Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
1971, also zehn Jahre und ein Dutzend Bücher später, suchte ich in Kopf und Bauch die politische Misere ins Rezept einer militanten Poetik zu fassen: »Untersuchen müsste man, inwieweit die herkömmliche Belletristik Sklavensprache, deren Theorie und Rezensionswesen dazugehörige Ideologie ist … Wie denn, wenn der Autor sein erfundenes Ich hauptsächlich vorführte, weil er sein eigenes nicht zu bekennen wagte? Gustave Flaubert, auf seine Heldin Madame Bovary hin gefragt, antwortete entwaffnend: Madame Bovary, das bin ich.
Vielleicht ist die bürgerliche Belletristik in der Wolle gefärbte Verkleidung, sind die gesellschaftlichen Zwänge primär bestimmend auch darin, dass der Roman als Fictions-Genre entstand, mit all seinen Personen und Darlegungstechniken?
Die wahre Literaturgeschichte bestünde dann in der Durchbrechung dieser Konvention, im Ablegen der Maskeraden oder auch Durchstoßen der Masken. Unter den Verhüllungen wird erst die nackte Wirklichkeit sichtbar. Henry Miller fand mit der Autobiografie also ganz anderes als die bloße Person. Indem alle Belletristik, ihre apologetische Ästhetik einbeschlossen, als Technik von Sklavensprachen dechiffriert wird, gewinnt Literatur eine neue Dimension. Die Masken sind ab, nun gehören die stinkenden Lumpen der alten Verhüllungen verbrannt, der Leib leuchtet auf in all seinen Scheußlichkeiten, Schönheiten und beider Steigerungen, von denen die bürgerliche Idylle nichts ahnte.«
Einige Seiten weiter wird der rote Faden noch mal aufgenommen: »Wer seine Ästhetik vor seinen Werken fertigt, ist voreilig. Wer seine Ästhetik aus abgeschlossenen Werken abstrahiert, ist zu gemächlich gewesen. Seit die Geisteswissenschaft in den Dienst des Staates gestellt wurde, ist sie Zensur. Unterscheiden wir zwischen der postumen und der prophylaktischen Zensur. Die Staaten gebären Schriftsteller, deren Kreativität gleich null und deren einzige Leidenschaft die immerwährende Selbstzensur ist. Ich erkenne allein die Ästhetik der Beiläufigkeit an. Wenige nebensächliche Sätze, bescheiden beiseite. Nur das eine Promille, die raren Aufmerksamen sollen stutzen. Die kleinen versteckten Botschaften sind die einzigen revolutionären Lehren, die wir noch vermitteln können im Zeitalter der allmächtigen Geheimdienste, das Intimität nicht mehr erlaubt. Erfinden, erzählen, berichten wir Geschichten, in deren Fugen sich spurenhaft auffindbar versteckt, was nicht gesagt werden kann. Befriedigen wir das Bedürfnis der Masse nach dem Skandalon und das der Zensoren nach dem Ungesagten, ohne es dabei zu belassen.«
Diese Sätze erinnern mich an die damaligen Mühen, eine eigene Poetik, besser Gegen-Poetik zu erfinden. Die Herkunft aus der DDR inklusive Oppositions-Erfahrung, inklusive auch der neuerlichen oppositionellen West-Erfahrungen, führen zur Suche nach exklusiver Differenzierung. Daraus wurde die Suche nach den eigenen Quellen. Das Resultat ist der genaue Blick in den Spiegel:
»Mensch: Dies hier ist eine Selbstdarstellung, wie sie mir rücksichtsloser nicht möglich wäre. Auf nichts anderes als darauf kam es an – mich selbst ohne Scham, Selbstmitleid, verschwiegene Bezirke auszudrücken. Die Technik der Niederschrift völlig den Notwendigkeiten der Selbstanalyse unterworfen. Viereinhalb Jahrzehnte eines Lebens werden damit begraben. Hernach kann ich vielleicht noch erfinden, wünschen, fantasieren, fremde Menschen und Gegenstände beschreiben, Tagebücher vorlegen, ich werde mich aber selbst nie mehr mit der Konsequenz dieses Buches ausdrücken können, denn es gibt nur eine Quintessenz. Ich will aber nicht sagen, dass mein Leben, wie ich es gelebt habe, gut und richtig gewesen ist.«
Der letzte Satz bezeugt wieder Verunsicherung. Also schlägt die rote Faust auf den Tisch, auch wenn es nur der Schreibtisch ist: »Im übrigen ist jetzt der Augenblick gekommen, eine Verbeugung vor uns selbst zu machen. Wir sind besser als unser Ruf. So kurz vor dem Ende sollten wir Deutschland und den Deutschen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Deutschen haben ihre größten Irrtümer, Dummheiten und Verbrechen hinter sich gebracht. Die Niederlage hat uns nicht geläutert, doch hat sie uns aufgestört. Etwas in uns ist anders geworden. Den USA-Bürgern und den Sowjets steht unsere Erfahrung noch bevor.« Fehlt noch die daraus zu ziehende Konsequenz. Hier ist sie: »Ich aber bin nachhaltig unfähig, an den Parteischulen der DDR Vorlesungen über sozialistische Disziplinen zu halten. Ich bin unfähig, für die Bürgerzeitungen der BRD Leitartikel über kapitalistisches Wohlverhalten zu schreiben. Ich verweigere das eine und das andere und zu jedem auch die Alternative. Vereinigt euch oder vereinigt euch nicht. Bekriegt euch oder bekriegt euch nicht. Diese vor Langeweile klirrende Langeweile, nur seitab in Venedig zu ertragen. In die nervösen Schwankungen des Erdbodens einen sinnlichen Rhythmus bringen.«
Na schön, in Kopf und Bauch floh der Außenseiter in die Lagunenstadt, weil dort der deutsche Tod seine literarische Tradition hat. Was aber wird aus der Revolution, die im zurückgelassenen Zweistaaten-Deutschland längst ihren Marathonlauf Richtung Konterrevolution antrat? Meine Antwort von 1971: »Dieses Land verkümmern lassen oder es vorantreiben. Denkbar ist beides. Das eine wie das andere. Von zwei Möglichkeiten die eine oder andere realisieren – das ist jetzt die Alternative.
Wenn es vorangeht, werden die Menschen wieder beschreibbar. Nullen sind nicht zu beschreiben. Nullen drücken ihre eigene Wertlosigkeit aus. Deutsche Literatur: Nullen, die Nullen beschreiben. Wer ausbricht, wird verhindert und zum Nichts gemacht.«
Im Venediger Hotelbett liegend, nur hin und wieder von einer Katze besucht, wie ich mehrfach anmerkte, weil Einsamkeit dem Sterben adäquat ist, danach kommen, wie gepredigt wird, die Himmels- oder Höllenkollektive, entbehrte ich doch virtueller Begleitung nicht. Öfters erschien mir Marinus van der Lubbe, seinen abgeschlagenen Kopf in Händen. Es war wie in Leipzig, wo wir uns einst am Reichsgericht begegneten. Und er pflegte dabei zu lachen, wenn auch nicht aus vollem Halse. (Siehe dazu Folge 9 dieser Serie)
Im Rückblick klingt der Text etwas pathetisch, jedenfalls in den Ohren der Papiertiger. Für unsereinen ging's um die Wurst. Mir saß, außer meinen Leipziger Weisheiten, und ich war und bin dankbar für diese Lehrzeit, ein Krieg in den kaputten Knochen und im unverlorenen Gedächtnis. Der beschissene Tod tanzte auf der Schreibmaschine herum und grinste siegreich. In Kopf und Bauch (1971) berichtete ich aus der Kaserne im besetzten Belgien, wo wir sächsischen Rekruten für den Krieg zugerichtet wurden, einen Vorfall, der mich als jungen Soldaten zutiefst beeindruckte, weil es um einen Kriegsverweigerer ging. Ich verkürzte den Text von vier Seiten auf neun Verse meiner ganz eigenen Machart, hochgestochen gesagt: Poetik. Zartbesaitete Lyriker schwingen sich dazu auf'n Pegasos, für mich ist ein Gedicht reduzierte Prosa, in der die Briefmarke das ganze epische Paket vertritt – aber VORSICHT beim Öffnen. Die Verse mit dem Titel Nachruf auf einen Frühwissenden erschienen 1985 in meinem partisanischen Gedichtband Die Venusharfe, einem zielsicher querschießenden Taschenbuch, Auflage 20.000, von solchen Zahlen können Poeten nur träumen.
Ich trat nicht nur in sämtliche Vaterlandsfettnäpfchen, ich trampelte darauf herum und investierte mein halbes Leben. Jetzt also:
Nachruf auf einen Frühwissenden
In der Garnison, wo sie uns zu Kampfstieren ausbildeten, führte die entsicherte Pistole Marke Hauptfeldwebel eines Morgens einen Soldaten unterm Helm vor die Front. Der Mann, ein Junge von höchstens achtzehn, blickte aus Augen um sich, die waren voll vom Leuchten des Todes. Ich hatte damals noch alle meine späteren Verfehlungen vor mir. Kompanie stillgestanden! Es wird verkündet: Das Kriegsgericht der Armee hat Den Soldaten Soundso verurteilt. Mann, dachte ich, Kamerad, Genosse, so was muss einer klüger einfädeln. Nun werden sie dich durchlöchern. Zum Sieb dich machen. Dein Sarg ist schon gezargt. Der mit den todesleuchtenden Augen griff sich unters Kinn, riss den Helm am Riemen vom Schädel und schmetterte den Stahl aufs Pflaster. Es schepperte lustig in den belgischen Sommermorgen. Junge, dachte ich. Du verstehst es, mit Würde zu sterben. Und zu Blechmusik. Als ihn die Pistole, die mit Hauptfeldwebel angeredet wurde, wenn überhaupt einer sich traute, dem Gefängnis der Zähne ein Wort entlaufen zu lassen. Als ihn die Pistole, rauchend vor Wut, bleich vor Empörung. abführte, lief ein Zittern durch die angetretenen Soldatenseelen. Der Verurteilte hatte sie mit seinem Blick ein wenig berührt. Nachlässig. Im Vorüberhinwegabgeführtwerden. Immerhin sicherte der Junge sich seinen ganz individuellen Tod. Manche wissen schon früh, was sich gehört.
Wir sind bei der Kunst (Poetik) vor dem Weltende und ihrer Unlust angelangt. Die Melancholie breitet sich aus, ist ansteckend, macht mürrisch und verdriesslich. Das hängt mit dem Verschwinden der Humanität zusammen, denke ich und weiß, es hängt nicht damit zusammen. Aber sie ist verschwunden. Die alten Autoren hatten die Wahl. Entweder waren sie Humanisten, dann wurden sie verfolgt, oder sie waren Faschisten, das heißt, von ihnen wurde verfolgt. Heute gibt es keine Humanisten und keine Faschisten mehr. Heute werden alle verfolgt. Heute verfolgen alle. Heute ist jeder ein verfolgender Verfolgter, ein verfolgter Verfolgender und hält er sich auch abseits. »Keiner ist weniger schuldig als der Schuldigste unter uns.« Dostojewskij in Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. Inzwischen wurde das Totenhaus ins Totale erweitert. Die Wasserfolter ist ein Spaß mit Weihwasser. Roland Koch springt allabendlich in den hessischen Jungbrunnen und erwacht morgens als versiegelte Jungfrau. Der brave Soldat Schweyk verkleidet sich als Peter Struck und entsendet seine Söhne an den Hindukusch, unsere Freiheit zu verteidigen, die nach dem Sieg der Taliban endlich in Georgien gegen die Russen weiterverteidigt werden kann. Aber, denkt Otto Normalverbrauchter, unsere eiserne Physik-Maus, das Merkelchen, versprach doch eben in Moskau friedlichen Austausch. Was geht das mich an, denkt der Einsatz-Minister, während er am Gefallenendenkmal ein Trauergedicht auf heimgekehrte Helden im Sarg ablässt, und ich vervollständige seine vaterländische Ästhetik mit der erhebenden Erinnerung ans schöne Jahr 1941, als unsere siegreich vordringende Wehrmacht an den Fronten auf sowjetische Eisenbahnwaggons stieß, die den Warenaustausch-Vertrag zwischen Moskau und Berlin getreulich erfüllend, Getreide Richtung Westen transportierten, unseren angreifenden Panzerarmeen entgegen. Hitler sagte Trallala – Pakte sind zum Brechen da.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 10. November 2008.
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Gerhard Zwerenz
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