Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Der hingerichtete holländische Anarcho-Kommunist Marinus van der Lubbe wurde am 15.1.1934 auf dem Leipziger Südfriedhof beerdigt. Das anonyme Grab maß mit 2,50 m das Doppelte der üblichen Tiefe, über dem Sarg wurden später acht Urnen deponiert. Ein unwürdiges Verfahren und strittig wie die gesamte Story des Geköpften, um den es geht. Hatte der Mann nun 1933 allein den Reichstag angezündet, waren es die Nazis oder die Kommunisten, gute und schlechte Gründe finden sich genug. Der Angeklagte fiel seiner gekrümmten Haltung wegen auf. In den Protokollen ist mehrmals vermerkt, er solle den Kopf heben. Das gesenkte Haupt führte zu Spekulationen, Drogengaben werden vermutet, die klare Aussagen des Beschuldigten verhindern sollten.
Laut Grabgesetz vom 13.1.1999 haben die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft Anrecht auf ein ewiges Grab mit Gedenkzeichen. Ob van der Lubbe inzwischen so gewürdigt wird, weiß ich nicht. Bin ich schon mal, selten genug, in Leipzig, kommt mir der fällige Friedhofsbesuch erst nach der Abreise in den Sinn.
Auf den Kampf der Partisanen reagierten deutsche Generäle im 2. Weltkrieg anfangs überrascht, dann taktisch-militärisch, bald nur noch mit strategischer Liquidation. Dabei hatte im Jahr 9 schon Arminius, genannt Hermann der Cherusker, die Römischen Legionen per Partisanentaktik im Teutoburger Wald geschlagen und scharenweise ermorden lassen. Der Einhegung des Krieges durch das Kriegsrecht stand stets dessen gesetzlose Aufkündigung gegenüber. Wobei das Militär sich nie scheute, das Kriegsrecht selbst zu brechen, was in der Natur des Krieges liegt, der auf Übermut, aggressiver Feigheit, Rachsucht und Angst vor Vergeltung beruht. Als die Briten 1942 bei ihren Vorstößen auf Dieppe und die Kanalinsel Sark gefangene deutsche Soldaten so fesselten, dass sie sich bei Bewegung strangulierten, drohte Hitler das gleiche Verfahren bei britischen Gefangenen an. Nach dem 2. Weltkrieg wurde Gefangenenfesselung zur Normalität. Es wird gefesselt, gefoltert, gemordet. Ein Kriegsrecht, das dies alles untersagt, schrumpft zur bloßen Theorie, auf die sich nur machtlose Menschenrechtler berufen.
Während meiner Leipziger Zeit besorgte ich mir ein Vernehmungs-Protokoll zum Reichstagsbrandprozess und stellte fest, Dimitroff und van der Lubbe beschwerten sich immer wieder über ihre Fesselung. Das Wort Fesselung bagatellisiert, permanente Folter trifft die Realität. Was auch die schlaffe, gebeugte Haltung van der Lubbes erklärt, seinen schleppenden Gang, den auf die Brust geneigten Kopf, das alles sind Fesselungsfolgen, deretwegen sich auch der physisch stabilere Dimitroff bei jeder Vernehmung beschwerte. Ein Erfolg dieser reichsgerichtlichen Barbarei blieb aus. Van der Lubbe wollte sowieso den Reichstag allein in Brand gesetzt haben, Dimitroff konnte für sich beweisen, er war es nicht.
Inzwischen entwickelten die USA ihre Fesselungsfolter bis zu den Spitzenleistungen von Guantanamo und Abu Graib, wo sie soviel erlogene Geständnisse aus den Gefangenen herauspressten, wie sie zur Legitimation ihrer imperialen Krieg zu benötigen meinen.
Reichsgerichtsrat Vogt im Prozess zu Dimitroffs Folterbeschwerde: „Ich sagte Ihnen immer wieder, dass ich auf Grund der Bestimmung … diese Fesselung nicht aufheben kann …“
Fesseln und foltern wird von oben angeordnet und von unten solange nicht aufgehoben, wie die Folterübung als Kulturleistung gilt.
Am Morgen des 8.10.07 verhieß eine FAZ-Überschrift: „Diese Regierung foltert nicht.“ Gemeint war das Kabinett des US-Präsidenten Bush. Am Abend um 20 Uhr 40 sehe ich in Arte zweieinhalb Stunden lang Taxi zur Hölle, eine tv-Dokumentation, die voller Beweise steckt, dass die Regierung Bush nicht foltert, aber lügen, foltern und morden lässt. Ich rekapituliere: Hitler ließ überfallen und vernichten, Stalin ließ verprügeln und erschießen und betete insgeheim in einer Kreml-Kapelle zu Gott, wie wir von seinem Kammerdiener wissen. George W. Bush ließ die durch deutsche Nazis ausgeklügelten Foltermethoden weiter ausklügeln, betet öffentlich zu seinem Gott und hält sich neben geheimen Gefängnissen ausgesuchte Privatgefangene, aus denen per streng wissenschaftlicher Methode jene Lügen herausgefoltert werden, mit deren Hilfe sich dann Angriffskriege führen lassen. Im Übrigen bricht man wie im Mittelalter Gefangenen die Knochen, hängt sie ans Gitter oder kopfunter an die Decke, malträtiert ihre Beine, dass sie amputiert werden müssen, falls das Opfer überlebt, taucht sie unter Wasser, lässt sie frieren, schwitzen, von Hunden bedrängen und von Frauen zur Masturbation bringen. Frage: Darf der Präsident anordnen, dass dem Sohn eines Gefangenen die Hoden zerquetscht werden, um den Vater zum Reden zu zwingen? Antwort: Er darf. Wörtlich so in der Arte-Dokumentation. Realität pur wie Scheiße im Enddarm. Was also ist der Fortschritt 2007?
Es ist der Rückschritt in die dunkelste Barbarei der Unmenschen-Geschichte. Der Arte-Bericht ist ein einsamer Lichtstrahl, der den Blick in die christliche US-Hölle gestattet. Sonst herrschen die Illuminationen der üblichen Medienkulis.
Ivan der Schreckliche, dieser Handwerker des Todes, soll eigenhändig an die 4.000 Menschen erwürgt haben. Welch ein Stümper. Stalin ordnete rigoros an: „Prügeln, prügeln, prügeln!“ Welch eine veraltete georgische Tradition. Amerika, du hast es besser, wusste schon Goethe. Spät am Abend, schon zu Mitternacht, Ex-Außenminister Fischer bei Beckmann mit einer triefenden Liebeserklärung an die US-Ex-Außenministerin Albright, die gerade in den Nachrichten erklärt hatte, ein Krieg gegen den Iran sei in Kürze möglich. So die intellektuelle christliche Prominenz mit nichts als herzlichen Kriegsgedanken im Kopf.
Wen stört's? Ein paar Gutmenschen. Auf der letzten Tagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft in Berlin soll eine staatsbeamtete Volljuristin erklärt haben, man lebe im Frieden und zu beklagen sei höchstens die Existenz von Tucholskys justizkritischen Schriften. So die Meinung einer selbstgewissen pensionsberechtigten Spezialistin.
Warum wurde, so frage ich mich beeindruckt, anno 1933 nicht der Reichstagsbrand als Menetekel verstanden, als Zeichen zur Rebellion und zum Aufstand gegen die Hitlerbande? Die Kommunisten verhaftet und zerschlagen, die Sozialdemokraten ängstlich, ratlos, in Illusionen befangen. Das Bürgertum korrumpiert, unterwerfungsbreit, rüstungsgeil, revanchesüchtig, äffischen Rassismen zugeneigt - ohne die widerständigen Organisationen der Linken war der rechte deutsche Weg in den Krieg frei. Sollten die Kommunisten den Brand im Reichstag gelegt haben, erwies es sich als Fehler. Das Volk kuschte. Waren es die Nazis selber, hatten sie richtig spekuliert und konnten nun ihre Diktatur ungehindert festigen. War aber van der Lubbe tatsächlich ein Einzeltäter, stieß sein Signal ins Leere. War er etwa ein irrer Feuerteufel oder ein, biblisch gesprochen, brennender Dornbusch? Jedenfalls ein zum gebeugten Gang Verurteilter, krummgeschlossen für den kargen Lebensrest. An ihm wurde äußerlich sichtbar, was das ängstliche, gehorsame Volk mit den Fesseln im Kopf innerlich verkrümmte.
In früheren Armeen gab es die Strafe des Anbindens. Meist fesselte man den Soldaten über Nacht an das Rad der Kanone. Revolutionäre Heere schafften solche Peinigungen als erstes ab. Der in Flammen stehende Reichstag von 1933, der nicht als Aufstandsfanal wirkte, nahm die zerbombten, brennenden Städte von 1943 – 45 vorweg. Zum Ende hin mussten Befreiungs-Armeen von außerhalb kommen.
Hermann Göring im Leipziger Reichstagsbrandprozess zum Kommunisten Dimitroff: „Wenn dort einer tot liegt, habe ich ihn erschossen, das ist meine Verantwortung (…) es wird scharf geschossen und zwar nicht in die Luft (…) Meine feste Absicht war, diese Partei in der Führung zu vernichten …“
Zurück zur tv-Sendung Taxi zur Hölle, wovon wir uns gar nicht entfernten. Diese amerikanisch-deutsch-britische Produktion von Alex Gibney, auf dem Filmfestival in Tribeca als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet, entwirrt anhand eines Einzelfalles den amerikanischen Kampf gegen den Terror als Staatsterror. Bei Arte gab es am 8.10.07 die deutsche Erstaufführung. Man darf gespannt sein, ob andere Sender folgen. Zweifel sind angebracht.
Scholl-Latour wird auch nur noch selten ins Fernsehen gelassen. Zuviel Sachkenntnis, der weitgereiste Typ, und so kritisch ohne Obrigkeitssalbe. Stattdessen am 8. 10. wieder eine FAZ-Seite voller Weisheiten des Ernst Jünger. Sollen doch, die den Krieger so ewig hochloben, bald wie ihr ewiges Idol ein Dutzend Mal gelöchert sein. Ich werde ihnen gern mein Verwundetenabzeichen spenden.
Unsere tüchtigen Bundesdemokraten von heute werden den Prozess gegen van der Lubbe wohl bald aus Gerechtigkeitsgründen in Leipzig wiederholen. Zwar hatte er als erster antifaschistischer Partisan und Terrorist die Todesstrafe verdient, doch handelte es sich erstens um Sachbeschädigung und wurde zweitens bei uns die Todesstrafe inzwischen abgeschafft. Deshalb akzeptieren wir die staatliche Enthauptung des Holländers ebensowenig wie die private Erschießung Hanns-Martin Schleyers durch die RAF. Der aufrechte SS-Offizier kommt in Berlin aufs neue Ehrenmal, der Feuerteufel wird begnadigt zu lebenslänglich. Jedem das Seine. Schließlich hat Schleyer Deutschland nur in Prag verteidigt, van der Lubbe aber unser Parlament angesteckt. Strafe muss sein.
Erinnerungsbestärkt spreche ich stets vom Leipziger Dimitroffplatz, obwohl ihn SPD und CDU gegen die Stimmen von Grünen und PDS in Eduard-von-Simson-Platz umbenannten. Was auch immer im einzelnen zu diesem Ersatz-Patron zu sagen ist – er begann als 1848er Liberaler und endete als Bismarckscher Trossknecht –, das Hauptziel ist erreicht, der Platz heißt nicht mehr nach dem bulgarischen Kommunisten, der vor Göring, Goebbels und ihrem Führer nicht kuschte. Für nationalbewusste Deutsche gibt es nur ein Verbrechen – den antifaschistischen Widerstand. Noch eine geschichts-revisionistische Stufe weiter zurück und die SPD wird, nachdem sie den Parteigänger des Sozialistenfressers Bismarck schluckte, auch einen Hermann-Göring-Platz akzeptieren. Es wird dann heißen, Göring habe den Kommunisten Dimitroff und van der Lubbe heldenhaften Widerstand geleistet.
Thomas Mann schrieb bereits anno 1933 in einem Brief über den Leipziger Prozess: „Welch ein Morast, welch ein Menetekel.“ Wer dieses Menetekel durch Namenswechsel vergessen macht, verfälscht Geschichte. Das Reichsgericht nenne ich Marinus-Haus, den Häuserblock zwischen Pleiße und Peterssteinweg das Bloch-Quadrat, auch wenn historische Blindgänger noch hundert Jahre brauchen, dieser Einordnung zuzustimmen. Meine Gänge in Leipzig um Dimitroffplatz, Reichsgericht und Bloch-Quadrat wurden mir zur ständigen Begegnung mit unserer Vergangenheit, der wir per Erziehungsdiktatur zu entrinnen suchten. Sie betraf weniger das Volk als seine Intelligentsia. So mein ganz individueller Zustand anno 1953 und 1956, als sich mit Stalins Tod und Chruschtschows zorniger Rede ein kultureller Ausweg anbot. Leider wachsen immer mehr Dumme nach als von denen, die schon in Amtsstuben hocken, klug werden.
Der fatale Leipziger Rückzug vom 1933er Menetekel, die konsequente Vergessens-Strategie und damit verbundene Diffamierung von Rebellen und Widerständlern wurde vom Westen lange vorher betrieben und eskaliert eben in einem eklatanten Fall. So erhielt den diesjährigen Büchner-Preis ein Schriftsteller, der sich ohne die geringste Verrenkung gegen die Große Französische Revolution armiert und den Revolutionär Georg Büchner über den Jakobiner Saint Just mit Himmlers Massenmord-Reden koppelt. Da muss selbst eine FAZ, die den mit Fug und Recht als Anti-Büchnerpreisträger einzuordnenden Mosebach zuvor rückhaltlos hofierte, am Tag danach (1.11.07) zähneknirschend melden, sogar der brave Sozialdemokrat und Historiker Heinrich August Winkler nenne diesen Vorgang schlichtweg reaktionär. Kein Wunder, wenn die Wachhunde des Geschichtsrevisionismus an ihren Ketten zerren, dass es bundesweit rasselt. Darmstadt sollte eine Straße nach Martin Mosebach benennen, am besten eine kleine Sackgasse, denn kurz ist der Weg von der Bücher- zur Büchnerverbrennung.
Im Jahr 1975 erschien im Frankfurter S. Fischer Verlag mein „Lyrischer Monolog für Bühne und Funk: Die Rede des Georg Büchner vor der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung anlässlich seiner Ablehnung als Büchner-Preisträger.“
Das Stück wurde häufig im Radio gesendet und auf verschiedenen Bühnen gespielt. Dass es eine allegorische Prophetie war, geht mir erst heute auf.
Am Montag, den 12. November, erscheint das nächste Kapitel.