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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 77. Nachwort

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  77. Nachwort

Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen



  

Römisches Mosaik
Augiasstall



Den noch etwas helleren Köpfen im bourgeoisen Okzident wird langsam mulmig zumute. Leben wir denn im Stall des Augias? Ein paar vormalige Halbtrotzkisten rufen, sich erinnernd, nach Karl Marx. Zwei Leit­artikler lernen heimlich chinesisch. Mao dichtet, von Merkel angefeuert, aus dem Mausoleum heraus neo­kapi­talis­tische Kampflieder. Stalin dreht sich in der Urne an der Kremlmauer um, dass Putin erwägt, sich dreimal taufen zu lassen. In der FAZ tagt das Heraus­geber­gremium zum Thema: Haben wir Marx zu früh entlassen? Sollen wir ihn wieder einstellen? Das Feuil­leton ist dafür, die Politik dagegen. Die Wirtschaft gibt auf. Der Wetterbericht sagt schweres Wasser voraus. Merkel berät sich indessen, wir träumen jetzt futu­ris­tisch, mit Lafontaine / Wagen­knecht, während Gysi die SPD der Links­partei zu inte­grieren versucht, dass Gabriel zur Heils­armee flüchtet. Da ärgern die Grünen sich schwarz und die Schwarzen ergrünen. Nur die letzten fünf­einhalb FDPler leisten Wider­stand, bis Brüderle tro­cken­gelegt ist.
  Wir aber versuchen Sachsens Sumpf trocken­zulegen. Schon als Napoleons Heer Moskau erobern wollte, zählten sächsische Trup­pen­teile dazu, die erst in der Leipziger Völker­schlacht 1813 vom Kaiser abfielen und, kein Beispiel besonderer Ehren­haftig­keit, gegen ihre bisherigen Kriegs­kame­raden vom Leder zogen. Das Exempel – die Russen mar­schieren in Deutsch­land ein, nachdem die Deut­schen Russ­land in Besitz zu nehmen versuchten – wurde im 19. Jahr­hundert vorgeprobt, ehe das 20. Jahr­hundert den Vorgang bis zum Exzess trieb. Wer dies unbedacht lässt und sich wie Pastor Gauck ein unbe­schadetes blüten­reines Kriegs­gewissen zurecht­legt, ist gewiss eine Zierde des kirch­lichen Standes. Die Rechten sammeln sich indessen. Der schöne Traum vom Frieden endet. Sicher­heits­behörden und Öffentlichkeit sind über­rascht. Wird der national­sozia­listi­sche Unter­grund, der sich tatsäch­lich so nennt, bald Richtung Moskau aufbrechen, das Todes­urteil an Sachsens Gau­leiter Mutschmann zu rächen? Was hören wir da – beim Dresdner Hannah-Arendt-Institut – (HAIT) – kam plötz­lich und uner­wartet eine kritische Mutsch­mann-Bio­graphie heraus? Das wundert einen, der sich mit den sonstigen dortigen Hervor­brin­gun­gen auskennt.
  Oft genug äußerten wir uns exakt dazu. Was sich in Dresden HAIT nennt, ist mit so welt­an­schau­lichen Schwarz­front­kämpfern wie Backes, Jessen und anderen Ver­folgern anti­faschis­tischer Wider­ständler eine einzige permanente Belei­digung der Namens­geberin. Wenn Neonazis heute den Hitler-Atten­täter Georg Elser verun­glimpfen, können sie sich auf das Dresdner HAIT berufen, das damit voran­ging. Wenn aus den schwarz­braunen Sümpfen jetzt ein Auf­klärungs­buch über Mutsch­mann auf­tauchen kann, ver­blüfft und erfreut es uns derart, dass wir hier den letzten helden­haften Aufruf der braunen Nazi-Kröte ab­drucken und dem HAIT für das Doku­ment danken. Offenbar schien es Hannah im Antifa-Himmel hoch an der Zeit, in dem nach ihr benannten Saft­laden mal für den nötigen Links­geist zu sorgen.

Einer der letzten fanatischen Aufrufe Mutschmanns in:
Der Freiheitskampf vom 17.4.1945



Diese Sachsenserie ist meine subjektiv-auto­biogra­phische Antikriegs-Erzäh­lung im Blick auf fast 100 Jahre fassbaren Lebens in Distanz zur anti­quierten Denke und Sprache von Politik und Geschichte, eine Subjekt-Revolte, der partisanen­hafte Einzel­fall im uner­forschten Strom von Einzel­fällen. Das begann für das lesewütige Kind, als es im Roman Das Feuer von Barbusse die ehrenden Worte für Karl Liebknecht über die trennenden Schützengräben hinweg fand. Das war es. Das bleibt es.
  Da besorgt ein Dokument wie der letzte Nazi-Gauleiter-Aufruf zum Krieg gegen den linken Feind nur die heute gewünschte Nach­haltig­keit. Für Schopenhauer war der Mensch ein Raub­tier. Das stimmt für die Vorge­schichte. Militär und Völker­schlach­ten zählen zur Vor­geschichte der Menschheit, wo bis heute die Räuber und Mörder leben. Der Friede ist Kultur­leistung oder bloß Fressnapf für Kampfpausen Nietzsche: „Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen.“ Wer Kriege führt oder nicht verhindert, wird in sie verwickelt. Am Anfang entscheiden Politiker und Militärs darüber. Wird gesiegt, ist es auch am Ende so, wird man besiegt, ist von Schuld zu reden die Sache der Priester und Pastoren, die das gerne tun, während die Generation der Söhne und Töchter den Eltern Vorwür­fe macht. Bei den Enkeln beginnt das Kriegsspiel von neuem. Alle bisherige Geschichte ist Kriegs­geschichte, Im Krieg sagen die Soldaten, was sie sagen müssen. Wer was andres sagt, gerät in verzwickte Situationen. Würden die Soldaten sagen, was sie fühlen, gerieten sie alle in die Bredouille. Lieber sagen die Soldaten das, was von ihnen erwartet wird und bringen einander um. So bleibt alle Geschichte Kriegs­geschichte. Die Hoffnung, diese Kriegs­geschichte durch Revolu­tions-Geschichte abzulösen hat getrogen, weil es den Kriegern gelang, die Revo­lutionen in ihre Kriegs­geschichte zu integrieren. Und da Revolutionen wie die Pariser Kommune von 1871 und der Russische Oktober 1917 in die bloße Vertei­digung gezwungen wurden, erhält die Kriegsgeschichte ein neues Kapital angefügt statt zu enden. So bleibt Menschengeschichte Raubtiergeschichte.

Das Meer am Morgen, Volker Schlöndorffs neuer Film, erzählt „von Ernst Jünger, verbeugt sich vor dem franzö­sischen National­helden Guy Moquet –“ So ist es am 6. 2. 2012 in der FAZ zu lesen und Andreas Kilb schrieb ein kennt­nis­reiches Requiem für einen Knaben dazu. Der Knabe war freilich ein siebzehnjähriger Kommunist, als er am 22.10.1941 von Wehr­machts­soldaten als eine von 50 Geiseln erschossen wurde. Nachzu­lesen ist das in Ernst Jüngers Schrift zur Geiselfrage, zu der ihn General Otto von Stülpnagel veran­lasste, als „Recht­fertigung im Fall einer deutschen Nieder­lage“, wie Kilb exakt notiert. Jünger aber zehrt vom Ruhm, den letzten Brief Moquets über­setzt zu haben. Ich warte nun auf Schlön­dorffs empha­tischen Film über die Hin­richtung des deutschen Wehr­machts­deser­teurs, deren Voll­zug Hauptmann Ernst Jünger selbst gehorsam komman­dierte. Wer überliefert den letzten Brief des exeku­tierten Deserteurs?
  Lieber Volker Schlöndorff, falls Du ein paar kriegs­poetische Informa­tionen benötigst, in unserer online-poetenladen-Serie ist darüber allerhand zu finden. Etwa im 58. Nachwort – Titel: „Ernst Jünger und sein befohlenes Erschießungs­kommando ...“

Als Altüberlebender frage ich mich, wie kommen diese auf­einander­folgenden Minister, Parteiführer, Generäle, Unter­nehmer und Milliar­däre eigent­lich dazu, von unsereinem Gehor­sam einzu­fordern? Ich erinnere mich, wie ich 1933 als Sieben­jähriger die über Nacht abhanden gekom­mene Weimarer R­epu­blik suchte. Wo war sie? Im Schrank? Unterm Bett? Danach traten der Reihe nach an: Hitler / Stalin, Adenauer / Globke, Ulbricht / Honecker und darauf gab's nach sechzehn Jahren Kohl usw. die Einheit, da haben wir nach nun auch schon sieben Jahren Merkel im Angebot, die auf dem goldenen Euro durch die Lande reitet, hoffend, er sei kein ver­ros­te­tes Blech. Einen Präsi­denten nach dem andern hievt sie auf den Thron, doch die Elite sitzt so höllen­tief im Schlamm, da findet sich keiner mit weißer Weste. Wie wär's mit dem luther­nach­fah­renden Friedrich Schor­lemmer? Er ist aber nicht katho­lisch und war in der DDR schon mal pazifis­tisch verseucht. Das spricht gegen ihn.

Vielleicht sollte ich mich in einer wahnwitzig heiligen Ein­gebung selber vorschlagen: Mit 19 Jahren der Wehr­macht entlaufen. Mit 23 Jahren SED-Mitglied. Mit 32 Jahren Partei-Ausschluss und Haft­befehle. An­schlie­ßend 54 Jahre – bisher – poli­tisch-lite­rarisch-publi­zisti­sche Links­opposition, davon unver­gess­liche 4 Jahre im Bonner Bundes­tag. Reicht das fürs Präsi­denten­amt? Gleich gibts Malus­punkte. Papa und Mama waren nicht in der NSDAP. Ich auch nicht. Als gelernter und weiter aus­übender Deserteur würde ich bei Staats­besuchen die ange­tre­tene Ehren­kompanie sofort ent­lassen. Geht nach Hause, Jungs und lernt was Ordent­liches. Wer weiß denn, wie das Volk entschei­den würde, hätte es die Wahl. Albtraum: Pastor Gauck als Wunsch­präsident! Das komplet­tiert sich auto­matisch. Die CSU bläst ihr Gutten­berg-Barönchen zum Kanzler auf. Sarrazin wird Außen­minister mit Steinbach als Bot­schafterin in Warschau. Roland Koch wird Innen­minister, Wulff Justiz­minister. Wer tritt an als Vertei­digungs­minister? Da stünde General a.D. Naumann zur Verfügung. Warum gerade er bei so reicher Auswahl? Das will begründet sein: Obzwar die FAS als FAZ im Sonntags­kostüm Erlaubnis für allerlei Frech-Frei­heiten besitzt, muss sie doch ab und zu starken Tobak liefern. Am 1. Januar 2012 durfte Klaus Naumann, Bundes­wehr-General­inspek­teur und Vor­sitzen­der des NATO-Militär­aus­schus­ses a.D. sich melden und Gott, Luther, die Kirche sowie sich selbst lob­preisen. „Ich sage euch, dass ihr dem Bösen nicht wider­stehen sollt.“ Nachsatz Naumann: „Dieser Rat war falsch.“ So sind sie, diese Christen. Unsere Frage: Und wenn du, General, der und das Böse bist? Naumann: „Ich habe mich 1958 in grauer Vorzeit, als Soldat gemeldet und dann 41 Jahre lang die Uniform der Bundes­wehr getragen …“ Was die graue Vor­zeit betrifft, war es mehr eine feld­grau-braune, die der treue Soldat Naumann fort­setzte. Das will bewie­sen sein. Am 8.11.1995 sagte ich in der 67. Sitzung des Deutschen Bundes­tages laut Steno­graphischem Bericht:

    ... zum Glück
´
  

 

Diese ostentativ schamlose Kaiser-Wilhelm-Re­ha­bi­litie­rung fand 1995 im Bonner Bundes­tag statt. Da war die DDR bereits fünf Jahre lang ein­be­zogen. Inzwi­schen sind deutsche Sol­daten weltweit im Einsatz, obwohl Aus­satz verbal exak­ter zuträfe.
  Verhielt die DDR sich besser? Wie beidseitig friedens­untauglich die zwei deutschen Staaten sich artikulierten, notierte Hannes Schwenger 1983 als „Orwells deutsche Wirk­lichkeit“ in seiner bei Piper erschie­nenen Schrift Im Jahr des Großen Bruders:



Gauleiter Mutschmanns Dresdner Alarmruf von 1945 gegen den Feind, der in den Sachsengau eingedrungen ist, verwechselt wie üblich die Fronten. Der ärgste Feind war er selbst. Die Aufklärung, vom Hannah-Arendt-Institut, wenn auch sehr verspätet ausgehend, erfreut uns, doch wann klärt das Institut über General Naumanns Kaiser-Wilhelm-Lobpreisung auf? Und wer riskiert eine funda­mental christliche oder sozialistische Kritik an den seither illegal legalisierten neuen deutschen Kriegs-Beteiligungen? Mutschmann war der Typ des kriege­rischen Brutalniks, Naumann gibt den Part des zivilen Strategen. Die Differenz schläfert ein. Soviel zur Taktik.
Zwischen den Kriegen leben die Diplomaten als aufrechte Schnecken wie von Grass gebenedeit. Neulich war überall Genscher. Auf der Mattscheibe erschien er als original­getreu­er Soldat der sagen­haften Armee Wenk, die den Führer raushauen sollte, was nicht mehr klappte. Dafür über­brachte er jauch­zenden DDR-Flüchtlingen in Bonns Prager Botschaft die Geneh­migung zur Ausreise. Die ganze DDR folgte nach. Kroatien und Slowenien erkannte er 1992 so eilig an, dass Jugo­slawien wie 1941 zerfiel. Überall Genscher, der gelenkige Phäno­typ für jede Geschichts­epoche vom Eozän bis über­morgen. Aus Leipzig ist zu hören, die vorma­lige Karl-Marx-Uni­ver­sität solle nach Hans-Diet­rich Genscher benannt werden. Im Spiegel Nr. 1/2012 taucht der wind­schlüp­fige Herr als NSDAP-Mit­glied auf, will davon aber nichts gewusst haben und bis heute nichts wissen. Jeden­falls ein würdiger Namens­patron für Leipzigs Uni. Ich hab gar nichts gegen ihn. Nur gegen den Wind­schlüpfer-Typ. Warum fällt mir in dieser Nachbar­schaft gleich wieder Joachim Gauck ein? Das abseh­bare Ende des gegen­wärtigen Bundes­präsi­denten Wulff bringt Pastor Gauck erneut ins Spiel, der sich stolz beschei­nigt, „mit einem gut begrün­deten Anti­kommunis­mus aufge­wachsen“ zu sein. Das dürfte stimmen. Gaucks Mutter war als alte Kämpferin ab 1932, sein Vater ab 1934 in der NSDAP. Repräsen­tiert Sohn Joachim schon vom fami­liären Hinter­grund her die Mehrheit des deut­schen Volkes sowie den erneuten Rück­wärts­gang zur Großmacht? Ein veritabel anti­kommunis­tischer Nazi-Nach­kömm­ling im Bellevue passte doch prima in die beschleu­nigte Rück­wärts­bewegung.
  Ingrid entsinnt sich der Friedens­preis-Verleihung des Deutschen Buchhandels 1967 an Ernst Bloch. In die Paulskirche geleitet wurde der Phi­losoph vom da­ma­ligen Bun­des­minis­ter für Wirt­schaft, Karl Schiller, dem seine Entou­rage auf dem Fuße folgte. Durch den Mittel­gang bewegte man sich sehr gemes­sen. Mir lag die ganze Zeit ein in diesen Jahren gras­sierender Slogan auf der Zunge: Schiller, Schiller, Zechen­killer. Nicht zu ver­gessen die Ver­strickung des NSDAP-Mitglieds Schiller und seine ökono­mischen Rat­schläge im Dritten Reich. Man fragt sich, ob es 1967 keinen weniger nazi­belas­teten Regie­rungs­politiker zum Pauls­kirchen-Geleit für den deutsch-jüdi­schen Denker Ernst Bloch gab.

Soweit Ingrids Erinnerung. Doch wer, von Willy Brandt abgesehen, hätte ohne braune Flecken in Kleidung und Charak­ter die Rolle über­nehmen können, wenn's doch kein frei­schwebender Links­intel­lektuel­ler sein durfte? Lieber braun statt rot. Heute treten die Nach­folger der Nazis, Gründer und prägenden Figuren der Bonner Republik, was erst jetzt mit Hängen und Würgen eingeräumt wird, wie deren Mumien auf, einge­baute Ton­bänder abspu­lend und wie die Vor­fahren Links­verbote fordernd. Seit 1989/90 siegen sie auch wieder. Am 23.1.1995 schon hatte ihnen Egon Bahr per Spiegel-Leser­brief ins Gewissen geredet, dessen Vorhan­densein hoff­nungs­voll voraus­setzend: „Die Rassengesetze bleiben ein untilgbarer Fleck auf der deutschen Geschichte. Deshalb war und bleibt es ein Fehler, den Kommen­tator der Rassen­gesetze, Globke, zum Chef des Kanzler­amtes gemacht zu haben. Obwohl Adenauer damit erreicht hat, was er er­reichen wollte. Es wäre mehr als ungerecht, die Ost­deutschen heute här­teren Kriterien zu unter­werfen. Deshalb bin ich für ein Schluss­gesetz, das nur Kapital­verbrechen ausnimmt. Süd­afrika war mit seinen Rassen­gesetzen schlimmer als die DDR. Mit einen Stasi-ähn­lichen Gesetz gäbe es dort Bürgerkrieg statt den weisen Versuch Mandelas zur Aussöhnung.“
  Was heißt Aussöhnung in Deutschland? Der Westen verargt dem Osten die DDR als wäre sie wie er selbst keine Hitler-Kriegs-Folge gewesen. Und trotzdem eine Hoffnung. Für junge Leute wie ältere Genossen erschien Stalin 1945 als Sieger über Hitler. In ihrer Erinnerung wirkt Josef Wissarionowitsch S. jugendhaft vergoldet. Man lebte nicht unterm Druck Stalins, man trug ihn als Konterfei des Sieges, weil er Befreiung vom Nazi-Reich brachte. Als Brecht nach Chruschtschows Rede gegen Stalin den roten toten Helden einen Verdienten Mörder des Volkes nannte, leistete er sich kurz vorm eigenen Tod eine letzte Dekonstruktion. Stalins Genossen können für sich und ihre Kriegs­zeiten als Argument vorbringen, ihr blutrot lackierter Generalissimus Janus brach, mit Ernst Thälmann gesprochen, Hitler das Genick. Was haben Hitlers Gefolgsleute dem entgegenzusetzen, die Herren Mit­marschierer bis zur letzten Stunde wussten ja, ganz wie Göring in Nürnberg, nichts von Dachau und Auschwitz. Die deutsche Treue lebt von selbst­bestimmter Blind­heit.

Vom Westen aus zurückblickend sagte Bloch, er habe in Leipzig nur die Geschichte der Philo­sophie statt der eigenen vor­getragen. Eine taktisch kluge Entscheidung, sonst wäre er gleich von Beginn an gescheitert. Wer allerdings wollte, der vernahm mehr als Lehr­buch­weisheiten. Das begreifen manche heute noch nicht. Bis zur Bekanntschaft mit dem Philosophen war ich ganz zufrieden damit gewesen, meine kleine Gablenzer Boden­kammer-Bibliothek vor der Bücher­verbrennung am 10. Mai 1933 bewahrt zu haben. Diese Literatur war meine winzige wider­ständige Welt geworden. In Leipzig trat Blochs Kernsatz Kampf, nicht Krieg hinzu. Pazi­fi­smus als Haltung? Résistance nicht ausge­schlos­sen. Mit Trotzki überlebte die Leninsche Revo­lution, bis Stalin ihn ermorden ließ. Für den Sieg über Hitler-Deutsch­land reicht es noch, dann war der Tank leer. Blochs „Absage an jeden Dogma­tismus“ (Ekkehard Martens) leitete die erst verfolgte, dann ver­schwiegene Leipziger Periode des Dekon­strukti­vismus ein. Die zu Parolen und Klischees verküm­merten All­gemein­heiten mussten auf den Prüfstand. Das wurde ab 1956/57 als Konter­revolution verfolgt. Der Rest schleppte sich gerade noch bis 1989/90 hin. Die siegreiche Bonner Bundes­re­publik aber wusste ihr unverdientes Glück nicht zu nutzen und setzte auf Unter­werfung, Besitz­stands­erweiterung und Linkenhatz.
  So will's die deutsche Tradition. Als sie auch noch den links­intel­lektuel­len jüdischen Wider­stands­denker Bloch im Osten vergessen machten oder wie im Westen baga­telli­sierten, begann ich die DDR als unsere unter Wert und Moral ver­schleuderte Chance zu verteidigen – mit Marx, Trotzki, Bloch und unseren Träumen. Kampf, nicht Krieg eben. Im Gedicht Die Mutter der Freiheit heißt Revolution, ent­standen 1956 im Leipziger Mendels­sohn-Haus, lautet die erste Zeile: Die alte Erde hält den Atem an – das war mir den prompt folgenden Partei-Aus­schluss wert. Die alte Erde hält noch immer den Atem an. Sie kann daran ersticken. Wer aber als Linker heute darauf wie damals reagiert, hat nichts begriffen. Das führt zu Krieg, statt Kampf. Heute warnen unsere Oberen als hießen sie alle Hubertus Knabe vor einer Bagatel­lisierung der weiland DDR. Sie war aber kein Augias­stall oder es betrifft beide Deutsch­lande. Die alten Griechen mobi­lisier­ten Herakles gegen den Augias­stall. Wir setzen bescheiden auf Marx gegen Nietzsche, der die ewige Wieder­kehr des Gleichen predigte. Was für eine Miseren-Parole. Seit 1848 verloren die Deutschen jede Revolution. Selbst die Reformation gelang ihnen nur halb. Man könnte sie vollenden. Auch dazu sind sie – Wetten dass? – unfähig.

Dies notiere ich am 16.2.2012. In der Zeitung wird gemeldet, Edmund Stoiber stieß am Vortag in Kelkheim auf dem Podium vor 500 Gästen sein Glas um, zeigt aufs leere Gefäß und ruft unter großem Beifall aus: „So ist der Euro.“ War's das also, ihr partei­christ­lichen Schelme? Stoiber hatte noch einen feinen Satz drauf: „Sollen etwa die Chinesen künftig die Welt bewegen?“ Stoiber tat's in Kelkheim jedenfalls nicht. Stieß nur sein Glas um. Wir aber kehren in die unver­gangene, jedenfalls unter Wert geschlagene Alternativ­welt zurück. Denn die Chinesen bewegen die Welt.
  Während Stoiber in Kelkheim sein welt­bedeutendes Getränk umwarf, durfte Sahra Wagen­knecht in der ARD-Runde bei Anne Will ein paar Tat­sachen ver­künden. Heiner Geißler sagte das­selbe, nur mit christlichem Herzblut. Dann baldo­werte die Runde weiter ihrer Endzeit entgegen. Wer von links her dabei mithalten will, muss es wissen. Deutschland schei­terte bei der Europa-Welt-Er­obe­rung zweimal mit Waffen und mit Kapital beim dritten Mal. Sie nennen es nur EURO und schmeißen es um.
Gerhard Zwerenz    20.02.2012   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz