Während der fünfzigjährigen Abwesenheit von Sachsen schrieb ich ungezählte Kurzgeschichten als mobiles Diarium, aus denen über hundert Bücher und tausend Zeitungsartikel, Hörspiele, Rundfunkkommentare, Features und tv-Filme wurden. Anderes blieb in Archivdimensionen verborgen. Da mir die ostberliner Weltbühne auf Geheiß des Politbüros ihre Seiten verschlossen hatte, machte ich alle Verlage und Redaktionen, die mich zu drucken riskierten, zur Bühne meiner Welt. In die sächsische Jugendzeit holte mich im Juli 2007 ein Artikel der Welt zurück. Es begann mit der NS-Nähe oder Parteimitgliedschaft von Andersch, Eich, Walser u.a., was zu allerlei Spekulationen führte. Da heißt es also, sich exakt 65 Jahre zurück zu erinnern. Doch gehen wir der Reihe nach: Am 30.6.2007 meldeten ZEIT online und der Tagesspiegel: „Flakhelfer-Generation: Walser, Lenz und Hildebrandt im Dienst der NSDAP? Die Autoren Siegfried Lenz und Martin Walser sowie der Kabarettist Dieter Hildebrandt sollen NSDAP-Mitglieder gewesen sein. Die Kulturschaffenden leugnen. Das Bundesarchiv in Berlin hat die NSDAP-Mitgliedschaft der Schriftsteller Siegfried Lenz und Martin Walser sowie des Kabarettisten Dieter Hildebrandt bestätigt. Bei Recherchen über die so genannte Flakhelfer-Generation seien entsprechende Unterlagen aufgetaucht, sagte der zuständige Abteilungsleiter des Bundesarchivs, Hans-Dieter Kreikamp. Indirekt zweifelte er Hildebrandts und Walsers Darstellung im Magazin Focus an, wonach sie nie einen Mitgliedsantrag der nationalsozialistischen Partei unterschrieben hätten. Kreikamp sagte, für die Aufnahme in die NSDAP seien schriftliche Anträge mit eigenhändiger Unterschrift vorgeschrieben gewesen. Derartige formale Vorschriften seien nach den Erkenntnissen seiner Behörde auch während des Krieges streng eingehalten worden. Auch der Historiker Michael Buddrus vom Institut für Zeitgeschichte kommt laut Focus zu dem Ergebnis, dass eine Aufnahme in die Partei ohne eigene Unterschrift unwahrscheinlich sei. (mit dpa)“ Obwohl ich nicht zur Flakhelfer-Generation zähle, setzte Die Welt am 7.7.07 mit einigen Namen, darunter dem meinen, nach. Am 10.7. schrieb ich an den zuständigen Redakteur: Herrn Dr. Tilman Krause Axel-Springer-Str. 65 D-10888 Berlin Sehr geehrter Herr Dr. Krause, von einem aufmerksamen Leser auf Ihren WELT- Mit freundlichen Grüßen
11. Juli 2007 Ich weiß nicht, ob Sie meinen Artikel in der Literarischen Welt gelesen haben oder sich nur von demselben erzählen ließen. Offen gestanden vermute ich letzteres, da Sie über eine ›nicht hinnehmbare Unterstellung‹ spekulieren und ein ›Wissen‹ annehmen, an dem Sie partizipieren möchten. Wissen möchte hingegen gerade der Leser, die Offentlichkeit und so auch ich! Das Von- Es würde mich, und da darf ich auch im Namen der Redaktion dieser Zeitung insgesamt sprechen: Es würde uns sehr freuen, wenn Sie sich, sehr geehrter Herr Zwerenz, durch die Debatte um die neuaufgetauchten Dokumente zur NSDAP-Mitgliedschaft von Martin Walser, Siegfried Lenz und Dieter Hildebrandt angeregt, zu einer Darstellung Ihres ganz persönlichen Ergehens in dieser Hinsicht entschließen könnten. Wir würden den Beitrag mit Freuden drucken. Mit den besten Grüßen verbleibt Sicher sind Sie ein Gewinn für die Redaktion, weil einfallsreich aktiv und abseits der Klischees. Unklar bleibt für mich jedoch, was ich mit den von Ihnen genannten Namen zu schaffen habe. Als die HJ-Kameraden zur NSDAP gestoßen sein sollen, hatte ich meine Flucht vor eben dieser Partei zur Wehrmacht und von da durch das Überlaufen zur Roten Armee schon längst hinter mir – was könnten da für mich die lange verheimlichten politischen Naivitäten von Grass und cum grano salis evtl. Lenz sowie Walser für einen Stellenwert besitzen? Ich verschwieg nichts und hatte nichts zu verschweigen. Im Gegenteil. Ein Reihe von Büchern, die aus dieser Zeit berichteten, ereichten immerhin eine knappe Million Auflage. Überdies las ich zum Thema jahrelang öffentlich vor und sprach frei zur Sache. Ein Gespräch von anno 1989 zum Gesamtkomplex, dessen Druckfassung sich in meinem Archiv fand, ist im Anhang zur Kenntnisnahme beigefügt. Darüber nichts gewusst zu haben, ist Ihr gutes Recht, doch wenn man sich auf dieses Feld begibt, sind ein paar Informationen zumindest nicht fehl am Platze. Gerade von Ihnen steht zu erwarten, dass Sie dies genauso sehen. Mit besten Grüßen – Ihr Gerhard Zwerenz 12. Juli 2007 Sehr geehrte Frau Zwerenz, sehr geehrter Herr Zwerenz, besten Dank für Ihre so prompte Antwort und die Zusendung der Dokumente. Aber das ist ja alles wahnsinnig interessant! Ganz einzigartig! Und natürlich nicht mehr so im öffentlichen Bewusstsein in unserer schnellebigen Zeit. In diesem Sinne habe ich auch Ludwig Harig geantwortet, der auch etwas verschnupft war und schrieb, er habe doch dieses hier, jenes dort schon geschrieben und behandelt. Zugegebenermaßen habe ich Sie rein aus Jahrgangsgründen in die Reihung aufgenommen, ich schaute einfach, wen haben wir denn 1925, 1926, 1927? Kurzum, wenn Sie sich die Sache vielleicht doch noch einmal überlegen? Eine Darstellung Ihres Umgangs mit den Nöten und Zwängen der NS-Zeit, auf 200 oder 300 Zeilen, im Licht der jüngsten Debatte (und ruhig auch mit einem polemischen Schlenker gegen mich, weil Sie sich ja nun mal über mich geärgert haben)? Wir würden dann in einem bibliographischen Abspann auf die entsprechenden Veröffentlichungen Ihrerseits noch einmal hinweisen, damit die Leser noch einmal nachlesen können. Das alles beschäftigt die Menschen doch nach wie vor in hohem Grade! Ich sehe es auch an den Zuschriften, in denen jeder vor allem von sich selbst erzählt. Sehr bewegend zum Teil. Wer diese Zeit erlebt hat, das muss ich Ihnen als Nachgeborener (Jahrgang 1959) ja nicht sagen, der wird das nicht mehr los, den beschäftigt das heute eher mehr als zu der Zeit, als er 40, 50, 60 war. Ich weiß das auch aus meiner eigenen Familie. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn Sie sich zu einem Artikel aufschwingen könnten. Und bitte: Vermuten Sie keine bösen Absichten hinter meinem Text! Mir ging es um die Sache. Es grüßt Sie herzlich und erwartungsfroh
Der Titel zu den 263 Zeilen, die ich an Die Welt der Literatur sandte, lautet: Die offene Wunde. Bevor ich sie hier erstmals abdrucken lasse, weil, dies sei vorausgeschickt, die Zeitung sie zwar bestellte, jedoch nicht zu veröffentlichen beliebte, darf ich als Zwischenruf meine Distanz zum gesamten Stoßtrupp-
Vaters Vergessen Demenz wird in einer alternden Gesellschaft zum Krankheitsbild, das fast jede Familie heimsuchen wird. Auch dem großen Rhetor Walter Jens ist die Erinnerung abhanden gekommen. Ist Vergessen auch eine Flucht vor der Wahrheit über sich selbst? Von Tilman Jens FAZ, 4.3.2008 Im nächsten Kapitel „Die offene Wunde“, mein ganz speziell für die Welt der Literatur verfasster und von der Zeitung abgelehnter Kurz-
PS: Kleine Nachbemerkungen werden hier so langsam Tradition. Bevor also am nächsten Montag Die offene Wunde folgt, hier meine Potzblitz- Am Montag, den 26. Mai 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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