Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
In der Zeitung für Reiche und solche, die es werden wollen, erschienen 2004/5 immer öfter Todesanzeigen für Wehrmachtsoldaten. Weil die letzten Schlachten des 2. Weltkriegs runde 60 Jahre zurücklagen, gedachten die Überlebenden ihrer Gefallenen von 1944/45. Sie wollten nicht wissen, dass damals viele Soldaten über sich selbst fielen und aus lauter Angst vor Gefangenschaft den Tod im Kampf oder den direkten Selbstmord wählten. Dabei hätten zu dieser Zeit 95% als Gefangene überleben können. Doch wer das Leben fürchtet, findet den Tod express.
Das Ende der mittleren Ostfront samt Warschauer Aufstand erlebte ich live. Es war nicht besonders reizvoll. Den Reiz liefern erst die schönen Filme unserer deutschen Untergänge in Farbe. Anfangs animierten mich die Kunstwerke zu heftigen Einsprüchen. Inzwischen reagiere ich mit ästhetischer Melancholie.
Geschichte ist erzählte Verleugnung, Kriegsgeschichte die Zubereitung zum Zwecke der Wiederholung. Das beginnt stets mit Realitätsverkennung.
Am 27. 9. 2004 las man per Trauerannonce über einen am 27.9.1944 zu Tode gekommenen Oberfeldwebel von einem Jagdgeschwader, das „Wilde Sau“ hieß: „Er schützte seine Heimat und seine Familie.“ Ich stelle mir die Heimat samt Familie der „Wilden Sau“ vor und summe die Nationalhymne.
Erfahrung ist nicht mitteilbar, nur die Information von Erfahrung. Der Fortschritt in den Jahren 2004/5 besteht darin, auch die Information von Erfahrung so zu verhindern, dass alle wilden Säue in neuen Kriegen ihre Schlachtreife beweisen dürfen.
2007 liegt unser erzwungener Abschied von der DDR fünf Jahrzehnte zurück. Diese Autobiographie belegt unser Leben in der Fremde. Wir möchten keines dieser Jahre missen. Zur Vorbereitung auf das Halbjahrhundert-Jubiläum bereisten wir Sachsen und fanden in der Landeshauptstadt Dresden das 1993 gegründete Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, das laut Satzung eine „Reverenz an die deutsch-amerikanische Philosophin und Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt (1906-1975)“ sein soll, „die mit ihrem Werk wohl am eindringlichsten vor Augen geführt hat, dass Diktaturen mit totalitärem Verfügungsanspruch die Substanz des Politischen schlechthin zerstören.“ Die im feinsten Politologen-Papperlapapp abgefassten Vorsätze erinnern mich an meine Erfahrungen im Zusammenhang mit Arendt, die zwar nie Philosophin sein wollte, aber doch mehr war als das, zumal sie ihr akademisches Leben als Geliebte eines Philosophen begann, der bald darauf versuchte, der Führer des Führers Adolf Hitler zu werden.
1959 wurde ich auf der Rückreise vom Treffen der Gruppe 47 auf der Elmau beim Aufenthalt in München vom Verleger Klaus Piper umworben. Im Gespräch mit dem Verlagsleiter und Lektor Dr. Hans Rößner sah ich mich genötigt, die Russische Oktoberrevolution und Ernst Bloch zu verteidigen, weshalb Rößner mich hinterrücks einen „Linksfaschisten“ nannte. Ich sagte Piper ab, brauchte den mir in die Tasche geschobenen kleinen Vorschuss nicht zurückzuzahlen und blieb beim Kölner Verlag Kiepenheuer und Witsch. In Erinnerung behielt ich neben dem schalen Geschmack den ostentativen Bezug Rößners auf Heidegger, den er übern grünen Klee lobte, auf Hannah Arendt verweisend, als deren unverzichtbaren Lektor, wo nicht Freund er sich ausgab. Als ich später erfuhr, der Mann habe es im Reichssicherheits-Hauptamt bis zum SS-Obersturmbannführer gebracht, wunderte mich das nicht. Hannah Arendts berufliche und private Verbindung mit ihrem Lehrer Heidegger hatte eben Früchte getragen, ohne dass ihr die fatale Vergangenheit des Piper-Lektors so genau bekannt wurde. Begegnete sie beim Eichmann-Prozeß der Banalität des Bösen, erwies sich eine gewisse Wehrlosigkeit im Umgang mit den Luxusausgaben der Bewegung. Ich sagte mir: Aus dem Bloch-Land kommend, gibt es für dich nicht den geringsten Anlass, das Deutschlandlied zu singen. Schade nur, dass es in der DDR nie zur wahren Revolution reichte.
Die vorstehende Münchner Szene entstammt dem Buch Sklavensprache und Revolte von Ingrid Zwerenz und mir. Ich will einen Satz daraus korrigieren. Es darf durchaus angenommen werden, Hannah Arendt ahnte etwas von Rößners SS-Karriere, die auch im Verlag samt Umfeld bekannt gewesen ist. In der Zeit vor 1933 allerdings, in der die Studentin Hannah ihrem Philosophieprofessor Heidegger verfiel, bis Hitlers Judenhatz sie ins Exil zwang, während ihr stürmischer Lover jener Partei beitrat, die seiner Liebe ein wenig nach dem Leben trachtete, in dieser bewegten Ära mögen mancherlei Abfälle der Leidenschaftsschwüre als Sprachmuster ins Hauptwerk Sein und Zeit eingeflossen sein, zuviel jedenfalls als dass ein Dutzend Hitlerreichsjahre für die existentielle Distanz zur großen Jugendliebe ausreichten. So strebte Hannah im Nachkrieg besuchsweise zum unvergessenen Freiburger Herzenswärmer zurück, und in ihren kritischen Analysen blieb eine Bet- oder Bett-Ecke für den Mann von gestern reserviert. Rot und Braun mögen totalitär sein, der Pg. Heidegger saß dazwischen und spielte Gott Amor.
Wollen wir verstehen, um welche seelischen Tiefendimensionen es geht, muss sowohl die makabre Liaison vor 1933 als auch die spätere Gleichsetzung von Hitlers und Stalins Diktatur in Arendts Buch Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft neu durchdacht werden. Die so beliebte wie vulgäre Parallelisierung von Marxismus und Faschismus, die aus dem Werk bezogen wird, das jedoch ganz andere Akzente enthält, fußt auf einer Befangenheit der Autorin, die ihrem Martin hörig war wie er ihr, so dass die 12 Jahre Drittes Reich nur als leidige Unterbrechung wirkten.
Arendts schonendes, wenn auch scheltendes Umgehen mit Heideggers Nazineigung weist auf punktuelle Urteils-Unfähigkeit hin. Mit den Augen der Liebe betrachtet entlastet die Formel Stalin = Hitler den angebeteten Martin. Stalin galt jahrzehntelang als Gott, bis er seit dem Göttersturz als Teufel gilt, was Hitler entlastet. Entsprechend reagieren die Betroffenen. Die Kommunisten als Feinde und Opfer Hitlers dementieren die unerträgliche Gleichsetzung, die Faschisten lehnen sie auch ab, fühlen sich aber zugleich erhoben, sehen sie sich doch indirekt aufgewertet. Das Bürgertum empfindet sich dabei als allgemein exkulpiert. Der Nazismus der Väter und Vorväter verliert sich in der Geschichte, die Bürgerlichen treten als gerechtfertigte Antikommunisten aus ihr hervor und nutzen den Totalitarismus-Vorwurf gegen die zurückweichende Linke. Wären hier noch vormalige Maoisten und Linksextremisten zu nennen, die in der bekannten Mussolinikurve zu absoluten Antikommunisten mutieren und damit als geheilt und unbescholten eingeordnet werden.
Und Hannah Arendt? Musste sie der SS-Obersturmbannführer und Piper-Cheflektor Dr. Rößner in München nicht kümmern, weil er ihr wie Obersturmbannführer Eichmann in Israel vor dem Gericht als die personifizierte Banalität des Bösen erschien? Ist der Teufel als Hilfsarbeiter eine Enttäuschung? Eichmann spielte die Rolle im Glaskäfig meisterhaft platt. Hätte er sich vielleicht so luziferisch geben sollen wie es seiner Funktion vor 1945 entsprach? Ob Eichmann oder Rößner, sie erschienen der in Größenordnungen verwöhnten Frau bodenlos banal, hatte sie doch einst dem Welt-Philosophen Heidegger als Inspirationsgehilfin dienen dürfen. In schöner Gemeinsamkeit konnten beide sich auf die Nachfolge Nietzsches berufen, dessen erklärter Wille zur Macht Heidegger 1933 zum Versuch inspirierte, sich Hitler als (philosophischer) Führer anzubieten. Platon ging gar dreimal zum Tyrannen nach Syrakus. Heidegger übrigens trat nie aus der NSDAP aus und zahlte brav seinen Partei-Beitrag bis zum Kriegsende. Die Verstrickungen emotionaler Kollaboration sind unerforscht geblieben.
Zur Leipziger Buchmesse 2004 erregte die damalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete Aufsehen wegen ihrer absoluten Gleichsetzung des sowjetkommunistischen Terrors mit dem Holocaust. Die Behauptung führte zum Vorwurf des Geschichtsrelativismus, der ja in intellektuellen Kreisen ein bevorzugtes Medienthema abgibt, das mit Hannah Arendts Totalitarismus-Theorie verbunden wird.
Am 18.2.06 brachte die FAZ den Konflikt auf den Punkt, indem aus einem Gespräch mit Kalniete geschlussfolgert wird, „dass das individuelle Leid in den Mittelpunkt zu rücken und gegen die Macht der Kollektive abzusetzen sei.“
Mit dieser Sicht dürfen sich die Geschichtsrevisionisten bis hin zu Dresdens NPD und ihren Demonstranten, die von den alliierten Luftangriffen als „Bomben-Holocaust“ sprechen, glänzend bestätigt fühlen. Soweit Leid und Tod nichts als individuell sind, hat jeder Trauermarsch zu Ehren des Rudolf Heß seine naturrechtliche Güte. Ob diese Folgerungen von den Vergleichslehrlingen und Gleichsetzungsmeistern beabsichtigt sind oder nur die übliche Denkfaulheit belegen, bleibt dahingestellt. Beide Methoden sind postmoderner Usus geworden.
Werfen wir einen Blick zurück. GZ traf in München einen tüchtigen deutschen Verlagsleiter, der zuvor Obersturmbannführer im Reichsicherheitshauptamt war. Alle wissen es und halten die Klappe. Der SS-Heros heiligt Heidegger und lektoriert die Manuskripte der verfolgten Jüdin Hannah Arendt. Natürlich kann so ein Mann der Antifaschistin nicht durchgehen lassen, wenn sie gegen einen Ex-Nazi wie den Staatsrechtler und bayerischen Staatsminister Prof. Theodor Maunz anschreibt, der, wie sich nach seinem Ableben herausstellt, Herrn Freys rechtsextremer Zeitung insgeheim juristisch zuarbeitete. Dr. Rößner bringt Hannah Arendt dazu, den Namen des Prominenten aus dem Text zu streichen. Sie rächt sich dafür, indem sie den multifunktionalen Herrn später listig wieder in die Fußnoten einschmuggelt. Der Fall darf inzwischen als aufgeklärt gelten. Die skandalösen Verunstaltungen sind gerichtsfest, doch wo hätte Frau Arendt die deutsche Fassung ihrer Schriften ohne postnazistische Eingriffe und Streichungen publizieren können? Bei Kiepenheuer und Witsch war der Versuch bereits gescheitert. Hier muss GZ sich korrigieren, der doch so gern und frohen Herzens von Piper zum Kölner Verlag zurückkehrte, nicht ahnend, dass dort soeben ein antifaschistischer Roman Remarques verbal seines Antifaschismus beraubt worden war. Was verschlägts, die Simenon-Krimis waren dort auch soweit entsexualisiert worden, dass z.B. der Leser Adenauer unverstört seiner entspannenden Lektüre obliegen konnte.
Westdeutschland im Jahre 1959, wer hatte den Krieg verloren? Die Prä- und Postfaschisten offensichtlich nicht, denn sie wurden als Scharnierfunktionäre zwischen Drittem Reich und Bonner Republik benötigt. Hannah Arendt verfasste auch ein Buch über den Ungarischen Aufstand von 1956 und wollte es Der Erinnerung an Rosa Luxemburg widmen, was in München missfiel. Klagend gab sie nach: „Die arme Rosa! Nun ist sie bald 40 Jahre tot und fällt immer noch zwischen alle Stühle.“ Was so makaber wie metaphorisch zu verstehen ist, 1919 war Rosa mit eingeschlagenem Schädel in den Landwehrkanal gefallen worden, wie es die deutsche Offiziersehre verlangt.
Die Sachsen hatten sich mit ihrer ständigen Aufmüpfigkeit, die von Widukind bis zu den Montagsdemos reichte, bei den Deutschherren in Verruf gebracht. Rebellen gab es auch in anderen Landesteilen. Hau'n wir all diese anstößigen Kerle in die Knie, bis sie gelb werden, sagte ein westlicher Superhirnprofessor und verübelte dem auf Hitlers Befehl kurz vor Kriegsende erschossenen Georg Elser, dass er 1939 hatte den Führer in die Luft sprengen wollen. Es wurde beschlossen, eine Wissenschaftsdisziplin zur Begründung schwachsinniger Thesen und Theorien ins Leben zu rufen und das ging so: Die DDR produzierte in den vier Jahrzehnten ihrer Existenz ca. 1000 Grenztote, das Dritte Reich verursachte im Jahrdutzend seiner Herrschaft ca. fünfundfünfzig Millionen Tote. Setzt man die eintausend Opfer zu den fünfundfünfzig Millionen in Beziehung, ergibt sich dieser Idiotie nach als Resultat, dass die Diktaturen von Ulbricht/Honecker und die von Hitler identisch sind. Die Weimarer Republik wiederum brachte es in zwölf Jahren auf das Zehnfache der DDR-Toten, dennoch werden ihr keine diktatorischen Eigenschaften angelastet. Das sind eben so blutige Milchmädchen-Rechnungen.
Hannah Arendt kannte sich aus mit den Nazis, von denen sie erst verfolgt, inhaftiert und dann verjagt wurde. Später berichtete sie über den Prozess gegen Eichmann, der sich in Jerusalem um Kopf und Kragen redete, während Albert Speer in Nürnberg seinen Kopf gerade noch aus der Schlinge ziehen konnte. Was die Autorin aus Israel schrieb, zensierte in München der vormalige Obersturmbannführer Dr. Rößner, der sich nach dem Zusammenbruch Deutschlands in die neue Bonner Freiheit rettete.
Um zu erklären, dass Drittes Reich und DDR gleich verdammenswert seien, gründen einige Herren, die im Westen nicht recht zu Stuhle kamen, in Dresden ihr Institut zur Totalitarismusforschung, zumal die Dresdner (SS-)Bank 1945 samt all ihren bewährten Führungskräften nach Frankfurt am Main ausrückte. Hannah Arendt allerdings grenzte den kommunistischen Totalitarismus dummerweise auf die Zeit von 1929/30 bis zu Stalins Tod im Jahr 1953 ein, ließ es aber nicht an Schärfe bei ihrem Urteil über Hitler fehlen. Außerdem verwarf sie Marx und Lenin nicht als Stalinisten und würdigte unbelehrbar die jüdische Kommunistin Rosa Luxemburg. Das zu korrigieren bedarf es einiger Anstrengung, wozu man eine wissenschaftliche Forscherriege beruft, darunter 1 - 2 landeseigene Vertreter, die vor 1989 in kirchlichen Ämtern tapfer ihren unmerklich stillen antitotalitären Widerstand geleistet hatten. So kommt West und Ost zueinander, wie es zusammengehört.
Noch ein Arendt-Fehler steht zur Korrektur an: Die Frau war eine konsequente Antifaschistin und wollte es auch bleiben. Wer aber hat so etwas noch nötig, wo eben die letzten eingeborenen DDR-Intellektuellen per Evaluierung besiegt worden waren? Zudem schien von Leipzig her ein nach dem deutsch-jüdischen Philosophen benanntes Ernst-Bloch-Institut zu drohen. Bloch gilt als Antipode Heideggers, was kein Geringerer als Papst Benedikt bitter anmerkte, als er noch Ratzinger hieß. Bloch hatte schon während des Ersten Weltkrieges wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die Niederlage des imperialen Deutschland herbeigewünscht, weshalb Alfred Weber ihn Vaterlandsverräter nannte. Bloch soll deshalb aus patriotischen Gründen der Vergessenheit anheim fallen. Mit Hannah Arendt aber darf verfahren werden, als wäre das Reichssicherheits-Hauptamt noch immer der Auftraggeber. So drohte in Wirklichkeit denn auch keine an Ernst Bloch erinnernde akademische Uni-Abteilung. Wer wollte schon an einem Institut studieren, dessen Namenspatron nicht der Kapitalreklame dient.
Da klingt „Hannah-Arendt-Institut“ schon erträglicher, zumindest solange Propaganda-Macht die Frau als Konterrevolutionärin darstellt. Lebte sie noch und lehrte etwa selbst in Dresden und würde dort ihr realer, freiheitlicher Luxemburgismus bekannt, müsste sie bald ausreisen, von den rechten Kameradschaften als linksradikales Judenweib beschimpft und von braven, angepassten Akademikern als wissenschaftlich untragbar gemobbt. Es sei denn, sie distanzierte sich reumütig von ihren Erkenntnissen, vergäße ihren Antifaschismus und erklärte sich zu Heideggers Witwe Nr. 2.
Da wir Geschichtsrevisionismen korrigieren müssen und mit Hannah Arendt zugleich die von ihr geschätzte Rosa Luxemburg genannt wurde, sei zum Abschluss mein Brief vom 23. 2. 1962 an die Chefredaktion der Welt angeführt, die ein bekannter konservativer Revolutionär der Weimarer Republik leitete:
Sehr geehrter Herr Zehrer!
Am 10. 2. 62 wurde in dem Artikel „Wer ist eigentlich Walter Ulbricht?“ in Ihrer Zeitung behauptet, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht seien im Januar 1919 zum Tode verurteilt worden und dann habe man das Urteil vollstreckt. Die gleiche Behauptung wurde in der folgenden Nummer vom 12. 2. noch einmal aufgestellt.
Ich schrieb hierzu am 11. 2. einen Leserbrief an Ihre Leserbrief-Redaktion. Die Fotokopie meines Schreibens sowie die Kopie des die Sache nicht treffenden Antwortschreibens lege ich Ihnen zur Einsicht bei.
Wenn ich mich nun direkt an Sie wende, so in der Annahme, daß eine untergeordnete Stelle Ihrer Redaktion nicht verstanden hat, welche Größenordnung diesem unglücklichen historischen Vorgang zukommt. Ich darf voraussetzen: Sie, sehr geehrter Herr Zehrer, wissen ebenso gut wie ich, daß Luxemburg und Liebknecht nicht verurteilt, sondern umgebracht wurden. Es handelt sich mithin nicht um eine Urteilsvollstreckung, wie in Ihrer Zeitung zweimal behauptet werden konnte, sondern um einen direkten, kaltblütig geplanten und nie hinreichend gesühnten Doppelmord.
Es handelt sich weiterhin um einen Vorgang von höchstem zeitgeschichtlichem Interesse – und darüber hinaus um eine Frage von Moral und Recht. Es kann, hoffe ich, nicht sein, daß in einer Zeitung wie „Die Welt“ derart irreführende Behauptungen gedruckt werden, die Korrektur aber unterbleibt.
Ein gravierender Irrtum dieser Art, der, nachdem er als Irrtum erkannt ist, nicht berichtigt wird, wächst sich im Umkreis des Menschlichen zur Lüge und in dem des Politischen zur Hetze aus. Ich darf voraussetzen, daß dies nicht Ihre Absicht ist.
Um so dringender ersuche ich um eine Richtigstellung, gefordert ist hier die wiederhergestellte Wahrheit – sicher wollen Sie sich dem nicht entziehen.
In dringender Erwartung Ihrer Antwort und mit vorzüglicher Hochachtung
Gerhard Zwerenz
Diese Berichtigung wurde als Leserbrief am 5.3.1962 in der Welt immerhin abgedruckt. Haben Geschichtslügen etwa doch kurze Beine?
Anno 1962 war das so, heute, im Jahr 2007 bietet der „Deutsche Stimme Verlag“ in Riesa, kaum 50 Kilometer elbabwärts vom Dresdner Hannah-Arendt-Institut eine Fülle kriegerischer Bücher und Devotionalien an, hier einige Beispiele: Buch der Tapferkeit, Panzerregiment Großdeutschland im Einsatz, Volk- Nation- Rasse, Soldaten wie andere auch – Der Weg der Waffen-SS, Otto Ernst Remer, Das Hakenkreuz-Symbol des Jahrhunderts, Der Tod sprach polnisch, SS-Kavaliere im Osten, Mit Eichenlaub und Schwertern, Mit der Leibstandarte am Feind … Neben bekannten strammrechten Autoren wie Erich Kern, Paul Hauser, Emmy Göring, David Irving werden auch die gewiss erheblichen Werke der bürgerlichen Mitte offeriert, man findet Prof. Werner Maser, die frühere Bloch-Assistentin Ruth Römer, die Geheimdienst-Experten Udo Ulfkotte und Hubertus Knabe, vom Ex-Bundeswehr-General Dr. Franz Uhle-Wettler immerhin ein Vorwort, und an Devotionalien gibt's Hess-Büste, Reichsadler mit Ruhm und Ehre, Wikinger-Hörnerhelm, Odinsmaske, dazu Kunstdrucke, geziert durch die Mitteilung: „Unsere Großväter waren Helden – Ruhm und Ehre der Wehrmacht – Stimme des Blutes – Rache …“
Nun trifft nicht zu, dass etwa der „Deutsche Stimme Verlag“ eine Richtung Osten antitotalitäre Dependance des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts wäre.
Doch von Prof. Gerhard Besier, dem bereits sanft entlaufenen Leiter des H-A-Instituts, stammt der liebenswerte Hinweis: „Wie im Taumel folgten die bundesdeutschen Intellektuellen aus dem protestantischen Milieu den semantischen Schalmeien: Frieden, Versöhnung, Völkerverständigung, Abrüstung und eine neue Qualität von Demokratie.“ Das darf natürlich nicht sein und die Stoßrichtung verrät Gemeinsamkeiten. Nur berufen sich die einen fälschlich auf Hannah Arendt und die anderen argumentieren unverändert wie im Dritten Reich. Noch ein Besier-Zitat über Rosa Luxemburg: „Die Kronzeugin des antiextremistischen Konsenses war selber eine Extremistin.“ Wir schlagen stattdessen zwei nützliche Bücher vor: 1. Das Hannah-Arendt-Institut im Widerstreit politischer Interessen von Horst Schneider, Spotless-Reihe Nr. 163. 2. Benjamin und Brecht von Erdmut Wizisla, Suhrkamp-tb 3454, darin der Versuch von Brecht, Benjamin, Bloch u.a. inklusive Hannah Arendt, dem Faschismus „eingreifendes Denken“ entgegenzusetzen.
Am Montag, den 26. November, erscheint das nächste Kapitel.