankrotte Zeiten mit Pornografie oder was die literarischen Gummibärchen dafür halten, überdauerte. Tatsächlich bewahrten meine erotischen Bücher mich davor, meinen Wagen an große Züge ankoppeln zu müssen oder goldenen Götzen zu dienen. Johnson nahm das hin, d.h. sein Gesicht drückte missbilligende Akzeptanz aus. Dann fragte er nach Koestler, von dem er offenbar nichts wusste, den hatte Hans Mayer weder in Leipzig noch danach in Hannover gelehrt. Die Tagung der Gruppe 47 in Elmau im Jahre 1959 beraubte mich aller schönen Illusionen. Es gab nichts als eitles Gespreiz, Klugscheißerei und stolze Welt-Unkenntnis. Von den mich interessierenden Autoren waren weder Andersch noch Böll oder Koeppen da. Als Höhepunkt inszeniert war eine Lesung von Ingeborg Bachmann, deren Lyrik ich schätzte, die sich hier aber einen so unglaublich gespreizten Prosatext abstammelte, dass nur das kollektive Lob der versammelten Kritiker noch peinlicher wirkte. Diese Leute hatten folgsam und einer geheimen Regie folgend auch die letzten Reste von Verstand an der Elmauer Schlossgarderobe abgegeben. Entsetzt begriff ich, diese Autoren und Kritiker scheuten nicht nur den Ruch des Antikommunismus, dem sie sich auszusetzen glaubten, unterschrieben sie ein paar solidarische Sätze für meine und ihre in der DDR inhaftierten Kollegen, sie spielten überdies die Rolle progressiver Intellektueller lediglich aus taktischen Gründen. Das Bonner Deutschland benötigte eine literarische Linke, damit das Ausland beruhigt würde. Aus der Wut, mit der die deutsche Rechte die Gruppe 47 mystifizierte, erstand der Gruppe ein Selbstverständnis, das ihr nicht aus eigener Leistung zukam. Die akrobatische Leichtigkeit, mit der diese Intellektuellen später zu gegebener Zeit der linken Verpuppung entschlüpften und sich opportunistisch je nach Lage des Zeitgeistes national, patriotisch, deutschvaterländisch neu gürteten, dementiert das damalige Rollenspiel. Walser als Kreuther CSU-Ehrengast, Enzensberger als Kriegspropagandist gegen die Volksmassen der 3. Welt, es sind die Wandlungen West wie die Biermanns von Ost nach West. Alles andere ist draufgeschmierter universitätsgermanistischer Kunsthonig. Bevor Johnson in Berlin so auffallend wie tapsig das Gespräch suchte, hatte er mich gemieden und Verlegenheit erkennen lassen, sahen wir uns nur von weitem. Während einer PEN-Tagung sprach mich Hermann Kesten auf Johnson an und rückte bald mit seiner Meinung offen heraus: »Ich halte den Mann für einen Agenten!« Verblüfft stotterte ich herum und nahm Johnson in Schutz. Dass Kesten später eine Kampagne startete, die Johnson sehr schadete, im Nachhinein allerdings auch wieder nützte, weil nun alle bewussten und unbewussten DDR-Kulturagenten für ihn die Propagandatrommel rührten, hatte jedenfalls nichts mit mir zu tun. Ich bestätigte Kesten in seinem Verdacht nicht. So weiß ich bis heute nicht, wurde Johnson das Opfer seiner geheimdienstlichen Verpflichtungen oder Dienstleistungen, so dass er sich in jene Schizophrenie flüchtete, die das Leben auf zwei Ebenen sortiert oder war auch seine Paranoia eine Stellvertreter-Erscheinung, wie er sein Leben stellvertretend lebte: Nie real im Konflikt der Zeit, stets nur eingebildet. Ich war mir später ziemlich sicher, dass Johnson ein bloßer naiver Dichter sei, sein Verfolgungswahn also Einbildung, doch wenn es anfangs anders gewesen sein sollte und die geheimen Instanzen Johnson gezielt in den Westen ausreisen ließen, dann musste dieses Wissen den Mann auf die Dauer abtöten. Er war dem nicht gewachsen. Sein Reich war die Luft, die Luftmalerei, das Gewölk über einer Landschaft aus Blei. Johnson litt an etwas, das er nicht sagen konnte oder nicht zu sagen wagen konnte. Was ich zu seinen Lebzeiten nicht als so tragisch und schwerwiegend empfand wie danach. Johnsons verschrobener Manierismus, eine Querentwicklung mecklenburgischen Platts zum alkoholischen Dialekt amüsierte mich, empfand ich doch als Kunsthonig, was die Germanistik Kunstsprache nannte. Ich kannte Johnsons ursprüngliche Normalsprache in ihrer charmant-schwerfälligen Diktion unumstößlicher Lakonie. Dem in Leipzig gesprochenen Sächsisch gegenüber erschien mir Johnsons Alltagsidiom als Relikt aus Luthers Wartburger Zeit. Seine umständliche Begrifflichkeit, wo nicht gezielt gesetzte Begriffsstutzigkeit konnte als ein Widersprechen erscheinen, das vor der Klarheit des Widerspruchs unschlüssig innehielt, eine Form von Humor, der die Gewichte und Bedeutungen verdreht. Gerade weil mir die Johnsonsche Normalsprache vertraut war, erschien mir seine spätere künstliche Erzählsprache wie Selbstparodie, wenn auch immer zwei Nummern zu ambitioniert, nein hochgestochen behäbig bis ungenau. Johnsons Kunstsprache fehlten die Pausen, die sein reales Sprechen kennzeichneten und die er im Roman durch Dehnungen des Materials ersetzte. Die daraus resultierende Abwesenheit der Inhalte, die Dürftigkeit von Information, eine Tatsachen-Unkenntnis, die von Andeutungen und Mutmaßungen überdeckt wurde, all dies ließ mich zu einem unzufriedenen Leser werden, denn ich vermisste die rätselhafte Klarheit eines Kafka oder, zögen wir uns auf ein anderes Feld zurück, die norddeutschmagische Wortgewalt Hans Henny Jahnns, in dessen Fluss ohne Ufer oder Perrudja ich gerne las, um mich von Johnson zu erholen, der mir wie ein vergeblicher Jahnn-Adept vorkam, bis hin zum Inselspringen. War der eine auf die Ostsee-Insel (Bornholm) geflüchtet, zog der andere eine steuerbegünstigte Kanalinsel vor, wo er sich vollaufen ließ bis zum Tode. Als ich Johnson auf Elmau 1959 um ein Zeichen der Solidarität mit meinen in der DDR verhafteten Genossen ansprach und bei ihm wie bei anderen – ausgenommen Günter Grass – kein Gehör fand, erkannte ich nicht ohne Bitterkeit den grundsätzlich unsolidarischen Charakter von Literaten, die sich verhalten, als sei Gustave Le Bon ihr Stammvater – in der Gruppe senkt sich das Niveau jedes Einze!nen, die Macht der Massen führt zur tyrannischen Gewalt egozentrischer Gleichgültigkeit. Ich prophezeite Johnson eine große Zukunft und suchte fluchtartig die Nähe zu den Gewerkschaften, ein Notbehelf gewiss, doch fanden sich dort Ansätze von Kollegialität. 99 Prozent der Schriftsteller aber sind verhaltensgestörte Monomanen, deren Unfähigkeit zur Solidarität nur noch von ihrem bedenkenlosen Egoismus übertroffen wird.
»Auch diese Anthologie wird einmal mehr bestätigen, dass Uwe Johnson als Charakter nicht fassbar ist.« Nur als Charakter? Er war aus einem fernen Mecklenburg gekommen, nahm an der Pleiße Statur an, wich geheimnisvoll nach Ostberlin aus und eskalierte anschließend zum westdeutschen Welträtsel. Allerdings vergaß er seine an der Leipziger Karl-Marx-Universität aufgetankten Erkenntnisse nicht. Noch 1969 rügte er in schöner Konsequenz die Bonner Republik: »Man hat weder die Konzerne zerschlagen, noch eine Bodenreform durchgeführt; der Krieg hat weder zu einer Neuordnung der Vermögenslage geführt, noch einen wirklichen, wirksamen Antifaschismus hervorgebracht.« Folgte eine Klage über »politische und Kriegsverbrecher in der Regierung und Armee.« War also doch etwas dran an Hermann Kestens Agenten-Verdacht? Falls ja, dann in einem anderen Sinn. Wir werden darauf zurückkommen. Am Montag, den 10. März 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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