Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
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Blick zurück und nach vorn
Karl May (1907)
Nach dem vorläufig letzten Weltkrieg verbrachte ich ein erstes halbes Jahr auf den elbnahen Lößnitzbergen bei Dresden Radebeul. Unweit des Lungen-Sanatoriums stand das Haus, von dessen Balkon aus Gerhart Hauptmann im Februar 1945 den Untergang Dresdens wahrnahm. Die feurige Hölle, die sich bis in den Himmel erstreckt, brachte den alten Mann zum Weinen. Mit meiner Vorliebe für die Rehabilitation der Toten durch Rückberufung ins Leben sah ich den verstorbenen Hauptmann dort noch 1950 auf dem Balkon stehen und Karl May über die schmalen Weinbergpfade wandern wie auf dem Kriegspfad. Von der Pleiße an die Elbe – du brachtest es weit, sprach ich den Volksdichter an, der vom Schatz im Silbersee das Silber beschwor, das im Erzgebirge abgebaut wurde, bis der Schatz verschwand und die Russen nach dem Gold der Moderne gruben – Uran, das Blut der Bombe. Es war aber ein anderes Gold, das als Radium im Boden verborgen lag und bald reisten wieder Fremde in die mit Radium angereicherten Bäder, um zu gesunden. Die Einheimischen jedoch lebten hier, atmeten es ein, tranken davon Tag für Tag und wuschen sich mit dem besonderen Nass. Es ist ein sächsisches Geheimnis ums verborgen blühende Leben – du bist stärker, besser, klüger als es scheint. In den Urstromtälern von Pleiße und Mulde überlebte die Rasse der Neandertaler. Im Radium-Erdreich, umspült von radiumhaltigen Gewässern vereinten sie, das ist einzig auf der Welt, ihre Urstromernergien mit den Kulturen des homo sapiens, und den Freiheitsdrang der neuen Menschenklasse spiegelte Karl May in den Figuren von Winnetou und Kara ben Nemsi alias Old Shatterhand.
Von den Lößnitzbergpfaden auf die silbergleißend dahinfließende Elbe hinabblickend sah Karl Winnetou-May stets die Pleiße vor sich. Die Elbe macht Dresden zu Elbflorenz. Die Pleiße aber ist für Wissende der unablässige Erzählstrom, der die Erzählzeit mit sich bringt. Und wenn die Pleiße austrocknet, sterben die Worte. Die Klischeefabrikanten werfen ewig mit wohlfeilen Sprüchen um sich, von wegen die Sachsen seien helle. Sie sind so helle oder dunkel wie andere Kontinentler, erst die Mischung von Bescheidenheit und Genie, von Energie, List und Lebenslust, potenziert durch Mutterwitz macht den Sachsen aus, und der Funke verlischt in Zeiten seelischer Dunkelheit oder springt vom illuminierten Einheimischen auf den Zugewanderten über. Wir können alles außer hochdeutsch werben die Schwaben mit eleganter Selbstironie für sich. Der Dialekt Sachsens war als Meißner Amtssprache zu Goethes Zeiten hochdeutsch in reinster Ausprägung, woraus die 77 Landesdialekte entstanden. Wer Ohren hat zu hören, dem klingt das Klingentaler Sächsisch wie Musik zur Musik, dem wird das Dresdner Deutsch zum ruhigen Urstrom der Mitteilung von Amt zu Amt, das Leipziger Idiom aber zieht den Pleißenslang vor, der sich über 80 Kilometer hin in 25 Varianten der westsächsischen Lautverschiebung gefällt. Es gibt allein 17 Arten das „a“ auszusprechen, weshalb als Ausgleich nicht zwischen „b“ und „p“ unterschieden werden muss. Unsere radiumhaltige Pleiße aber bevorzugt ihren ganz eigenen Wellen- oder Zungenschlag, und wer auch nur einen einzigen Spritzer des Zauberwassers abbekommt, der lebt davon als wäre es volkseigener Champagner.
Im vorigen Kapitel beschrieb ich Chemnitz und Sachsen und seine große bevorstehende Zukunft als Partner Chinas. Mir scheint, die Sowjetunion hätte sich statt aufzugeben besser Sachsen anschließen sollen, das im Bündnis mit Polen wie zu August des Starken Zeiten, dazu unter Einschluss von Prag, Berlin und Brandenburg unschlagbar modern geworden wäre, zumal mit China als Musterpartner, denn erst kommt das Fressen und dann die Moral, erst der Kapitalismus, dann der Sozialismus, so ist von den gelben Roten zu lernen, wie man das Kapital mit Marx globalisiert, dass ein Lackschuh draus wird. Lernt also lachen, Genossen, euer Ernst ist furchtbar genug. Wer seine schönsten Träume verleugnet, fällt den Angstträumen anheim.
Kaum hatte ich das notiert, erhielten wir Post von Karl May. Er schrieb unter dem Titel
Brief des letzten Sachsen an die werte Nachwelt: „Sachsen war immer ein fleißig aufblühendes Land voller Menschen aus Fleisch und Blut. Die Bastei war der Balkon, von dem aus man bis Ultimo blicken konnte, das Erzgebirge der ostwestlich sich hinziehender Kamm, von dem Bäche und Flüsse zu Tale strebten, als wäre Europa noch in Ordnung gewesen. Liebe Chinesen, wenn ihr nun hier im Landes-Naturschutzpark Sachsen euren wohlverdienten Jahresurlaub verbringt, denkt an uns, wie wir einst an die letzten Indianer Amerikas dachten. Was die Karl-May-Festspiele waren, sind nun die Sachsen-Opern, die Nietzsche-Krimis und Bloch-Dokumentationen, letzte kulturelle Überbleibsel einer tragischen Endzeit, in der das Volk der Sachsen sein Reich zwischen Pleiße, Elbe und Neiße gegen die Übermacht missgünstiger Feinde verteidigte, die es erst aufkauften und dann verkommen ließen, statt seine guten und reichen Anlagen zu nutzen. Die sächsische Kulturgeschichte ist eine rasante Kurzgeschichte. Nach Widukind und den Königen entstanden an den Flüssen Fabriken, auf den Bergen Burgen und in den Städten Schlösser und Rathäuser. Die tüchtigen Sachsen wurden Werk- und Bergarbeiter, Erfinder, Entdecker sowie Dichter und Denker. Im Lande baute man Kraftwagen, die hießen Horch, DKW, Auto-Union, Trabi, dann VW und Porsche, doch da herrschten schon die neokolonialen Krisenzeiten, in denen die Epoche der verlängerten Werkbänke begann, die bald kürzer und kürzer gemacht werden mussten, weil die Automobil-Importe aus dem chinesischen Weltreich anschwollen wie die Bäche und Flüsse Sachsens zu Zeiten der Schneeschmelze. Man weiß nicht genau, wann die vielen jungen Frauen außer Landes gingen und die verbliebenen in den Gebärstreik traten. Die Medizinhistoriker geben den immer engeren modischen Jeans die Schuld. Eine andere Sparte, die Psychologen, nennt es Fortpflanzungsunlust, gar Fortpflanzungsmelancholie bzw. Zeugungsverweigerung. Eine vierte Wissenschaftsschule beruft sich auf Umfrageergebnisse aus der Zeit der vorletzten Sachsengeneration, als die Frauen schon davongegangen und nur noch kleine Männergrüppchen anzutreffen waren. In dieser Ära strömten immer mehr Chinesinnen und Japanerinnen kurzfristig und lustfreudig ins Sachsenland, es mutete an wie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als Hamburger und Kölner Blondinen an die Adria – Rimini z.B. – reisten, der virilen Italiener wegen. Die endlich wieder geforderten Sachsen-Männer erwiesen sich als willig und fruchtbar, wovon heute eine ganze Anzahl Halbsachsen in Asien zeugen, von denen manche gar ein sächsisch getöntes Chinesisch sprechen, was die Qualität ihrer urtümlichen Gene von Elbe und Pleiße beweist. Natürlich blieb die Wunderwirkung sächsischer Lenden in den Mega-Städten Asiens nicht verborgen, was die Anzahl der in den Freistaat einreisenden Urlauberinnen gewaltig emporschnellen ließ. Dergestalt erreichte die Übernachtungsfrequenz im Lande ungeahnte Höhen, doch starben die zeugenden Männer im Dauerdienst des Fremdenverkehrs dahin, und aus wars mit dem autochthonen Freistaatsvolk. Im Jahre 2077, wir wissen es, durfte Sachsen sich auf Antrag als Staatsbad der Chinesischen Volksrepublik anschließen.“
Soviel von Karl May. Wer aber auch immer den Namen Mays heute als Pseudonym nutzt, er lügt so wahr wie der echte. Oder ist Karl May auferstanden wie die deutschen Kriegshelden im Fernsehen, denen wir nun bei Kampfeinsätzen bis zum Hindukusch nachfolgen sollen? In der
FAZ las ich: „Die Toten kehren wieder zum Tanz.“ Tatsächlich saß Karl May als Wiedergeborener am 24. 3. 2007 ab 22 Uhr 15 bei
Phönix in der tv-Sendung
Forum Pariser Platz, auferstanden aus der Asche, wo Prof. Stürmer die friedenserhaltende Besetzung Afghanistans verteidigte wie Hitler einst Stalingrad, General Reinhard die 1990 von Bonn versprochene Friedensdividende als dringend notwendige neue Aufrüstung deklarierte und Gregor Gysi die Steinzeit-Runde mit jedem ihm zugebilligten vernünftigen Satz besoffen reagieren ließ. Karl May, der sich als Toter von Stalingrad ausgab und listig zur Nachahmung empfahl, denn nichts ist süßer als ein Tod fürs Vaterland, beschloss die Sendung mit folgenden Quizfragen, denen wir uns anschließen. Was ist richtig:
Erhielt Grass als SS-Mann das Ritterkreuz?
Wird Wolf Biermann nach der Berliner Ehrenbürgerschaft nun auch Ehrenbürger von Washington und übernimmt G. W. Bush die Laudatio? Wer die zutreffende Antwort gibt, darf zur Belohnung die nächste
Phönix-Runde moderieren.
Als Adenauer die Bonner Bundeswehr gründen ließ, nahm er achthundert Ritterkreuzträger der Wehrmacht mit auf, denn die Freiheit fordert ihren Preis. Nun frage ich mich, was haben wir Sachsen damit zu tun? Ich werde mich mal beim Marx-Nischel in Chemnitz danach erkundigen.
Am Montag, den 1. Oktober, erscheint das nächste Kapitel.