Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Sonntags wolln wir unser Vergnügen haben. Mittag gegessen wird bei uns deshalb schon um 11 Uhr, dann fangen meine elf Brüder an, sich zu schmücken. Da wird gewaschen, angezogen, bemalt und beduftet und gegen 15.30 Uhr ist allgemeiner Abmarsch zu den Tanzlokalen. Obzwar mäßiger Tänzer, beschloß ich am gestrigen Sonntag, mich gleicherweise in ein solches Abenteuer zu stürzen. Unerfahren, wie ich bin, zog ich erst 17.00 Uhr los. Noch lachte ich mich innerlich halbtot über den von meinem drittjüngeren Bruder entpumpten Schlips, als – naja, jedenfalls warteten vor mir noch etwa 277 Tanzwütige auf Einlaß. Ich nahm mir vor, nie wieder sowas zu unternehmen, und wenn schon, wenigstens zum zweiten Frühstück schon da zu sein, und reihte mich eilig in die Einheitsfront. Die andern gaben sich eigentlich ganz venünftig, nur ein einzelner Pförtner stemmte sich gegen den Strom; was der dafür zu hören bekam, war von guten Eltern.
Ich muß nicht der einzige Unerfahrene gewesen sein, denn in den nun folgenden vier Stehstunden bekam ich noch mindestens 551 Hintermänner und Frauen.
Gegen 21.00 Uhr kreiselte es mich in das Lokal. Als ich verhältnismäßig lebend drin stand, war mir nur am linken Hosenbein der Aufschlag abgetreten und der linke Ärmel zerrbissen, dafür steckte aber mein rechter Fuß in einer Damenhandtasche und mit dem rechten Mittelfinger muß ich in ein Fläschchen mit Nagellack geraten sein, denn er glänzte abscheulich rot.
Leider verlor ich hierbei auch meinen Hut, fand aber als Gegenleistung ein Gebiß. Es paßt nicht ganz.
Außer auf dem Kronleuchter gab es nur noch unter einem wogenden Busen Platz. Vorsichtshalber entschuldigte ich mich und kroch drunter. Da schon zwei dort saßen, wurde es zwar eng, aber gemütlich. Wir unterhielten uns über Höhlenkunde. Als der Ober vorbeiruderte, signalisierte ich Durst, der Kerl verstand mich aber falsch und machte eine laszive Geste, die ich mit Rücksicht auf meine Behausung übersah. Nach etwa zwei Stunden schmiß er mir doch ein Bier vor, ich konnte aber nicht trinken, denn die Kapelle intonierte aus Versehen einen Walzer, und ein Booogie-Wooogie-Paar entrüstete sich so hoch, dass es, wieder runtergefallen, mir ins Bierglas stürzte und ersoff. Da sollte ich auch noch das Glas bezahlen.
Gegen 23.00 Uhr wurde es heiß im Saal. Einige waren schon vorher warm, einer sogar so, daß er zischte. Leider mitten im Saal. Man gab ihn in der Garderobe ab.
Ich selbst wurde auch getanzt. Zuerst von einer älteren Dame zwischen 19 und 20; da sie mich aber nicht besiegen konnte, geriet ich schließlich unter ein jüngeres Fräulein, das sich nach dreieinhalb Sekunden hinsichtlich meiner Vermögenslage erkundigte. Ich versicherte erschrocken, noch nicht sogleich heiraten zu wollen. Als ihr ein jüngerer Tanzspringer ins Getriebe geriet, gelang es mir zu entkommen. Ich wollte gerade aufatmen, wirbelte aber zu sehr in den Tonstrahl der 36 Saxophone, mit denen die Kapelle armiert war, und flog im Rhythmus eines zähneklappernden Zitteraals Hals über Kopf hinter die Theke. Eine Büfettdame stöberte mich auf und wies mich streng zurecht; wenn ich betrunken sei, solle ich mich in eine Gosse legen, nicht in ihre Schnapsflaschen. Ich schenkte ihr einen Kamm, damit sie sich die Haare auf den Zähnen kämmen könne und machte mich aus dem Theken-Staube.
In einer Pause fungierte ich als Schiedsrichter und wurde nur zweimal k.o. geschlagen. Ich bekam Durst, aber kein Bier. Schließlich erzählte ich einem Kellner einen Witz, und als er lachte, mauste ich ihm ein Glas vom Tablett. Neben mir stand einer, der wollte mirs nachmachen, doch gelernt ist gelernt - der durfte mein Helles auch noch mitbezahlen.
Ab und zu trug man einige nach draußen und es wurde immer gemütlicher im Saal. Schließlich konnte man sogar Luft holen, ohne den Nächsten zu kitzeln. Man kam sich richtig verlassen vor und bekam eine Vorstellung von Alaska, wo nur ein halber Mensch pro qkm wohnt.
Plötzlich gabs einen Krach und das Parkett war geplatzt. Ich versuchte heldenmütig einige Hineingeratene zu retten, wurde aber tüchtig verprügelt ... völlig zu Recht, ich Ahnungsloser kannte mich in der Kultur eben noch nicht aus, es handelte sich nämlich um einen neuen Tanz mit Tiefendimensionen ...
Schließlich kreiselte es mich an Land. Ich war zufrieden und hatte mich prächtig unterhalten.
Zuhause war Versammlung. Meine elf Brüder betrachteten mich mißtrauisch. Ich dürfe nichts von dem aufschreiben, was ich da erlebt habe, meinten sie. Denn das wäre eine Beleidigung aller Gastwirte, Objektleiter, Musiker, Tänzer, Boxer, Trinker und überhaupt aller anständigen Menschen sowie der ganzen Republik. Ich meinte, man könne doch die Wahrheit schreiben. Was du schreibst, ist keine Wahrheit, sondern Satire, sagten sie. Ich sah alles und mehr ein, griff zum Stift und schrieb:
»Ich war tanzen. Es war sehr schön. Vorwärts in eine lichte Zukunft!« Da waren meine elf Brüder begeistert und gingen zu Bett.
Ich sah auf den Kalender: 9.1.1955! Heute wäre Kurt Tucholsky 65 Jahre alt geworden. Wäre er es wirklich – Auch mit elf Brüdern?
Heute wird anders getanzt. Damals herrschte eben noch das brave Mittelalter.
Warum aber die hier abgedruckte Tanz-Story am 19.1.1955 in der Zeitschrift Die Weltbühne unter meinem Pseudonym Gert Gablenz erschien? In hohen Herrschaftszeiten empfiehlt sich die Taktik künstlicher Schizophrenie. Mal bin ich GZ, mal GG – notfalls auch noch ein anderer. So entsteht Pluralität und das heißt: Wir sind mehr Grenzverletzer als die oben glauben. Der Chefredakteur riet zum Pseudonym, weil meine kleinen Satiren Anstoß erregten. Mein zweites Ich wurde also 2005 exakt ein Halbjahrhundert alt. In Wirklichkeit steckte der etwas vorlaute Knabe schon länger in mir drin. Wir beide wussten es nur nicht so genau. Und als wir es begriffen, gaben wir auf neugierige Fragen kurz Bescheid. Wir sind, als Junigeborene, nun mal Zwillinge. Weil die Leute an Sternbilder zu glauben gewohnt sind, waren sie damit zufrieden. Wir aber lebten insgeheim in wilder Homo-Ehe, bis ich 1955 mit meinem Geheimnis offen herausrückte. 1957 gesellte sich eine Frau dazu, dann eine Tochter, Ingrid aber war schon vier Jahre vor der Ehe dabei. Der Mensch ist ein Gesellschaftstier mit vielen Köpfen. Denn er fürchtet die Einsamkeit, die ihn lebenslang begleitet bis sie siegt. Das nennen wir Tod. Den jedoch mögen wir nicht. Zumindest nicht gleich. Zwar ist jeder Lebende sterblich, also zum Tode verurteilt. Doch bitteschön – nach Ihnen.
Als Zwilling bin ich nicht nur doppelt vorhanden, mir wurden auch zwei Geburtsorte zugeschrieben, an dem Vorwurf ist was dran. Geboren bin ich in dem Dorf Gablenz bei Crlmmitschau in Sachsen. Meine Eltern zogen bald darauf nach Crimmitschau, holten mich aber nur an den Wochenenden zu sich, weil sie beide arbeiteten. Bis zu meinem 6. Lebensjahr lebte ich bei den Großeltern in Gablenz, dann jedoch, mit Beginn der Schulzeit, nahmen meine Eltern mich zu sich. .
Ich ging in Crimmitschau zur Schule, danach 3 Jahre in die Kupferschmiedelehre und fühlte mich der Stadt an der Pleiße voll zugehörig.
Dennoch blieb ich ein gebürtiger Gablenzer, und normalerweise wären mir daraus nie Schwierigkeiten entstanden. Doch was heißt schon »normalerweise«, heutzutage, wo nichts mehr normal ist.
Als meine ersten Bücher erschienen und die übliche Kurzbiographie verlangt wurde, gab ich als Geburtsort Gablenz an. Gedruckt wurde daraus: Gablonz. Ich intervenierte, Gablonz liege im Sudetenland, Gablenz dagegen in Sachsen. Um derlei Unklarheiten zu vermeiden, schrieb ich hinfort: Gablenz bei Crimmitschau in Sachsen. Wie staunte ich, als mein nächstes Buch auf dem Umschlagtext »Gablenz im Vogtland« zu meinem Geburtsort erklärte. Diese Konstruktion musste von einem intimen Sachsenkenner herstammen, der allerdings nicht ganz auf dem Laufenden zu sein schien.
Tatsächlich gehörte Gablenz eine Zeitlang zum »Landkreis Werdau« und zu einer anderen Zeit zum »Kreis Zwickau«. Beide Kreise grenzten an das Vogtland oder aber einige Gemeinden wurden dem Vogtland zugezählt. Wobei anzumerken wäre, dass der Begriff Vogtland unklar ist und das bezeichnete Gebiet keine festen Grenzlegungen kennt. Ganz und gar falsch war die Verlegung meines Geburtsortes ins Vogtland also nicht, aber auch nicht ganz exakt. Was mich aber bald zur Verzweiflung brachte, war die Tatsache, dass ich soviel gar nicht richtig stellen konnte, wie mir durch die falsche Geographie angehängt wurde. Überall wo ich es schaffte, tilgte ich das verflixte vorlaute Vogtland. Für jede Tilgung kamen zwei neue Vogtlande über mich. Erst kürzlich wurde ich gewahr, dass neben anderen Institutionen das Munzinger Archiv jenes »Gablenz im Vogtland« übernommen hatte, und da sich offenbar viele nach ihm richten, wurde daraus ein Nest. Ob nun aber Gablenz bei Crimmitschau oder Gablenz im Vogtland, beides brachte mir ein rundes Vierteljahrhundert hindurch einen nie abreißenden Strom von Anfragen und Leserbriefen ins Haus. Über runde 25 Jahre hinweg habe ich immer wieder Auskunft geben müssen. Gablenz wuchs sich mir zum Alptraum aus, ich wünschte die kleine Fünfhundert-Seelen-Gemeinde auf den Mond. Offiziell hatte ich es indessen aufgegeben, Gablenz aus dem Vogtland zu eskamotieren. Erstens nützte es wenig, zweitens hatte meine Mutter die Ortsverlegung für günstig befunden.
Sie, die wegen ihres Sohnes bei den Behörden nicht gut angesehen war und allerhand ausstehen musste, plädierte dafür, die Unklarheit ruhig beizubehalten. Da sie noch in Crimmitschau lebte und nach der ersten Nennung der Stadt in meiner Biographie Besuche von Bundesdeutschen bekommen hatte, auf die sie verwirrt bis erschreckt reagierte, sah sie sich leicht abgetarnt, wenn Gablenz im Vogtland liege und der Name Crimmitschau nicht genannt werde.
So ließ ich es also laufen, gab nur unentwegt auf Anfragen brieflich Auskunft und nahm manchmal jene Mappe zur Hand, in der Kurt Tucholsky an ihn gerichtete Leserbriefe aufbewahrt und in die er einen Spruch seines Freundes Walter Hasenclever eingetragen hatte: »Reich sein heißt: keine Briefe aufmachen müssen.«
Als meine Mutter gestorben war, richtete ich einen Brief an entfernte Verwandte in meinem Geburtsort Gablenz. Die Post kam zurück: wegen falscher Ortsangabe. Ich fand heraus, Gablenz existierte schon lange nicht mehr. Weder behördlich-amtlich noch postalisch. Auch die Bezeichnung Crimmitschau-Gablenz war nicht korrekt. Der Ort war offiziell nach Crimmitschau eingemeindet worden, irgendwann, offenbar schon lange zurückliegend, und nur der Kenner identifizierte ihn noch anhand der vierten Stelle einer Postleitzahl.
Da saß ich nun, und wenn ich angab, in Gablenz bei Crimmitschau in Sachsen geboren worden zu sein, so gab es davon zwei gar nicht mehr: Weder Gablenz noch Sachsen existierten noch. Nur Crimmitschau, dem ich mich zugehörig fühlte, lag nach wie vor an Deutschlands ältestem Industrie-Fluss Pleiße. Aufatmend begriff ich, jetzt musste generalbereinigt werden. Mit einem einzigen großen Schnitt könnte ich mich fürs nächste Vierteljahrhundert von der Pflicht befreien, immerzu briefliche Anfragen wegen Gablenz beantworten zu müssen. Inzwischen war meine Mutter verstorben, bedurfte also des Schutzes nicht mehr. Mit einer lange nicht mehr so stark und freudig herausgelassenen Energie drückte ich meinem nächsten Buch die Geburtsortsangabe »Crimmitschau« auf.
War etwa ein in Charlottenburg geborener Berliner nach der Eingemeindung Charlottenburgs kein Berliner? Darf, wer in Waldtrudering geboren wurde, etwa nicht nach dessen Einvernahme durch München als Münchner auftreten? Gablenz gab es nicht mehr. Sachsen war in der Geschichte dahingegangen, frei von allen Rücksichten bekannte ich mich also als Groß-Crimmitschauer, meinem Herkunftsort.
Freilich hatte ich die Rechnung ohne meine Feinde gemacht. Deren grimmigster, ein kleinlicher Schriftsteller, der keines meiner Bücher richtig gelesen hat und mich deshalb so ungebrochen haßvoll glossieren kann, in der steten Hoffnung, ich würde seine immerwährenden Falschmeldungen schon korrigieren, dieser Herr Hirnscheiß also, wie Ingrid ihn zu nennen pflegt, klagte mich unverzüglich an, in zwei verschiedenen Orten geboren worden zu sein.
Trag es mit Würde, sagte ich mir, jedenfalls brauchst du hinfort nicht immerzu Briefe mit Fragen nach Gablenz zu beantworten, ob der Ort wirklich so heiße, wo er liege, ob es sich nicht um Gablonz handele usw.
Gerade als ich diese Niederschrift beendete, brachte die Post eine Buchsendung. Es ist das Munzinger-Archiv, 250 deutschsprachige Schriftsteller der Gegenwart in Kurzporträts. Zum ersten Male halte ich die sagenumwobene sagenhafte Quelle in Händen.
Ich schlage hinten nach, unter Zwerenz, Gerhard, und lese: »in Gablenz im Vogtland« geboren. (Copyright 1983) Was aber, wenn für einen Sternbild-Zwilling zwei Geburtsorte durchaus angemessen sind, wenn nicht gar eine unverzichtbare Voraussetzung?
Inzwischen ist das Land Sachsen aus dem Nirwana auferstanden, ich bin wieder Gablenzer, Crimmitschauer, Sachse, ob es mir nun gefällt oder nicht. Eines habe ich mir geschworen: Ich erkenne keine Grenze an. Unser Leben hat grenzenlos zu sein. Das erklärt auch die Titulatur dieser Serie von 99 Fragmenten, die zugleich meine individuelle Biographie und die Sachsens ist. Von meinen bisher 82 Lebensjahren verbrachte ich sechsundzwanzig innerhalb und sechsundfünfzig Jahre außerhalb meines Geburtslandes. Im Kopf, mindestens im Traumreich führte ich ein alternatives und gedoppeltes Leben. Das lässt sich lustvoll beschreiben. Denn meist sind die Zeitverhältnisse so lausig, dass ein einziges Leben zu ungerecht wäre, um sich damit zu bescheiden. Im Vertrauen: Vielleicht finden sich bei mir noch mehr Geburtsorte und Pseudonyme …
Mit der Weltbühnen-Tanz-Satire von 1955 artikulierte ich als kleiner Autor damals in der DDR das bescheidene Anliegen, mich pointiert, kritisch und frei auszudrücken. Schon im Jahr darauf, als ich nicht mehr den Umweg über Tucholsky nutzte, um unsere kleine Freiheit einzufordern, war für gewisse Leute das Maß voll. Plötzlicher Abgang westwärts.
Aus der Glosse über zwei Geburtsorte wird dann klar, wie wenig die Flucht vom östlichen ins westliche Deutschland im Grunde änderte. Als Sachse im Ausland war ich immer Ost und West, der eine und der andere, und wenn mir der Wind zu heftig ins Gesicht wehte, rief ich mir zu: Vergiss nicht, du hast eine von innen und außen bedrohte alte Pleißenkultur zu verteidigen.
So entstand im Verlauf des halben Jahrhunderts, das der entflohene Pleißeaner im goldenen Westen verbrachte, ganz nebenbei eine Reihe kürzerer oder längerer Humoresken und Satiren, die in Presse wie Rundfunk ihren Platz fanden und manche auch nicht.
Da meldete sich 1984 ein umtriebiger Nachbar, der höherer Heiterkeit nicht abgeneigt war und wünschte sich einen Sammel-Band solcher Geschichten, daraus ergab sich Das Lachbuch, das der Mann in seinen Supermärkten plazierte und verkaufte, denn er war der King in so einer großen Handelskette und ich erfreute mich der Kleinigkeit einer Auflage von 100.000 Lachbüchern. Inzwischen ist der Band mit den 68 Lachgeschichten höchstens noch antiquarisch aufzufinden, denn es gibt immer weniger zu lachen, aber mein eigenes Autorenexemplar reicht für den privaten Spaß.
In einem Anflug von Melancholie blättere ich darin und finde auf Seite 101 den apokryphen Satz: »Herr Doktor, der Simulant auf Zimmer 47 ist gestorben.«
Da wir gerade vom Sterben reden, komme ich auf unseren Nachbarn zurück, den Selfmademan und Aufsteiger, der in seiner kraftstrotzenden Art so mitriß und imponierte, wie mich die unbedenklichen Methoden von Einkauf, Preisdrückerei im Umgang mit den Lieferanten und die radikale Sortimentskontrolle in den Supermärkten abstieß. Was nicht sofort Erfolg brachte, flog raus. Ich hatte ihn oft genug bei seinen Inspektionsgängen begleitet, um zu wissen, wie Kapitalkonsumismus funktioniert. Wenn wir den Zweimetermann »Weißer Riese« nannten, war das so respektlos wie respektvoll gemeint. Dann war die Familie des Landlebens und ihres luxuriösen Anwesens mit dem weitläufigen Garten plötzlich überdrüssig und bezog eine superbe Penthousewohnung in der nächstgelegenen Großstadt. Die beiden Söhne, inzwischen erwachsen, lebten im Ausland. Der ältere ist Pilot bei einer Airline in New York, auf seinem Anrufbeantworter fand er eines Tages die Nachricht. »Eben habe ich deine Mutter erschossen, und jetzt erschieße ich mich.«
Rätselhaft, warum dieser tüchtige Mann, dem es trotz des anstrengenden Jobs nie an Lebenslust und Humor gefehlt hatte, seine liebenswerte Frau und sich umbrachte. Der Satiriker in mir wünscht sich, die Leute sollten sich literarisch totlachen statt sich totzuschießen.
Am Montag, den 11. Februar 2008, erscheint das nächste Kapitel.