Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Wie in der vorigen Folge angekündigt, steht hier jetzt der 263 Zeilen umfassende Lebenslauf, den die
Welt der Literatur erst anregte und dessen Abdruck dann von oben her verhindert wurde, was der zuständige Redaktions-Doktor bedauerte, weil es ihn im Land der Freiheit des Wortes als nicht recht zuständig erscheinen lässt. Da sei zugegeben, ich mochte mich im Text nicht einiger Untertöne enthalten, die als Provokation missverstanden werden können.
Nun also die Geschichte:
Die ersten 32 Jahre hatte er alle Hände voll zu tun, sein Leben und seine kleine Freiheit zu verteidigen. Die zweiten 32 Jahre flüchtete er an den Schreibtisch, weil er sich 100 Bücher zu verfassen vorgenommen hatte. Mit 65 ging er in Rente, lehnte sich zurück und stellte erstaunt fest, er war alt geworden, ohne es zu merken. Also beschloss er, die zweiten 65 Jahre zu faulenzen, was seine Tochter Catharina nicht glauben konnte, weil sie ihn immer viel jünger sah als er war. Nach 1 Jahr Pause begann er seine eigenen Bücher zu lesen, und da es das erste Mal geschah, dass er sich las, lernte er sich besser kennen. Welch ein Glück, sprach er, ich bin begünstigt, denn ich überlebte meine 1000 Feinde.
Gerhard Zwerenz mit Billy
Dann zählte er die von ihm verursachten Skandale, um sie endgültig zu vergessen. Nicht ohne Rührung erinnerte er sich einiger guter Freunde und Frauen, trauerte um zwei Wellensittiche, drei Katzen und seinen Hund Lord Billy. Endlich las er, was seine Frau über ihn geschrieben hatte – nicht viel, aber mit herzlich feiner Ironie. Zu gütig, dachte er, beinahe bewegt, und dann erinnerte er sich messerscharf an seine ersten Lebensjahre, die er bei seiner Großmutter Anna verbracht hatte, die ihn so liebte, dass er, mit kaum 6 Jahren eingeschult, wehrlos den anderen ausgeliefert war. Nun lernte er, seine Fäuste zu gebrauchen. Später gebrauchte er Gewehr, Maschinengewehr, Handgranate, bis er sich endgültig von allen Waffen und Waffennarren verabschiedete und stattdessen hinter seinem Schreibmaschinengewehr sitzend feuerte. Taten ändern die Welt nicht, Worte ändern die Welt nicht, vielleicht ist die Liebe die einzige Revolution, sagte er sich und las nun seine erotischen Bücher, von denen behauptet wurde, sie seien pornographisch. Er lächelte bei dem Gedanken an die vielen unveröffentlichen Manuskripte, die er zu verbrennen gedachte, denn ihm schien, er sei mit jedem Buch unbekannter geworden, so dass eine Distanz entstand, hinter der er sich endlich ganz und gar verbergen konnte.
Vom Selbstmörder Tucholsky entlieh er sich den Begriff »aufgehörter Schriftsteller«, welches schöne Wort er in den nächsten amtlichen Fragebogen einsetzte. Dermaßen gescheitert schätzte er sich noch glücklicher als zuvor, und wenn ihn fürderhin eine Nachricht aus den ersten vergangenen fünfundsechzig Lebensjahren erreichte, schlug er sie unbesehen den Mythen zu und freute sich auf die nächste Rentenzahlung. Es kann somit nicht als gesichert gelten, dass dies ein Nachruf sei auf einen Verstorbenen. Mag sein, er lebt noch. Oder auch nicht. Es bekümmert ihn sowenig wie der Schall und Rauch des ganzen Jahrhunderts, in das es ihn verschlug, weil seine Mama eigensinnig seine Abtreibung verweigerte, als es noch Zeit dazu gewesen wäre. Da es ihm nicht vergönnt wurde, ungeboren zu bleiben oder früh zu sterben, wie der alte Grieche sagt, gefiel er sich darin, dem Zeitalter so lange wie möglich einen uninteressiert breiten Rücken zuzuwenden. Um es ein wenig vornehmer auszudrücken als er es in seiner geradeherausen Art dachte. Allerdings unterlaufen ihm manchmal gewisse Rückfälle. Da mischt er sich urplötzlich ein und schreit los. Zur Besinnung gekommen, schämt er sich und gelobt, schweigend weiter abzusterben wie es sich gehört in bürgerlichen Vorhöllen.
Gerhard Zwerenz: 17jähriger Kindersoldat an der Kanalküste
Als er soweit gelangt war mit dem Nachruf auf sich selbst, missfiel ihm, von sich in der dritten Person zu sprechen. Also trat er vor den wandhohen Spiegel und sprach hinein: Ich lebe noch. Beim gemächlichen Rückzug von Neapel nach Norden auf die Stellungen bei Monte Cassino zu beobachteten wir von einem Berg aus den Aufmarsch der US-army. Ungefährdet von unserer Luftwaffe, sie gab es nicht mehr, und von unseren schweren Waffen, die längst zurückverlegt worden waren, breiteten die Amerikaner sich friedensmäßig aus. Der die Nachhut führende Leutnant, das Panorama durchs Fernglas betrachtend, murmelte: »Es wird nicht leicht sein, aber wir werden es schaffen.«
Ich hatte inzwischen mit dem bloßen Auge mehr als zweihundert Panzer gezählt und fragte, was geschafft werden solle, wobei ich an unsern Befehl dachte, den Feind für drei Tage aufzuhalten und dann die nächste vorbereitete Stellung zu beziehen. Der junge Offizier setzte das Glas ab, sah mich zornig an und erläuterte: »Zu siegen, die Amis zurückzuschlagen und unten ins Meer zu werfen.« Mit »unten« meinte er die Meerenge zwischen Kalabrien und Sizilien, von wo wir in monatelangen Kämpfen zurückgedrängt worden waren, was im Wehrmachtsberichtsdeutsch hieß: Wir hatten uns geplant zurückgezogen.
Die kalte, zornige Zurechtweisung des Leutnants verführte mich zu einer mechanischen Reaktion. Es lachte gegen meinen Disziplinierungswillen aus mir heraus. Die Gedanken des tapfren Kriegers standen so deutlich im Gegensatz zu unserer tagtäglichen Erfahrungslage, dass ich den Widerspruch anders nicht aushielt. Ein paar Granateneinschläge in nächster Nähe enthoben mich der Verlegenheit, mein Lachen begründen zu müssen. Unsere Nachhut bestand aus 1 Offizier und 13 Soldaten. Vor uns in dem riesigen einsehbaren Tal ging mindestens eine US-Panzer-Armee in Stellung, und unser junger Anführer hatte den verordneten Glauben an den deutschen Endsieg so fest im Herzen verankert, dass er trotz aller gegenteiliger Erfahrungen davon ausging, wir würden die feindlichen Armeen aus Italien wieder vertreiben. Im August 1944, als ich in Warschau meine Fahnenflucht vorbereitete und nach jemandem suchte, der mitginge, blieb ich am Ende allein. Zwar glaubte nun keiner mehr an den Endsieg, doch fand sich auch keiner, der daraus Schlussfolgerungen zog.
Im Frühjahr 1945, als in unsere russischen Lagerbaracken neue Gefangene die Nachricht von der Ardennen-Offensive der Wehrmacht mitbrachten, breitete sich der verlorengegangene Endsiegglaube unter den Gefangenen aus wie eine Seuche, einer steckte den anderen an. Nachts, während die einen vor Kälte und Hunger krepierten, summten die andern Soldatenlieder und waren wieder voll von ihrem Führer überzeugt. Ich verhielt mich still. Längst hatte ich die Macht des Kollektivs und die Ohnmacht des Einzelgängers begriffen.
Kurz vor Stalins Tod, es mag Ende 1952 oder Anfang 1953 gewesen sein, kam aus Moskau die Kunde, jüdische Ärzte seien wegen Verschwörung verhaftet worden. Ich glaubte davon kein Wort. Dann starb Stalin, und bald darauf wurde bekannt, die jüdischen Ärzte seien freigelassen worden. In einer Parteiversammlung fragte ich, ob wir nun unsere Resolution zurücknehmen müssten, mit der wir vordem die Moskauer Verhaftungen begrüßt hatten. Ich weiß nicht mehr, wie die Versammlung reagierte, aber danach schob sich ein jüdischer Kommilitone an mich heran und flüsterte: »Halt lieber die Klappe!« Seine Vorsicht hatte gute Gründe. Erst heute erfahre ich, er war Geheimagent und wollte mich wohl nicht verpetzen.
Nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 und Chruschtschows Entstalinisierungsrede herrschte bei uns Schweigen. Im Sommer brach der allgemeine Unwille durch. Nach der ungarischen Oktoberrevolution und ihrer Niederlage durch sowjetische Panzer kehrte das Schweigen zurück. Wir waren nur wenige, die eine Selbstkritik verweigerten. Die Partei erledigte uns, einen nach dem andern. Denn wenn du allein bist, hast du immer unrecht, Mensch.
Erich Kuby im Stern über Gerhard Zwerenz
Ein Querkopf ohne Heimat
Er kam aus der DDR und wurde einer der schärfsten Kritiker der Bundesrepublik. In seiner Autobiographie hat der Schriftsteller Gerhard Zwerenz beschrieben, warum er trotz Ulbricht und SED Kommunist blieb.
Als ich 1957 in den Westen kam, galten hier die Widerständler des 20. Juli 1944 noch allgemein als Vaterlandshochverräter. Als ich 1963 am 10. Mai zum dreißigsten Jahrestag der Bücherverbrennung sprach, galt ich als Kommunist.
Als ich mit den remigrierten jüdischen Linksintellektuellen befreundet war, galten sie unter den Literaten als Unpersonen, und die Bundesrepublik wollte nichts von ihnen wissen.
Als ich 1966 im ehemaligen KZ Papenburg an den von den Nazis hier eingesperrten Carl von Ossietzky erinnerte, standen wir unter polizeilicher Kontrolle.
Noch 1988, als ich Gerechtigkeit für Deserteure aus Hitlers Wehrmacht forderte, waren Staat und Volk taub. Denn ein guter Deutscher desertiert nicht.
Heute lese ich kluge Bücher, die über den Warschauer Aufstand berichten und vom Widerstand des 20. Juli 1944 und von den Reformversuchen in der DDR 1956. Zum Jahrestag der Bücherverbrennung setzt es staatliche Weihen. Nahe Papenburg gibt es eine Carl-von-Ossietzky-Universität. Meine inzwischen verstorbenen linksintellektuellen Schriftstellerfreunde werden zwar noch immer nicht gelesen, aber anerkannt und gerühmt. Für die allerletzten sieben lebenden Deserteure schaffte das höchste Sozialgericht gar eine Gesetzesauslegung der Anerkennung. Die Bürgerrechtler der weiland DDR, noch im Blauhemd marschierend, als ich sie vom Westen aus in Radio und Presse über Stalin aufzuklären suchte, klären mich, rudelweise im Fernsehen auftretend, über Stalin und die Stasi auf.
Ein Bundeswehrgeneral, der es schon in der Wehrmacht, von der ich mich abtrennte, zum Major gebracht hatte, zog mich vor Gericht, wo er beschwor, er habe in Krieg und Nachkrieg nur seine Pflicht getan, wie es erwartet wird vom Staatsbürger. Ich sage: Jeder Soldat ist ein potentieller Jesus Christus. Nur ich schaffe das nicht. Und so werde ich wohl weiter das schwarze Schaf bleiben in unserer unentwegt guten deutschen Familie.
Im Jahre 1976 entdeckte ich, dass die zuständige »Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht« mich in ihren Listen als »seit 22.8.1944 vermisst gemeldet« führte.
Als ordentlicher, pflichtbewusster Staatsbürger dementierte ich meine 32jährige Abwesenheit, indem ich der »Dienststelle« glaubwürdig nachwies, noch zu existieren. Ich schrieb: »Inzwischen vermisst mich kaum noch jemand. Im Gegenteil, ich stehe häufig welchen im Wege.«
Es geschah nicht das erste Mal, dass ich mich gegen eine staatliche Abmeldung wehren musste. 1950 erhielt ich in der DDR nach Entlassung aus dem Tbc-Sanatorium einen Schwerbeschädigten-Ausweis und den Rat, Antrag auf Frührente einzureichen. Ich zählte gerade 25 Jahre und dachte, das hat mindestens vierzig Jahre Zeit.
Gedacht, getan. Wenn es mir später dreckig ging, sagte ich mir, für einen potentiellen Frühinvaliden geht es dir immer noch prächtig. So schaukelte ich mich durch die Jahre. Heute zurückblickend meine ich: Wer hätte wohl meine Bücher geschrieben, wenn nicht ich selbst ...
Die vornehmste Erfahrung meiner Jugendzeit war: Eine Welt von Mördern erstreckt sich ringsum. Also gilt es sich zu verteidigen. Rundum. Manche suchen dich direkt zu töten, andere wollen dich langsam ersticken, auslöschen sollst du Stück um Stück. Später nannte ich es Wahn, was gar keiner war, aber doch wurde – Paranoia. Das Jahrhundert stattet jeden mit seinem ganz persönlichen Wahnsinn aus. Es ist seine stärkste, vornehmste Kulturleistung.
Ab 1953 wurde ich gedruckt, und das begann in der Weltbühne. In den folgenden Jahrzehnten, während derer ich schrieb, wollte ich nie etwas anderes sein als ein Weltbühnen-Autor: Mal schwer, mal leicht, heute sachlich und morgen lyrisch, jetzt erzählend und anschließend essayistisch oder journalistisch und polemisch schreibend, alterte ich dahin. Da ich keine Weltbühne fand, zigeunerte ich durch Dutzende von Redaktionen und Verlagen, Immer freibleibend, meist die gezogenen Grenzen des üblichen Anstands überschreitend. So entstanden an die 100 Bücher und über tausend Artikel, Radiobeiträge, Fernseharbeiten, Gedichte, Satiren. Zu den weitverstreuten Einzelveröffentlichungen gesellen sich ganze Konvolute unveröffentlichter Manuskripte. Nehme ich alles zusammen, formte sich so meine subjektivmobile Geschichte und Kulturgeschichte Deutschlands von der Weimarer Republik, dem Ort meiner Kindheit, bis zur fragwürdigen Einheit 1990. Mein Bedürfnis, damit aufzuhören, datiert vom Zeitpunkt der Einheit. Noch immer verstehe ich mich als Sozialist, auch wenn ich's meist dementiere, der unklaren Position wegen, in die wir gerieten. Die heutige Welt ohne jene linke Alternative, die im vergangenen Jahrhundert sich artikulierte, kommt mir schon eigenartig verbraucht und lustlos vor, obwohl ich mich mit meiner Lebenspraxis der individuellen Revolte bestätigt sehe. Also gestattete ich mir, mich zurücklehnend, eine Pause.
Im übrigen gebe ich meiner Art von Schriftstellerei, wie die alte Weltbühne sie uns unerreicht vormachte, keine Chance mehr. Eigene Meinungen sich zu erarbeiten und engagiert zu vertreten ist so plural und scharf angreifend nicht mehr möglich. Wer es dennoch versucht, wird scheitern. Ich verspüre, wie meine Äußerungsmöglichkeiten sich in den letzten Jahren mehr und mehr verringerten, es sei denn, ich hätte mich angepasst. Ich bin nicht nur ein aufgehörter freier Schriftsteller, die Gattung selbst hört auf. Diese Welt gehört fortan den durchgestylten ganz und gar Aerodynamischen, bei denen noch nicht einmal der Wind pfeift, wenn er sie trifft.
Von Jahr zu Jahr freue ich mich mehr, mein langes Leben in jenen Kämpfen hinter mich gebracht und überstanden zu haben, in denen das Versagen noch immer anständiger gewesen sein mag als die unaufhaltsamen Karrieren unserer auf- und dahinbrausenden Zeitgeisterbahnfahrer .
Natürlich kam ich mit meinem Rückzug ins Rentenalter im Jahr 1990 wieder zu früh. Ohne dass ich es wollte, wurde ich erneut in die Konflikte verwickelt. Einige Male ließ ich es bei unwillig-lauten Zwischenrufen bewenden, dann musste ich doch ganz und gar, wenn auch gegen alle Pläne, in die Arena zurück.
So sind Entscheidungen zu revidieren. Mag ja sein, dass AIterserfahrung heute nicht mehr gefragt ist. Ich richtete mich nie nach dem, was gefragt war oder nicht. Und widerrufe einfach meinen Rückzug. Es war ein Sammeln zum Vorwärtsgang.
Das Schöne am Alter ist, du musst und willst nichts mehr erreichen. Karriere, Image, diplomatische Rücksichten kümmern nicht. Das Schweigen breitet sich aus. Und alle Jahre einmal Gesang mit unverstellter Stimme.
Dieser Fall trat am 7. Juli 2007 ein. Ein aufmerksamer Freund verwies per Mail auf einen Welt-Artikel über die Flakhelfer-Generation: »Was wird wohl noch herauskommen über die NS-Nähe von Tankred Dorst, Dieter Wellershoff, Gerhard Zwerenz oder von Ludwig Harig. Wenn sie nicht vor der Nachwelt so blamiert dastehen wollen wie Eich und Andersch, sollen sie jetzt reden.« Mit der Antwort, nicht über jedes Stöckchen zu springen, das man mir hinhalte, signalisierte ich mein Desinteresse und erregte Verwunderung. Da wandte ich mich brieflich an die Literarische Welt und erfuhr, der Autor des Artikels, Dr. Tilman Krause, hatte nur mal so auf den Busch geklopft. Ich machte aus meiner sonnigen Vergangenheit nie ein Geheimnis. Wer heute aufgefordert wird, sich über seine NS-Nähe zu äußern, mag sagen, da war nichts – oder: Davon berichtete ich, als andere schwiegen. Möglich wäre auch die Antwort: Da könnte ich eine ganz tolle Geschichte erzählen, was ich jedoch als Reaktion auf eine Zumutung verweigere. Wird man bald ausforschen, wer als Baby ein Hakenkreuzfähnchen aus dem Kinderwagen schwenkte?
Im schönen Vorschulalter wurde ich von meinem Vater oft in die Kantine der unweit gelegenen Schrebergärten mitgenommen, wo die Arbeitslosen einander zum Skatspiel trafen. Von den politisierenden Männern ein Stück abgetrennt hockten zwei junge Typen, über die es anzüglich hieß, sie seien Trotzkisten. Was in einer Mischung von lauernder Distanz und Verwunderung behauptet wurde, meist leise. Mir gefielen die beiden. 1936, im Jahr der Berliner Olympischen Spiele, kam meine Tante Hilde aus New York zu uns in die Ziegelei auf Besuch. Ihre neugierige Frage, was ich denn einmal werden wolle, beantwortete ich kurz und freudig mit dem Ausruf: »Trotzkist!« Meine besorgte Mama klärte mich darüber auf, Trotzkist sei kein Beruf, überdies gefährlich und verboten, denn wir lebten bereits im dritten Jahr des Dritten Reiches. So erfuhr ich ganz nebenbei von der ausschweifenden Existenz der Unworte und Unpersonen. 1940 las ich in der Zeitung:Trotzki in Mexiko ermordet. Ich zählte jetzt fünfzehn Jahre, stellte mir die beiden Trotzkisten meiner frühen Kindheit als Tote vor und betrauerte sie.
Im August 1944, auf meinem langen Marsch von der deutschen Wehrmacht durch die Fronten in Ostpolen und Weißrussland, war mir, als müsste ich den in Mexiko Erschlagenen in Moskau lebend auffinden und besuchen, sei es auch nur, um ihm zu berichten, dass ich ihm vor Jahren in Gestalt zweier junger sächsischer Arbeitsloser begegnet war.
Wie es mir gelang, als Trotzkist 3 Jahre Hitlerjugend, 2 Jahre Wehrmacht, 4 Jahre sowjetische Kriegsgefangenschaft und 8 Jahre DDR sowie SED-Mitgliedschaft bis zum Parteiausschluss zu überleben, beschrieb ich u.a. in Kopf und Bauch (1971), Der Widerspruch (1974), Soldaten sind Mörder (1988), Vergiss die Träume deiner Jugend nicht (1989), Krieg im Glashaus oder Der Bundestag als Windmühle (2000), Sklavensprache und Revolte (2004) sowie in ungezählten Artikeln, Vorträgen, Radiosendungen, tv-Interviews. Als Soldat suchte ich mir mit Nietzsche und Ernst Jünger zu helfen, bis ich bei Trotzki den Hinweis fand, Stalin und er seien zwar Todfeinde, greife Hitler aber die Sowjetunion an, müsste sie verteidigt werden. Das leuchtete mir ein. Mit Hitler gegen Stalin galt und gilt als angemessen deutsch. Mit Stalin gegen Hitler war meine Notlösung. Wo ist nun die NS-Nähe? Mit 19 Jahren und der Erfahrung des Warschauer Aufstandes, dessen Niederschlagung befohlen war, entfernte ich mich endgültig von Wehrmacht und Drittem Reich.
Kurz vor dem Ende der DDR, am 13.5.1989 spendete die Welt Rolf Hochhuth und mir je eine halbe Zeitungsseite zum »Streitgespräch über Deutschlands Einheit«. Hochhuth begeisterte sich, ich warnte vor einer Einheit als Anschluss und titelte: »Romantische Gruftis gibt's hüben und drüben.«. Heute erfreuen mich Linkspolitiker wie Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, der im Springer-Verlag keine gute Presse mehr hat, die er genoss, als er für Bild kommentierte. So ändern sich Wertungen. Weiter im Text. In der Namensliste des Tilman-Krause-Artikels vom 7.7.07 wird u.a. Dieter Wellershoff aufgeführt. Tatsächlich gehörten wir beide zur Luftwaffen-Panzerdivision Hermann Göring. Nur war ich schon längst von der Fahne gegangen, als Wellershoff gehorsam zum Endkampf ausrückte. Sein ehrlicher, bravouröser Tatsachen-Bericht von 1995 Der Ernstfall – Innenansichten des Krieges zeigt im kühlen Bennschen Realismus das bürgerliche Verhängnis, wie es vor kurzem auch in einer tv-Dokumentation Gestalt annahm, wo der junge Hans-Dietrich Genscher als tapferer Soldat der Armee Wenk, auf die Hitler bis zuletzt setzte, sichtbar wurde. NS-Nähe – Kriegs-Nähe? Soll hier wer beichten?
Warum kämpfen die einen bis zur letzten Minute im Krieg für den Krieg und die anderen schon lange vorher dagegen? Diese Frage ist eine offene Wunde.
23. 7. 2007
Sehr geehrter Herr Zwerenz,
besten Dank für Ihre Zusendung. Ich habe den Text gern gelesen, fand ihn witzig und interessant. Leider teilen meine Vorgesetzten diese Meinung nur bedingt. Das Hauptmonitum ist: Sie gingen zu wenig auf die eigentliche Fragestellung ein. Vielleicht finden wir demnächst einmal in einer anderen Angelegenheit zusammen. Für heute grüßt Sie vielmals
Ihr Tilman Krause
23. 7. 2007
Sehr geehrter Herr Dr. Krause,
selten so gelacht. Sie sollten aber vorsichtiger sein bei solchen Vorgesetzten, die von einem freien Schriftsteller offensichtlich erwarten, dass er unfrei antwortet oder gar döpfnert. Ich wünsche Ihnen, dass Ihr Stuhl nicht wackelt.
Gute Grüße – Ihr GZ
Am Montag, den 2. Juni 2008, erscheint das nächste Kapitel.